Er hieß Karl und kam aus einem nicht mehr existierenden Staat, sprach fließend, akzentfreies Deutsch.
Seine Probleme hatte er mir erzählt, aber ich habe sie vergessen. Vielleicht hat er sie nur angedeutet.
Zweimal besuchte er mich in meiner kleinen, Einzimmerwohnung. Ich fragte ihn, ob er vorwärts oder rückwärts einzuparken pflegte. Manche sehen das Schild nicht, oder ignorieren es, da kriegt man, wenn man, so wie ich, parterre wohnt, die ganzen Abgase ins Schlafzimmer, oder in die Küche. Er lächelte nur.
Er war Physiker, hatte irgendwas mit Nano zu tun.
"Mein Zimmer steht immer offen", sagte er.
Einmal besuchte ich ihn, er lud mich zum Essen in die Mensa ein. Drei verschiedene Desserts hatte er auf seinem Tablett, die er andächtig probierte. Eins konnte ich erkennen, aber ich mache mir nichts aus Birnen.
Nun, was ich erzählen wollte: Einmal gingen wir zusammen zu einem Konzert, einer Aufführung von Carmina Burana, von Carl Orff.
Es war voll, als wir den großen Saal des barocken Schlosses betraten. Damals habe ich zum ersten Mal einen egoistischen Zug im Karls Charakter entdeckt. In der Mitte einer Reihe war ein Sitz frei: Ohne sich umzudrehen stürzte er dorthin, nahm Platz und blickte nicht einmal in meine Richtung.
Trotzdem fand auch ich noch einen Platz in der letzten Reihe. Von dort aus konnte ich Ursula R. , die im Chor mitsang, erkennen. Sie ist eigentlich Fotografin und spricht sehr leise. Ich fragte mich, ob sie dort auf der Bühne auch so leise sang. Vielleicht bewegte sie nur ihre Lippen.
Nach dem Konzert gingen wir "zum goldenen Reiter". Dort gibt es gutes Kölsch, aber ich trinke nur Apfelwein. Das Bier wird in langen, dünnen Gläsern gereicht. Agrippina hätten sie gefallen.
Monate lang sahen wir uns nicht mehr. Ich wollte ihn besuchen, die Sekretärin, nach einigem Zögern, sagte mir durch die Blume, er sei in einer psychiatrischen Klinik.
Eines Tages erfuhr ich, er habe sich umgebracht.
Einige Tage später erhielt ich einen Brief, einen großen Umschlag, ohne Absender. Darin war eine CD von Carmina Burana.
Das ist Jahre her.
Neulich legte ich, zum ersten Mal, diese CD auf. Es war nur ein Lied drauf, an Fortuna, an das Schicksal gerichtet.
Ich habe den Text dazu gelesen, welcher nur durch die Kraft der Musik zur Geltung kommt:
O Fortuna, velut luna
statu variabilis,
semper crescis aut decrescis;
vita detestabilis...
Jetzt verstand ich, woher Karl die Kraft genommen hatte, auf einen rasenden Zug zu warten ...
Fortuna
Das ist wieder einmal so etwas wie ein Murakami-Text, in dem die eigentliche Geschichte irgendwo in einer zweiten Schicht unter den Worten mit all den unverbunden scheinenden Einzelheiten und Abschweifungen verborgen ist.
Mir gefällt das ja, aber dann finde ich, daß der Text konsequenterweise offen bleiben muß. Daher würde ich den letzten Satz fortlassen, der ist deine eigene Interpretation des Geschilderten und stülpt sich gewissermaßen über den Leser. Oder ich würde ihn anders formulieren, so zum Beispiel:
Er hatte auf den rasenden Zug gewartet.
LG Eva
Mir gefällt das ja, aber dann finde ich, daß der Text konsequenterweise offen bleiben muß. Daher würde ich den letzten Satz fortlassen, der ist deine eigene Interpretation des Geschilderten und stülpt sich gewissermaßen über den Leser. Oder ich würde ihn anders formulieren, so zum Beispiel:
Er hatte auf den rasenden Zug gewartet.
LG Eva
ich schließe mich der meinung von gabi und eva an, lieber carlos, sowohl was den letzten satz anbelangt, als auch darin, dass das ein guter text ist, der mich auch sehr angesprochen hat.
ich mag dieses erzählhaltung, dieses mehr sagen als eigentlich da steht, dieses mäandern zwischen den einzelheiten, die sich schließlich zu einem ganzen finden.
scarlett
ich mag dieses erzählhaltung, dieses mehr sagen als eigentlich da steht, dieses mäandern zwischen den einzelheiten, die sich schließlich zu einem ganzen finden.
scarlett
auch mich spricht dieser text sehr an, vor allem, weil ich selbst die carmina burana schon mal mitgesungen habe und um die kraft und energie dieser musik weiß.
deshalb mag ich auch den schlusssatz genau so, wie er dort steht:
mir ruft er die kraft und intensität der musik in erinnerung.
sehr feinsinnig, feinfühlig erzählt, lieber carlos, auch oder vor allem zwischen den zeilen.
lg,
birke
deshalb mag ich auch den schlusssatz genau so, wie er dort steht:
mir ruft er die kraft und intensität der musik in erinnerung.
sehr feinsinnig, feinfühlig erzählt, lieber carlos, auch oder vor allem zwischen den zeilen.
lg,
birke
Hola Carlos,
Eva drückt für mich genau aus, warum dieser Satz am Schluss stehen muss:
Saluditos
Gabriella
Klimperer hat geschrieben:Eine Frage dazu: Wie fändet ihr, diese Sache mit dem Zug da anzubringen, wo von Selbstmord die Rede ist?
Eva drückt für mich genau aus, warum dieser Satz am Schluss stehen muss:
ecb hat geschrieben:an den Schluß gesetzt gewänne der vorgeschlagene Satz eine Ladung, die über die Erläuterung der Umstände des Freitodes hinausginge ...
Saluditos
Gabriella
Liebe Eva, liebe Gabriella, liebe Scarlett, liebe Birke: Ich habe mich entschieden, ich werde den Text, so wie es Birke vorschlägt, stehen lassen. So wie sie empfindet, genauso habe ich empfunden.
Die Vertonung von Carl Orff ist, weit über den Text hinaus, eine gewaltige Schicksalsanklage. Eine immense Kraft liegt in dieser Musik.
Auch Karl hätte diese Interpretation gefallen.
Müßig zu sagen, dass ich mich unglaulich über eure Rückmeldungen freue, das ist Nahrung für meine Seele, in der, Gott sei Dank, kaum Eitelkeit wohnt. Ich betrachte es wie ein Gespräch unter guten, gebildeten Freunden.
Carlos
Die Vertonung von Carl Orff ist, weit über den Text hinaus, eine gewaltige Schicksalsanklage. Eine immense Kraft liegt in dieser Musik.
Auch Karl hätte diese Interpretation gefallen.
Müßig zu sagen, dass ich mich unglaulich über eure Rückmeldungen freue, das ist Nahrung für meine Seele, in der, Gott sei Dank, kaum Eitelkeit wohnt. Ich betrachte es wie ein Gespräch unter guten, gebildeten Freunden.
Carlos
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