Spiegelschrift (geändert)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 26.07.2006, 10:04

Spiegelschrift*

Es schlägt ein Blatt an mein Fenster,
ein altes Herbstblatt im Frühlingssturm,
es hängt an Spinnenfäden,
und pocht an die stumme Scheibe,
verzweifelt.

Wer hat es aufgehängt?
Wer nimmt es ab?

Der Wind stößt es hin und her,
gegen die stumme Scheibe,
auf deren dunkler Fläche
nur das Herbstblatt zu sehen ist,
verzweifelt.

Und ich poche gegen diese stumme Scheibe,
ich klappere verzweifelt ab,
hänge im Sturm, das Herbstblatt.


---
* nach (-?) Denken geändert; voriger, schlechter Titel: "Am Computer geschrieben"

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.07.2006, 17:28

Lieber lichel,

ich war ja schon ziemlich gespannt wann und ob ich ein zweites gedicht von dir lesen darf. Und endlich ist es so weit. :smile:

Und kann ich kann wieder nur sagen: der Inhalt nimmt mich sofort gefangen. ich & ich und was mit ihm über die zeit und über die gefühle mit ihm passiert...sich selbst zuzuschauen und dann noch die spezielle Ebene des Schreibens und Bespiegelns durch das Schreiben - ja, das ist ein Gedicht wert und es ist ein sehr anspruchsvolles Thema.

Ein sprachliches problem bilden für mich die Adjektive, besonders "verzweifelt", zum einen, weil in Kombination mit stumm schon seine soft vorgekommen ist, dass es seine Wirkkraft verloren hat, zum anderen, weil ich mich frage: Ist es wirklich nur verzweiflung? kann es nicht auch Neugier sein in solchen Momenten? oder Angts? oder Spiel?

Mir der zweiten Strophe habe ich noch meine Schwierigkeiten, weil ich dort einen perspektivwechsel erahne, aber noch icht sicher bin, ob das stimmt (blatt (schreiben) - ich und dann draußen, drinnen?). Vielleicht könnte man dies noch etwas deutlichr machen? Vielleicht fällt es aber auch nur mir schwer, das erzählerische geländer zu finden. ich wäre shr gespannt darauf, wie andere den text verstehen.


Den Aufbau finde ich zudem ansonsten raffiniert und poetisch.

Danke für diesen Text...
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 29.07.2006, 11:08

Liebe Lisa,

da du mir nun einen so schönen Kommentar geschrieben hast, kann ich vielleicht noch ein paar Worte zu dem Gedicht sagen...

Es ist schon etwas älter, daher finde ich persönlich es sprachlich eigentlich ziemlich unbefriedigend ("verzweifelt" ist da für mich nur die Spitze des Eisberges, obwohl vielleicht wirklich das störendste Element - leider auch ein wichtiges in meinen Augen). Ich hätte es auch nicht eingestellt, wenn es nicht einen ganz speziellen Gedanken auszudrücken versuchte, den du glaube ich schon (fast?) erfasst hast. Ich wollte nur mal sehen, ob so ein Gedanke verständlich ist und ob man ihn so (oder wenn nicht, wie sonst) ausdrücken kann.

Sicherlich könnten statt "verzweifelt" auch ganz andere Adjektive stehen, das war nur eben die Stimmung. Ich würde es ja gerne ganz streichen, allerdings fehlt mir dann die Beziehung von dem Blatt zum lyr. Ich in der letzten Strophe...

Was du über die zweite sagst, stimmt ganz genau! Hier ist wirklich ein Perspektivwechsel (obwohl nicht gerade gut ausgedrückt), der bei besserer Ausführung vielleicht das Verständnis erleichtern würde... darüber denke ich nach, danke für diesen Hinweis (Schlüsselwort ist hier "auf"... aber wie mir nun auffällt reicht das ja hinten und vorne nicht... vielleicht baue ich anstatt "zu sehen" "es spiegelt sich" ein... oder so).

Ich bedanke mich für deine konstruktiven und gut beobachteten Vorschläge (und natürlich die unverdienten Komplimente!). Das war mir sehr wichtig. :smile:

Liebe Grüße,
l

aram
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Beitragvon aram » 30.07.2006, 05:39

hallo l!

bei diesem gedicht empfinde ich eine intensität, die noch nicht so recht in die form findet, um ausdrucks-form ringt.

ich weiß auch nicht, ob ich den 'speziellen gedanken' verstehen kann...
ich 'lese' das gedicht als spiegelung, ungefähr so:


an mein fenster schlägt ein blatt
altes herbstblatt im frühlingssturm
hängt an spinnenfäden, pocht

an die stumme scheibe

auf der ich im sturm hänge
verzweifelt abklappere
das herbstblatt



der titel 'spiegelschrift' gefällt mir gut, mit dem vorherigen konnte ich nichts anfangen.

bin gespannt, ob du dran weitermachst, und ob da vielleicht noch ganz was anderes ist, das ich nicht gesehen habe.

liebe grüße,
aram

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 30.07.2006, 11:41

Hallo aram!

Danke für deine Zeit und Mühen, das war sehr hilfreich.

Das "um Ausdrucks-Form ringen" kann ich nur unterschreiben... der Text ist wie gesagt etwas älter, entstanden in einer Zeit, wo Gedichte bei mir noch ein bisschen unkontrolliert entstanden sind (ich bin ja auch recht neu dabei :icon_redface: ), es fällt mir aber sehr schwer, die alte Version aus meinem Kopf "zu löschen", was sicherlich nötig wäre... umso schockierter war ich, deine radikale Verkürzung zu lesen... und zu merken, dass sie trägt! Ich werde mir hoffentlich nächstens die Zeit nehmen, das mal genauer zu untersuchen, auf jeden Fall hat mich das schon ein bisschen aus dieser Fixierung auf das Original gelöst, danke (und wow!).

Zu dem Gedanken... hmm, einerseits: "ich 'lese' das gedicht als spiegelung"... das trifft es schon, ich weiß nur nicht, ob du es auch so meinst, wie ich...

Ob ich den Titel, wie Lisa mir noch vorschlug, in "Spiegel Schrift" ändere? Oder erkennt man das auch so?

Nachdenkliche Grüße,
lichelzauch

aram
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Beitragvon aram » 30.07.2006, 15:33

hallo lichel!

Spiegel Schrift
ist auch ein schöner vorschlag.

Spiegelschrift
ist für mich genauso verständlich.


-d.h. das weiß ich ja gar nicht -

also ich lese einen dreifachen spiegel:

1- in der scheibe

2- im pochen, aufgehängt sein, etc.

3- im schreiben.

gibt es noch 4, 5? ("stumm sein" zählt nicht extra!)


freut mich, dass ich dich positiv schockieren konnte - das zeugt von großer offenheit deinerseits!

:-) schönen sonntag lieber lichel, beste grüße an den zauch, auch!
aramsam

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 30.07.2006, 15:40

3- im schreiben.


:cool:

Puh. Ja. Genau. Es ist primär (für mich) ein Gedicht über das Gedicht-Schreiben. Ich mache mir Gedanken! Brauche nur noch Zeit. Du und Lisa seid mir eine große Hilfe. Danke!

Sowohl lichel als auch zauch grüßen aramsam bestens zurück!
Schönen Sonntag.

amira

Beitragvon amira » 31.07.2006, 10:18

Hallo lichel!

Sehr ansprechend.

Mein Vorschlag:

Ich finde, du könntest auf die Adjektiva "verzweifelt" jeweils verzichten.

Auch die Fragen nach dem Wer wäre m.E. verzichtbar, da sie der Leser selbst assoziiert. Darf ich fragen, warum sie dir wichtig sind?

Wenn der Perspektivenwechsel besser herausgearbeitet ist, könntest du auf die zweite "stumme Scheibe" verzichten...

Es hat auf alle Fälle Potenzial... Bin neugierig, was du noch daraus machst.

lg, amira

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 31.07.2006, 10:33

Hallo amira!

Danke für das Kompliment, ich arbeite daran! Bin selbst ein wenig neugierig... könnte aber noch dauern (es wird nicht vergessen!).

Auch vielen Dank für die Vorschläge... das "verzweifelt" war für mich Verbindungsglied zwischen Blatt und lyr. Ich, ebenso die Scheibe, wird alles berücksichtigt (die zweite ist aber wirklich überflüssig)!
Die Fragen... siehe oben, das Gedicht kam etwas unkontrolliert, arams Kürzungsvorschlag gefällt mir da sehr gut...

Ich freue mich über die Resonanz. :spin2:

Liebe Grüße,
l

aram
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Beitragvon aram » 02.08.2006, 09:59

lichelzauch hat geschrieben:Es ist primär (für mich) ein Gedicht über das Gedicht-Schreiben


lieber lichelzauch!

wenn du es überarbeitest, kannst du das vielleicht noch unterstreichen /klarer herausarbeiten.

ich habe die ebene des schreibens zwar auch gelesen, "primär" wäre aber übertrieben.

d.h. die situation der suche/verzweiflung (des 'im sturm aufgehängt seins und ans fenter pochens' - übrigens sehr schöne bilder, finde ich!) schien sich mir nicht in allererster linie auf das problem des schreibens zu beziehen, sondern auf davon unabhängiges, und das darüber schreiben kam für mich nur 'dazu'.

wenn 'primär' für dich heißt, dass die situation erst durch den anspruch zu schreiben entsteht, fehlt darauf noch ein deutlicherer hinweis im gedicht, finde ich. vielleicht könnte dann der anfang anders sein.

das bild des "abklapperns" ist auch nicht so eindeutig - in dieser hinsicht bot der alte titel noch eine hilfestellung, die jetzt vielleicht auf anderer ebene erneuert werden sollte, oder das bild (auch sehr schön) noch präzisiert.

liebe grüße,
aram

Maija

Beitragvon Maija » 02.08.2006, 10:01

Hallo lichelzauch,

Es wurde ja schon viel gesagt, ich habe dein Gedicht gerne gelesen und die Idee mit dem Spiegel gefällt mir sehr gut. Besonders gefällt mir deine Bildersprache:
ein altes Herbstblatt im Frühlingssturm,
es hängt an Spinnenfäden,


Gern gelesen, Danke!

Gruß Maija

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 02.08.2006, 10:08

Lieber aram!

Danke auch noch einmal für diesen Kommentar, das war noch nicht ganz richtig ausgedrückt von mir. Das Gedicht an sich ist sicherlich vordergründig eher auf diese Verzweiflungssituation hin geschrieben - nur eben, das für mich hauptsächlich Interessante an dem Gedicht war eben dieser Extra-Bezug. Aber du hast recht, und ich überlege auch schon heftig, wie ich hier die Betonung verschieben werde...

Ach, ich freue ich mich wirklich (natürlich auch über das zusätzliche Lob) - ich kann nichts versprechen, aber morgen könnten ein paar Änderungen folgen... ich hoffe doch wenigstens, bis zum Wochenende.

Gerade das mit dem Abklappern ist jetzt z.b. ein großes Problem weil ich überlege, ob der Computerbezug überhaupt wichtig ist.

Oh, hallo Maija! Auch dir danke für deinen lieben Worte, freut mich, dass es dir gefällt. :smile:

Gruß,
l

DasM

Beitragvon DasM » 16.09.2006, 19:42

oh, lese mich gerade durch meine kritiker.
grundintetion war rache ( kleiner spass ),
aber ich muss sagen, dass mir dein text sehr zusagt. er hat estwas von schweremut und auch leichtigkeit. das so zu treffen ist schwer und dir gut gelungen.

nur folgende passage:

Wer hat es aufgehängt?
Wer nimmt es ab?

ist nicht stimmig. das erinnert mich an ein kindergedicht und passt nicht zur philosophischen aussage des restlichen textes.


alles in allem recht gut.

Michael

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 16.09.2006, 20:26

Hallo m,

Wer hat es aufgehängt?
Wer nimmt es ab?

ist nicht stimmig. das erinnert mich an ein kindergedicht


:cool: Das mag daran liegen, dass der Text sozusagen noch aus meiner lyrischen Kinderstube stammt - oder zumindest der Ecke, in der sich die Kleinkinder tummeln (man weiß ja nie, wann man aus besagter Stube herauskommt, wobei auch gesagt werden muss, dass ich mich gerade aus dem Haus heraus verlaufen zu haben scheine, weshalb ich auch keine Arbeiten hieran mehr vornehmen werde. Würde ich es nochmal schreiben, würden diese Frage sicher draußen bleiben, ja. Guck mal weiter oben, da ist ein schön verdichteter Vorschlag von aram, der mir selbst sehr gut gefällt (ich würd's trotzdem nicht so schreiben, weil ich's zurzeit gar nicht schreiben würde :eek: naja)).

Aber du hast recht (jedenfalls damit; was das davor betrifft, nun ja... :smile: ) .

Gruß,
l


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