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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 24.09.2013, 08:50

Sie verspricht sich nichts mehr vom Leben. Auch kein anderer verspricht ihr etwas. Ihre Kinder haben sie zurückgelassen, mit jedem Schritt wurde sie unwichtiger. Was ihr bleibt, sind die Verluste, die wachsen wie ein Geschwür.
Sie liest viel und schweigt.
Sie trennt sich vom Leben.
Sie überfordert sich, damit das Scheitern leichter fällt, damit sie gar nicht anders kann, als zu scheitern. Die Anforderungen sind so, dass ein Scheitern unausweichlich ist.
Es gibt noch etwas, das sie bewundert, das sie vielleicht sogar noch immer zu erreichen hofft: die klare und aufrichtige Sicht. Ihre Bewunderung ist zu groß, als dass sie sich auch hier dem Scheitern aussetzen könnte.
Sie schreibt zwei Fassungen. Eine entspricht ihrer Wahrheit, die andere der Wahrheit, die sie glaubt, vertreten zu können. Nach außen vertreten zu können. Eine nährt den Verlust, die andere nährt das Bild (das sie von sich zeichnet. Untalentiert).
Vielleicht ist es möglich den Verlust niederzuschreiben, denkt sie, indem man trotzdem schreibt, oder an der Hoffnung festhält, dass es von selbst vergeht.
Ihr fällt auf, wie besessen die Menschen von sich selbst erzählen, sich preisgeben, obwohl niemand hinsieht. Wie blind das macht, nicht absehen zu können von sich selbst.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 28.09.2013, 09:05, insgesamt 3-mal geändert.

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 24.09.2013, 21:36

Xanthippe hat geschrieben:Statt alles klar und aufrichtig zu beschreiben, verfällt sie dem Pathos.
Sie hat Mitleid mit sich selbst, kann sich dieses Gefühl aber nicht erlauben.

Abgesehen von diesen zwei Zeilen hält der Text seine deskriptive Haltung (das "Traurig. Traumatisch" scheint mir auch noch nicht optimal gelöst, das hat für meinen Geschmack ein bißchen zu viel FETTDRUCK an sich), in diesen beiden Zeilen wird es mir etwas zu erklärend.

Mir kam für das Ende die (nicht gleichbedeutende) Variante in den Sinn:

Vielleicht fällt ihr deshalb auf, wie besessen die Menschen von sich selbst erzählen, sich preisgeben, auch wenn niemand da ist, der bereit wäre, es aufzunehmen, weil keiner von sich absehen kann.

(obwohl ich verstehen kann, wenn du mit dem Schreiben enden willst).

Schöner Text!

Grüße
Räuber

öhm ... das 'und tut weiter nichts' ... öhm ... wichtig für den Text? Oder könnte das sanftmütig entfallen...

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 27.09.2013, 11:21

Vielen Dank für diesen sehr konstruktiven Kommentar. Ich habe, wie Du vielleicht sehen wirst, einiges gekürzt und geringfügig geändert an dem Text. So ist auch das "und tut weiter nichts" sanftmütig entfallen ;-)
Über die von Dir zu Anfang des Kommentars monierten Sätze, habe ich lange nachgedacht. Aber offenbar stehe ich vollkommen auf der Leitung. Ich hänge nicht einmal besonders an diesen Sätzen, mir will nur nicht einleuchten, inwiefern sie weniger deskriptiv sind, als die vorausgehenden Sätze. Ich wäre Dir sehr dankbar für eine Erklärung. Das mit dem von Sich absehen, habe ich teilweise wie von Dir vorgeschlagen aufgenommen, das Schreiben kann in diesem Fall entfallen, es ist nicht wirklich von Bedeutung für diese Geschichte, aber die Tatsache, dass es um sie geht, die nicht von sich absehen kann, die ist mir wichtig. Klar ist sie dabei, wie alle anderen auch, aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Noch einmal vielen Dank und übrigens; sehr schöne Besprechung von Dir drüben im Poetenladen.
Xanthi

jondoy
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Beitragvon jondoy » 27.09.2013, 16:45

Hallo Xanthippe,

meine Bemerkungen betreffen gar nicht den Inhalt, sondern die Sprache.
Die Sprache des Textes gefällt mir gut, kommt meinem Geschmack entgegen.
Das als Feedback.

Zwei winzige sprachliche Anmerkungen.
Sie schreibt von sich zwei Fassungen. Fände ich besser, wirkt meinem Sprachgefühl nach im Sprachfluss flüssiger als dieses sperrige "von vornherein", ich weiss nicht, ob diese Änderung mit dem Inhalt kollidieren würde,

Ziemlich weit unten ist mir noch dieses 2 x man in einem Satz beim Lesen störend aufgefallen.
Weiss nicht warum, ich würde das erste durch etwas anderes ersetzen, vielleicht so...Vielleicht gelingt es mir, den Verlust niederzuschreiben, denkt sie,....

Als Leser würde ich mich am Schluss fragen, was sie mit diesem sie ("...sie aufzunehmen.") meint.
Sicherlich nicht sie selber. Doch welchen Teil von sich meint sie? Wenn da noch etwas überraschendes, etwas sehr eigenes käme, das wär halt noch ein Tüpfelchen.

Namaste,
jondoy

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 28.09.2013, 09:07

Guten Morgen, Jondoy,
herzlichen Dank für Deine Anmerkungen zur Sprache. Der Text wächst und verändert sich, ich habe das lange nicht mehr so erlebt, dass die Auseinandersetzung mich näher an den Text heranführt und ich das Gefühl habe, mit jeder Änderung dem Kern ein Stück näher zu kommen. Das ist toll.
Eine Frage nur; ist die Sprache wirklich vom Inhalt zu trennen?
Xanthi

jondoy
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Beitragvon jondoy » 30.09.2013, 13:57

Guten Montag Xanthi,

zwischen Tür und Angel kurz zu deiner Frage

die ich jetzt natürlich nur von meiner Erfahrung aus beantworten kann,

als ich "jung" war, hab ich mir meine Bücher (ohne Bezug auf etwas Lernerisches) fast nur nach dem Inhalt ausgesucht.
Im Laufe der Jahre hat sich dies total geändert.
Wenn ich mir heutzutage Bücher aussuche, ist für mich die Sprache absolut das Wichtigste, außer wenn ich jetzt nach Recherchen aus bin, die Inhaltsangaben die virtuell vor mir oder den Deckel verzieren, interessieren mich nur noch rudimentär, auf diese Empfehlungen geb ich gar nichts mehr aus, ich suche mir wahllos Seiten in dem Buch
aus und lass erst mal eine Seite Sprache auf mich wirken, nur wenn die mich anspricht, am liebsten wild, temperamentvoll, frei-, wort-, ausdrucksstark, interessiert mich das Buch (Roman) überhaupt, fesselt mich die Sprache, kann diese mir Inhalte erzählen, die mich sonst nie interessieren würden, das öffnet Horizonte, ja, mir ist das mittlerweile extrem wichtig, mir kann keiner ein Buch kaufen, da ich ja nicht sagen kann, kauf mir ein Buch, dessen Sprache mir gefällt, erst wenn diese - kraftvolle Sprache - mich befriedigt, meldet sich - bei der Reflektion über das eben Gelesene - bei mir der Verstand, da reflektier ich dann, über was erzählt die Sprache da eigentlich, ist das völlig hanebüchen oder ist es bloß surrealistisch, frag mich nicht, wo ich da die Grenze ziehe, ist es kitschig, ob gelingt der Sprache der Spagath, mich nicht nur mit seiner Fantasie, sondern auch mit seiner Poesie einzufangen, ja, solche Bücher gibts extrem selten, ein Buch, das mir von vorne bis hinten gefällt, ist so selten wie - eine Sternstunde - wenn mich dann aber die Sprache und ihr Inhalt gleichzeitig fesselt, ja, das sind dann meine Bücher, die brauch ich dann eigentlich niemanden herzuzeigen, manche sind dann schokiert über den Inhalt oder es folgen Statements wie, was für ein Scheiss, oder, sag mal, ist der (oder die)...die das Zeugs geschrieben hat, noch ganz dicht....keine Ahnung, warum mir die Sprache im Laufe der Jahre so wichtig geworden ist, vielleicht ist dies ja auch eine Nebenwirkung von "jahrelangem Salon", vielleicht so milliliterhaft, ach ja, und dann kommt ja auch noch die Sprachmelodie (-geschwindigkeit) hinzu....manchmal finde ich Inhaltspassagen zu langatmig, hat jetzt nichts mit
wirklicher Inhaltszeit zu tun, fünf Minuten "Echtzeit" können ruhig dreissig "Buchseiten" lang dauern, kommt ganz drauf an, was in denen passiert, doch manchmal verlieren sich meinem Geschmack nach Autoren/Innen in ihren Beschreibungen, ich könnte von einem Buch erzählen, dass ich den gesamten Sommer hindurch (an den Seen gelesen hab), der Inhalt (..der Fortgang der Geschichte), zäh wie Kaugummi, aber komischerweise hat mich die Sprache bei der Stange gehalten, mein Interesse aufrecht erhalten, eine "mehrdimensionale" Sprache verführt mich zum Lesen, um die Frage zu beantworten, vielleicht sind dies ja Indizien, die dafür sprechen, dass es beim Lesen so sein kann, die Sprache ein Stück weit vom Inhalt zu trennen.

Namaste,
jondoy

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.09.2013, 14:10

Hallo Stefan,

mir geht es, was die Sprache angeht, genauso wie dir. Sie muss vor allem bildhaft und eine gewisse "Wildheit" und Unbeschwertheit haben, damit sie mich packt.

Liebe Grüße
Gabi
P.S: Sorry für OT, Xanthi

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 30.09.2013, 15:22

Danke, Stefan, für diese schöne persönliche Antwort, die ich in fast allen Punkten gut nachvollziehen kann, weil es mir sehr ähnlich geht, trotzdem denke ich, dass sich die Sprache nicht wirklich vom Inhalt trennen lässt, bzw. dass Sprache nur so wirkt, wie du es beschreibst, und wie ich es selbst erlebe (zuletzt übrigens sehr begeistert bei Valeria Luiselli - Die Schwerelosen, ein Buch, das ich an dieser Stelle kurz empfehlen möchte), wenn die Sprache einen Inhalt hat, wenn, wie António Lobo Antunes das nennt, Primworte benutzt werden, wenn also nicht wahllos dahergeplappert wird, eine schöne und ausgefallene Metapher an die andere gereiht wird, sondern jeder Satz seine Notwendigkeit hat. Ist halbwegs verständlich, was ich damit meine?
Den OT finde ich sehr interessant, Gabi, vielleicht interessanter als den Ausgangstext ;-)
Xanthi

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.09.2013, 15:39

Hallo Xanthi,
Xanthippe hat geschrieben:Den OT finde ich sehr interessant, Gabi, vielleicht interessanter als den Ausgangstext ;-)

nein, nein, so ist es nun auch wieder nicht. Meine Bemerkung kam halt nur einfach spontan, weil ich bei dem, was Stefan schrieb, so nicken musste.
Was deine Zeilen angeht: ich kann sie nicht mal eben durchlesen. Ich muss sie mehrfach und konzentriert lesen, um in die Tiefe ihrer Bedeutung zu gelangen. Insbesondere diese Sätze finde ich bedeutungsschwer und gelungen:
Xanthippe hat geschrieben:Es gibt noch etwas, das sie bewundert, das sie vielleicht sogar noch immer zu erreichen hofft: die klare und aufrichtige Sicht. Ihre Bewunderung ist zu groß, als dass sie sich auch hier dem Scheitern aussetzen könnte.
und
Xanthippe hat geschrieben:Vielleicht ist es möglich den Verlust niederzuschreiben, denkt sie, indem man trotzdem schreibt, oder an der Hoffnung festhält, dass es von selbst vergeht.

Dies regt mich zum Nachdenken an. Und das finde ich gut.

Liebe Grüße
Gabi

jondoy
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Beitragvon jondoy » 30.09.2013, 20:30

Hallo Xanthi,

mir kommen da spontan so bestimmte "Sprachen" in den Sinn, die ich irgendwann mal gelesen hab, (z.B. so typische "Erzählweisen" von Herbert Schild (Pseudonym H. Achternbusch), oder Ezra Weston Loomis Pounds ziemlich schräge (verworrene) "Da Cantos" Texte (....wundert mich nicht, dass es folgende Biografie über ihn gibt: (Ezra Pound: Von Sinn und Wahnsinn), oder an Anagramm-"Texte" von Unica Zürn, wenn ich an diese (Erzähl-)Sprachen denke, hege ich zumindest den Verdacht, manche Autoren legen es darauf an, Sprache von einem Inhalt (im "konservativen" Sinne) zu trennen, manche hauen sogar mit dem Hammer drauf, um dann aus ihren
Einzelteilen (als Samen für Neues) neue Wortbedeutungen und schließlich eine neue Erzählsprache zu entwickeln,

....und Xanthi, natürlich bist Du in einen Fettnapf getreten, ich bin doch beratungsresistent, was Bücher angeht, dieses Buch, welches du empfiehlst, werde ich natürlich nicht lesen, dennoch, danke für den Tipp :smile:

Hi Gabriella,

auch über deinen Kommentar hab ich mich gefreut. Dabei bin ich mir gar nicht mal so sicher, ob wir beide wirklich
über dasselbe sprechen, kann schon sein, natürlich, aber auch genau so gut auch nicht,

Namaste,
Stefan

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 03.10.2013, 18:44

Hallo Stefan,

gerade habe ich irgendwo gelesen, dass Schopenhauer der Meinung war, je inhaltsärmer ein Roman, umso wertvoller sei er. Vielleicht geht das ungefähr in die Richtung. Es geht eben nicht darum, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Dem stimme ich unbedingt zu, trotzdem gibt es da noch einen Unterschied, es gibt Texte, da spielt die Sprache mit sich selbst und die langweilen mich schnell, und andere, da wird die Sprache sehr genau untersucht, auseinandergenommen, oder auch "zertrümmert", wie Du das nennst, aber ich spüre, dass das geschieht, weil derjenige, der das tut, näher an den Kern will, an etwas, das eigentlich nicht auszudrücken ist.
Und der Fettnapf ist nicht schlimm, wenn das Buch eines ist, das von Dir gelesen werden will, wird es dich trotz meiner Empfehlung erreichen ;-), und wenn nicht, liebe ich es eben allein weiter. Es ist nur so, dass ich, wenn ich mich wieder einmal verliebt habe, immerzu davon reden will...
Grüße
Xanthi


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