Mutprobe

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 14.10.2013, 10:29

Ich beschloss, die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen. Ich wollte mir selbst meinen Mut beweisen.
Ich ging etwa eine Stunde, bevor sie die Tore schlossen, hinein, durchquerte ihn und bestieg den Hügel, wo die Armen begraben wurden, direkt in der Erde und mit einem einfachen Holzkreuz. Ganz oben hatte man eine Art griechischen Tempel »en miniature« erbaut, ein paar Säulen, ein Dach, darunter eine Bank. Da setzte ich mich hin. Unter mir konnte ich die hässliche, Furcht einflößende Stadt sehen, links den breiten Fluss. Innerhalb von Minuten wurde es dunkel. Die Tore des Friedhofs mussten schon zu sein, ich konnte nicht mehr hinaus. Zwei, drei Stunden vergingen, es wurde langsam kalt, zum Glück hatte ich einen Pulli bei mir. Es war stockdunkel da oben. Plötzlich sah ich ein Licht auf dem Hang ... Ich beobachtete es lange, dachte an die Lichter, die auf Friedhöfen zu beobachten sind, ein physikalisches Phänomen, aber dieses Licht sah anders, beständiger aus, und doch beweglich ... Ich fasste mir ein Herz und ging langsam den Hügel hinunter, bis ich direkt vor dem Licht stand, es war eine Art Häuschen, das auf einer Eisenstange stand, darin war ein Totenkopf. Das Licht kam von einer Kerze ... Das Häuschen war ein Schrein, wahrscheinlich hat man hier am 2. November eine Messe für die Seelen der Armen gelesen. Auf einmal hatte ich die Idee, diesen Totenkopf zu klauen und zu versuchen, irgendwie den Friedhof zu verlassen. Die ganze Nacht dort zu verbringen, kam mir jetzt als zu lang und langweilig vor, und den Totenkopf als Trophäe mitzunehmen, wäre ein noch größerer Mutbeweis. Ich öffnete die kleine Glastür des Schreins, die nur angelehnt war, nahm den Schädel heraus und wickelte ihn in meinen Pulli.
Auf der rechten Seite endete das Gelände an einem Abgrund. Von dort aus konnte ich den weißen, beleuchteten Friedhof darunter sehen mit seinen geordneten, geraden Straßen, wie eine kleine Stadt. Ich dachte, wenn ich erst wieder da unten wäre, könnte ich über die Mauer des Friedhofs klettern. Ich wusste, dass es Wächter gab, und versuchte, sie zu entdecken. Einen konnte ich zwischen den hohen Betonwänden mit den Nischen langsam laufen sehen. Links von dem Friedhof war eine breite, stark frequentierte Straße, da konnte ich nicht riskieren, über die Gitter zu springen. Aber ich wusste, dass es auf der Rückseite eine Mauer gab und dahinter nur brachliegendes Land. Ich beschloss also, hinunter zu gehen und den Friedhof in Richtung der Mauer zu durchlaufen. Drei Wächter hatte ich mittlerweile gesehen, aber es gab da so viele Straßen, dass es fast unmöglich war, von ihnen erwischt zu werden.


Ich war schon unten, mit dem Schädel unter dem Arm, und lief schnell und leise in die Richtung, wo ich die Mauer vermutete. Als ich sie sah, setzte ich den in den Pulli eingewickelten Schädel auf ein Mäuerchen ab und ging weiter, um die Mauer zu inspizieren. Ich hatte kaum dreißig Schritte getan, als plötzlich hinter mir...
Zuletzt geändert von Klimperer am 14.10.2013, 16:25, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 14.10.2013, 13:01

Hola Carlos,

gespannt bin ich deiner Geschichte gefolgt. Welch herrlich verrückte Idee, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen zu wollen und dann auch noch diesen Totenschädel zu klauen! *grusel*
Aber wie gemein, dass du das Ende so offen lässt! Menno, ich will wissen, was passierte! :mrgreen:

Saluditos
Gabriella

ecb

Beitragvon ecb » 14.10.2013, 19:40

Hej, so kannst du uns aber nicht einfach hängen lassen, Carlos, das geht GAR nicht! :12:
Da muß entschieden noch was kommen ... :hellow0001:

Liebe Grüße
Eva

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 15.10.2013, 10:20

Ich fürchte nur, es könnte zu banal sein ...

Wie wäre es mit einem kleinen Experiment? Ich selbst habe wirklich zu wenig Fantasie. Das Geschilderte ist eine wahre Begebenheit, ich habe nichts dabei erfunden. Ich bilde mir ein, das Ende offen zu lassen regt die Fantasie des Lesers. Sind wir moderne Menschen nicht allzu verwöhnt? Ich selbst habe etliche sehr spannende Bücher bewusst bis kurz vor dem Schluss gelesen, bis heute weiß ich nicht, wie sie ausgingen. Ich habe es gemacht, in der Hoffnung, so würde ich meine eigene Fantasie anregen, es hat leider nichts gebracht.
Wie würdest du, Gabriella, die Geschichte enden lassen? Und du, Eva?
Ich verspreche euch, die fehlenden Zeilen nachträglich hinzufügen.

Wirklich vielen Dank für eure Anteilnahme!

Carlos

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.10.2013, 11:15

Hui, ein interessantes Experiment, Carlos!

Ich werde mir einen Schluss überlegen und bin gespannt, was andere sich hier ausdenken. :-)

Saluditos
Gabriella

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.10.2013, 14:07

... ein klackerndes Geräusch mich zusammenzucken ließ. Ich stand da wie festgewurzelt. Mein Herz raste, kalter Schweiß lief mir den Nacken herunter. Das seltsame Geräusch wurde immer lauter. Und auch rhythmischer. Es hörte sich wie ein penetrantes Klopfen an. Was war das bloß? Komm, stell dich nicht so an, scholt ich mich und schloss die Augen, um meine Sinne zu schärfen. Das Klopfen kam von der Mauer, eindeutig. Ich ging den Weg entlang der Mauer wieder zurück. Da stand er, der Schädel. Auf dem gleichen Platz, an dem ich ihn abgesetzt hatte. Er bewegte sich hin und her, fiel jedoch nicht um. Als ich vor ihm stand, ruckelte er einmal, wobei er seine Position veränderte und hielt still. Seine leeren Augen schauten nach oben. Was ging hier vor? Ich stellte mich neben ihn und sah nach oben. Matt erkannte ich das Licht des Schreins, aus dem ich den Totenkopf gestohlen hatte. Sollte ich ihn zurückbringen? Der Totenkopf sprang einmal auf und ab. Da hatte ich meine Antwort. Ich nahm den Schädel, packte ihn wieder unter meinen Pullover und stieg nach oben. Als ich endlich vor dem Schrein stand, stellte ich den Totenkopf behutsam an seinem Platz. Offensichtlich hatte ich ihn nicht richtig postiert. Er drehte sich leicht und rutschte etwas nach vorne. Dann gab er Ruhe. Das Licht der Kerze wurde heller. Augenblicklich verriegelte sich die Glastür des Schreins.

Mich plagten Gewissensbisse. Und inzwischen eine Eiseskälte. Jetzt war es mir egal, ich wollte nur noch weg von diesem Friedhof, ging geradewegs wieder runter zur Mauer, wo ich Wächter vermutete. Sollten sie mich doch finden. Ich wollte sogar, dass sie mich fanden. Doch kein Wächter weit und breit in Sicht. Na gut, dachte ich mir, dann klettere ich eben über die Mauer. Egal, an welcher Stelle ich es versuchte, die Mauer schien unüberwindlich und irgendwie wesentlich höher als vorhin. Schließlich gab ich es auf und ging wieder nach oben zum griechischen Tempel. Ich setzte mich auf die Bank. Ich armer Narr! Wie konnte ich nur auf diese völlig irrsinnige Idee kommen, eine Nacht auf dem Friedhof zu verbringen? Die Kälte setzte mir zu. Mir froren allmählich die Beine ein. Ich hatte nichts zum Zudecken, musste aber wohl oder übel an diesem Ort übernachten, hier, an dem Ort meiner Mutprobe. Hier, auf dem Friedhof, der mir zu langweilig erschien, als ich den Totenkopf entdeckte. Hier, an dem Ort, an dem ich wohl erfrieren würde.

Irgendwann musste ich dennoch eingeschlafen sein. Aufgeregtes Gerede und Lachen weckte mich. Es war hell, die Sonne schien. Friedhofsbesucher zeigten sichtlich amüsiert auf mich und riefen irgendetwas auf französisch, was ich nicht verstand. Ich fror nicht, im Gegenteil, mir war angenehm warm. Als ich mich aufsetzte, bemerkte ich, dass eine dicke, mit lauter Totenkopfschädeln bedruckte Decke mich umhüllte.

EMO

Beitragvon EMO » 16.10.2013, 19:02

Hej Klimperer, geht´s auch so:

...ein eiskalter Wind zu wehen anfing und mir um die Ohren blies. Er nahm an Stärke zu, aber nichts rührte sich um mich herum. Kein Baum rührte ein Blatt, geschweigen denn seine Äste. Mir wurde unheimlich zumute. Ich ging zurück und nahm den pulliverpackten Schädel wieder an mich. Plötzlich klingelte mein Handy – ich Idiot hatte vergessen es auszuschalten. Ich nahm es hervor und hörte eine heisere Stimme: "Du Affenarsch, lass mich sofort los!" Ich war einen Augenblick verwirrt, aber dann sah ich ein, dass die Stimme gar aus dem Handy kam, sondern aus meinem Pulli. Ich war so entsetzt, dass ich den Pulli mit dem eingewickelten Schädel einfach fallen ließ. Pulligedämpft schlug das Paket mit dem Schädel auf dem Weg neben der Mauer auf und hüpfte – als wenn es ein Ball wäre – zunächst einige Male auf und ab und dann hinweg, Richtung ehemalige Schädelruhestätte. Pulli mit Schädel verschwanden aus meiner Sicht und mit ihnen verschwand auch der eisige Wind. Rasch schaltete ich mein Handy aus. Wie von Geistern gehetzt kletterte ich über die Mauer und ließ mich einfach auf der anderen Seite hinab fallen. Wie ich dann nach Hause gekommen bin ist mir heute noch ein Rätsel, aber schnell ging es.
Zuletzt geändert von EMO am 17.10.2013, 15:42, insgesamt 1-mal geändert.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 17.10.2013, 10:06

Ich glaube, es ist angebracht, dass ich mich zwischendurch melde ...

Ich hatte geschrieben, dass wir moderne Leser verwöhnt sind.

Vor der Erfindung Gutenbergs waren Bücher eine Rarität. Es war nicht ungewöhnlich, dass man sich ein Buch auslieh um es mit eigener Hand abzuschreiben.

Heute ist das Gegenteil der Fall: Bücher sind ein Konsumprodukt geworden, so wie exotische Lebensmittel. Und wir konsumieren mehr als wir verdauen können. Und werden nie satt, und werden nicht klüger.
Das Schnelllesen ist zu einer Tugend geworden.

Langsam und aufmerksam habe ich Gabriellas und Emos Beiträge gelesen, und werde es nochmal tun.

Es wäre schön, wenn Andere auch schreiben würden, ich würde mich sehr freuen.

Die Situation ist geschildert: Wie sieht jeder sie an? Wie stellt sich jeder den Schluss vor?

Zur Abwechslung gemeinsam schreiben.

Ein Freund,

Carlos

EMO

Beitragvon EMO » 17.10.2013, 15:55

Hej, Klimperer, leider war in meiner Nachricht folgender Satz irgendwie weggefallen:

"Ich ging zurück und nahm den pulliverpackten Schädel wieder an mich."

Inzwischen an der rechten Stelle eingefügt. Ich weiss nicht, wie deine Aufforderung : "Zur Abwechslung gemeinsam schreiben" durchführbar ist. Wie soll das gemeinsame Schreiben im Blauen Salon funktionieren? Es kann doch nur Einer nach dem Anderen schreiben, oder habe ich da was falsch verstanden?

Mvh, EMO

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 17.10.2013, 16:33

Hallo Emo,
EMO hat geschrieben:Ich weiss nicht, wie deine Aufforderung : "Zur Abwechslung gemeinsam schreiben" durchführbar ist. Wie soll das gemeinsame Schreiben im Blauen Salon funktionieren? Es kann doch nur Einer nach dem Anderen schreiben, oder habe ich da was falsch verstanden?
Ja klar. Einer nach dem Anderen. Es geht hier ja darum, dass Carlos sehen möchte, wie andere die Geschichte enden lassen würden, nach dem Cliffhanger, den Carlos hinterlassen hat. Ein interessantes Experiment und eine nette Idee, finde ich. ,-)

Saludos
Gabriella

EMO

Beitragvon EMO » 19.10.2013, 17:58

Hej, Gabriella!
Da hoffe ich, dass andere Salonlöwen da anhaken!

Mvh, EMO

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 19.10.2013, 18:17

Hej Emo,

ja, das hoffe ich auch. Je mehr mitmachen, um so interessanter ist es! Wir zwei haben den Schädel sozusagen lebendig werden lassen. Vielleicht kommen da noch andere, völlig andere Varianten, die nicht so "bizarr" sind. ,-)

Saludos
Gabriella

Benutzeravatar
Eule
Beiträge: 2055
Registriert: 16.04.2010

Beitragvon Eule » 31.10.2013, 11:05

... Schritte zu hören waren. Reflexartig drehte ich den Kopf und sah eine menschliche Gestalt mit einer Kapuze auf dem Kopf auf mich zukommen. Hypnotisiert blieb ich stehen und langsam, Schritt für Schritt, ging ich zurück. Die Gestalt hatte sich auf die Mauer gesetzt und die Kapuze abgenommen. Es lag eine große Bestimmtheit und Ruhe in dem Gesicht der fremden, älteren Frau, die mich erwartete, den Totenkopf nun in ihren Händen haltend.

Ich fühlte mich wie ein dummer Schuljunge, der bei einem Streich erwischt worden war und suchte hektisch nach Gründen für eine Entschuldigung, aber die Frau deutete auf die Mauer. "Setzen sie sich, bitte, ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor vier Tagen ist mein Mann gestorben, er war schwer an Krebs erkrankt. Wir haben ihn gestern nachmittag begraben, seitdem habe ich hier auf jemanden gewartet, der freiwillig an seinem Tod Anteil nimmt. Sie haben eine gute Wahl getroffen. Sie werden mich begleiten, doch zuerst löschen wir das Angebot." Dabei forderte Sie meinen Arm und zusammen brachten wir den Schädel zurück. Dann verliesen wir den Friedhof, wortlos, in Richtung der Taxistände.
Zuletzt geändert von Eule am 31.10.2013, 12:01, insgesamt 1-mal geändert.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 31.10.2013, 11:32

Hey Eule! Da bin ich aber überrascht!!!

Ich muss gerade raus, später werde ich mir diese spannende Geschichte in aller Ruhe nochmal anschauen.

Danke schön,


Carlos


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste