15.

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
pjesma

Beitragvon pjesma » 08.07.2011, 10:59

marinika zweigeteilt

marinika räumt die regale aus, trägt die bücher in garten und stapelt sie auf der bank.
sie stöhnt unter der last der bücher. „es muss etwas geschehen, irgendwie muss man die seele entrümpeln“, nörgelt sie über den stapel, „es muss unbedingt etwas geschehen“. dann wischt sie die regale mit einem feuchten tuch aus, und stöhnt noch einmal. nun müsste sie die last zurücktragen.
dann beschließt sie, auf eine hälfte zu verzichten.
„auf eine hälfte werde ich verzichten müssen“, spricht die marinika in halber stimme, und zerreißt die bücher, eines nach dem anderen in der mitte. dann betrachtet sie kritisch die beiden hälften jedes buches und ruft sich die längst gelesenen geschichten in erinnerung. die vielversprechenden anfänge oder die gelungenen enden, die streichelt sie zärtlich mit der hand, bevor sie sie, jetzt ganz ohne stöhnen, in ihre regale zurück trägt. aus dem rest schüttelt sie die kleinen buchstaben heraus, überall auf den rasen im garten, damit daraus die märchen wachsen. die großen buchstaben verfüttert sie an die kanninchen, damit sie nicht immer so stumm dasitzen. interpunktionen überlässt sie den fischen im teich.
„so! so viele reine seiten“, freut sich die marinika,“ so viel entrümpelt!!!“

„so! so! soso!“- sooht sie zufrieden, „es musste ja wirklich endlich etwas geschehen!“ sie drückt noch ein einziges unzerissenes bändchen an die brust (in dem auch die mitte stimmt), und bevor sie sich versehen kann, geschieht das unglück: zwei zeilen schlüpfen heraus aus dem büchlein in das blumenbeet.
marinika wirft sich sofort auf die knie und sucht zwischen den blumenbeeten. „ich finde euch“, seufzt sie,“ ich muss euch finden!“ eine halbe nacht durchkämmt marinika die löwenmäulchen und die dahlien, und sucht verzweifelt nach den versen, unter dem kargen licht der glühwürmchen und sterne. sie flucht laut auf die vögel und eichhörnchen wegen der gefräßigkeit, beschuldigt die maulwürfe und die ameisen des diebstahls, und die hornissen der scheinheiligkeit . sogar mit dem wind legt sie sich an, aber es hilft nichts---
„es hilft nichts“, heult sie, „ich finde sie nicht. vielleicht sind sie tief in die erde vesickert? „denkt die marinika , „sicherlich sind sie das“. und sie findet einen kleinen trost in diesem gedanke. „alles was in die erde kommt, ist nicht für immer verloren“, wispert sie, schon mit halbschlaf überwältigt, liegend im beet . „und wenn ich heute früh aufwache, schmunzelt über mir spitzbübisch ein niegelnagelneuer gingkobaum. sicherlich tut er das!“

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.07.2011, 20:23

Hallo Pjesma,

ich bin auch noch ein wenig zwiespältig .-), was deine Marinika Geschichten angeht. Auf der einen Seite zieht mich das Phantasievolle an, dieser ganz eigene Blickwinkel auf Themen, die eigenartige Welt, die da aufscheint. Andererseits merke ich, dass mich die betonte Naivität, oder Kindlichkeit einer Erwachsenen, die sich auch über die Sprache zeigt, skeptisch macht und die Geschichte so ihren Zauber, das Gefühl, dass man die gezeigte Welt für einen Moment einfach als "Wirklichkeit" miterleben kann, aufs Spiel setzt.
Der Erzähler scheint mir manchmal fast spöttisch auf Marinika und ihre Welt zu schauen. Wahrscheinlich ist es vor allem das "die Marinika", was mich zunehmend stört. (Als würde im Hinterkopf immer diese Frage an Marinika mitschwirren: Ja, was macht sie denn da wieder (Dummes) die Marinika.)
Ich bin auf jeden Fall gespannt, auf weitere Episoden!

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.07.2011, 12:36

Hallo Pjesma,

ebenso wie Flora gefällt mir das Naive, Phantasievolle, Unbekümmerte an deinen Erzählungen sehr gut. Normalerweise würden mich Wiederholungen wie

pjesma hat geschrieben:dann beschließt sie, auf eine hälfte zu verzichten.
„auf eine hälfte werde ich verzichten müssen“, spricht die marinika


stören, aber hier erinnert es mich ein bisschen an die Erzählweise von Siegfried Lenz ("So zärtlich war Suleyken - Masurische Geschichten"), ebenso das Verniedlichende. Das gilt auch für den vorgeschobenen Artikel bei Namen oder verwandschaftlichen Anreden (hier bei der Marinika), was wohl allgemein dem slavischen/russischen Sprachgebrauch entspringt. Ich finde das sehr schön, liebevoll und kosend.

Dass so umgangssprachliche Wörter wie "niegelnagelneu" der Erzählung guttun, würde ich eher nicht sagen, da wirds des Guten zu viel, und ein bisserl flapsig.
Ebenso habe ich ein Logik-Problem, wenn ich versuche mir vorzustellen, wie ein Mädchen Bücher mitten durchreißt. Hast du das mal versucht? Man kriegt nichtmal eine normale Illustrierte zerrissen, geschweige den gebundene Bücher. So weit reicht dann meine Phantasie und die Einbildungs- bzw. Muskelkraft der Marinika wohl doch nicht ...

Was ich leider ziemlich furchtbar finde, ist bei solcherlei Texten die Kleinschreibung. Bei Gedichten und manchen experimentellen Prosastücken mag das angehen, aber hier ist es wirklich keine Zierde und macht das Lesen mühsam.

Liebe Grüße,
Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

heinz

Beitragvon heinz » 14.07.2011, 22:11

das mag ich. das mit dem realen surrealismus. na klar - den gibt es gar nicht. aber hier ist davon zu lesen.

gewiss. ein paar verutschte '"' könnten stören ebenso wie die von mir gern gepflegte kleinschreibung. aber das ist egal und unwichtig.

die geschichte gefällt mir. die idee auch. und wie es geschrieben ist auch.
und der garten mit den blumen, vögeln, hornissen und dem neuen ginko sowieso.

natürlich würd ich nun schon gern wissen, was denn mit den nun reinen weissen seiten gemacht wird. aber es hilft nichts ...

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.07.2011, 23:39

...
Zuletzt geändert von Mucki am 30.05.2016, 20:26, insgesamt 1-mal geändert.

pjesma

Beitragvon pjesma » 15.07.2011, 20:51

vielen herzlichen dank, ihr lieben, eure lesensarten waren mir sehr hilfreich:-)

"die"-geb ich nicht her;-)
sooht---hm, ist schon zu albern, lass ich fallen, wie auch nigelnagelneu...buch zerreisen...hm. ich denke es geht...gradso.;-)
grosschreibung mach ich dann, sobald ich es "ins reine" schreibe

und keiner hat die zwei verlorene verse gefunden :-(...

lg, pjesma

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Eule
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Beitragvon Eule » 18.07.2011, 10:27

Hallo pjesma, vielleicht sind die in der Überschrift versteckt ... und die Marinika, ja, die hat sie dann bestimmt geträumt. Hoffe sehr, dass es bald eine Forsetzung gibt. Bewegend eigensinnig !! :daumen: :daumen:
Ein Klang zum Sprachspiel.

pjesma

Beitragvon pjesma » 07.08.2011, 10:22

;-)..."fühlst du nicht an meinen Liedern
Daß ich Eins und doppelt bin"...

romea

Beitragvon romea » 23.08.2011, 02:35

also...
... ich korrigiere dann mal:
marinika zweigeteilt (hier fehlt, m.e., ein komma: marinika, zweigeteilt)

marinika räumt die regale aus, trägt die bücher in [den] garten und stapelt sie auf der bank.
sie stöhnt unter der last der bücher. „es muss etwas geschehen[.] irgendwie muss man die seele entrümpeln“, nörgelt sie über [dem] stapel[.] „es muss unbedingt etwas geschehen[."] dann wischt sie die regale mit einem feuchten tuch aus, und stöhnt noch einmal. nun müsste sie die last zurücktragen.
dann beschließt sie, auf eine hälfte zu verzichten. „auf eine hälfte werde ich verzichten müssen“, spricht die marinika in halber stimme, und zerreißt die bücher, eines nach dem anderen in der mitte.

hier frage ich mich, ob die "halbe stimme" nicht in einer uebersetzung steckenbleibt - irgendwas stimmt hier nicht. im englischen sagt man 'subdued' - was mit 'gedaempft, unterdrueckt' uebersetzt wird. uebrigens finde ich die wiederholungen sehr schoen: „es muss etwas geschehen." und: „es muss unbedingt etwas geschehen"... sowie: dann beschließt sie, auf eine hälfte zu verzichten. „auf eine hälfte werde ich verzichten müssen“...

m.e. kann man buecher uebrigens in der mitte zerreissen, auch wenn man kein kraftprotz ist. im grunde finde ich das ohnehin sekundaer, da es (m.e.) hier um das bild geht - nicht um die moeglichkeit - und das bild gut fuer sich alleine stehen kann, da es (m.e.) bezeichnend fuer die beziehung malinikas zu den buechern ist.

das zufriedene "sooht" finde ich auch ganz entzueckend. sehr fantasievoll, wie natuerlich die marinika-texte im allgemeinen. :-) ich wuerde es vielleicht ohne das doppelte 'o' schreiben: soht - da es das (2. o) eigentlich zum verstaendnis nicht braucht.

weiter im text... hier wird nun die interpunktion etwas chaotisch:
„es hilft nichts“, heult sie, „ich finde sie nicht. vielleicht sind sie tief in die [= der?] erde [veRsickert]?[ „]denkt die marinika[ ], „sicherlich sind sie das“[.] und [sie] findet einen kleinen trost in diesem [gedankeN]. „alles was in die erde kommt, ist nicht für immer verloren“, wispert sie, schon mit halbschlaf überwältigt, liegend im beet[ ].

also hier das ganze nochmal ohne []...

„es hilft nichts“, heult sie, „ich finde sie nicht. vielleicht sind sie tief in der erde versickert?" denkt die marinika. „sicherlich sind sie das“, [denkt sie] und sie findet einen kleinen trost in diesem gedanken. „alles was in die erde kommt, ist nicht für immer verloren“, wispert sie, schon mit halbschlaf überwältigt, liegend im beet.

schoener text! letzte anmerkung, though: 'mit halbschlaf ueberwaeltigt' ist irgendwie auch etwas 'weird'. man wird VOM schlaf überwältig, nicht "mit" und dasselbe, denke ich, gilt auch fuer den "halbschlaf" - obwohl man in dem eigentlich mehr "ist". daher vielleicht besser: "wispert sie, liegend im beet, schon halb vom schlaf ueberwaeltigt."

und die kleinschreibung? ich habe mir die diskussion in diesem forum angesehen und kann der opposition nicht so recht folgen: what's the problem? wenn du dich (und dein schreiben) so besser repräsentiert fühlst: so be it!
mir bereitet das lesen kleingeschriebener texte jedenfalls keine probleme - ganz im gegenteil: i am gravitating towards them.
:-))

p.s.: nigelnagelneu ist so[o]h ein geiles wort, warum es loeschen?
p.p.s.: das gink(h)o-goethe-zitat: nice touch!
Zuletzt geändert von romea am 25.08.2011, 06:33, insgesamt 1-mal geändert.

pjesma

Beitragvon pjesma » 24.08.2011, 12:35

vielen herzlichen dank für die befasse und vor allem für die übersichtliche korrektur, toll :-) !


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