Auf Floras Rat hin haben wir uns entschlossen, den Text zu verschieben. Wohlan denn - hier ist er.
Die Wand
von Lyrillies und Mnemosyne
Etwas war anders. Kaum sagbar, noch weniger sichtbar hatte sich die Wirklichkeit um eine Nuance verschoben, waren unter den magischen Gesten eines kundigen Dirigenten Töne in die Melodie der Welt geflossen, die nicht zur Tonleiter gehörten.
Wie jeden Nachmittag saß Jerome auf dem Boden seines Zimmers und starrte mit gerunzelter Stirn die Wand an. Weiß, gewiss. Aber war es das Weiß von gestern? Weiß war nur ein Wort. Worte – noch immer die beste Art, die Dinge zu übersehen. Etwas war neu an dieser weißen Wand, aufregend neu, erschreckend neu. Dieser Neuheit musste auf den Grund gegangen werden.
Jetzt.
Aber um das neue, andere Weiß der Wand erforschen zu können musste er sie durchdringen. Die zugrundeliegende Idee hatte er selbstverständlich längst verstanden, das Wort 'Wand' barg keine Geheimnisse mehr. Nein, er musste anders vorgehen. Er konzentrierte sich auf die physische Erscheinung. Fest und hart, das waren Ausdrücke die man damit verbinden würde. Worte. Noch mehr Worte. Erst diese Worte machten die Wand zu dem was sie war: Ein Hindernis. Aber was blieb, wenn man die Worte vergaß? Jerome versuchte es. Wie gut, dass ihn hier niemand störte. Niemand rief ihn zum Abendessen oder forderte ihn auf, Ordnung zu schaffen. Er saß ganz still auf dem Boden vor der weißen Wand und versuchte zu vergessen. Als er schließlich die Hand ausstreckte, war es draußen längst dunkel.
Er zögerte. Kurz bevor seine Fingerspitzen die Wand berührten, krümmte er sie ein, zog sie, während die Hand noch vorwärts wollte, schon zurück, als fürchte er, sie werde ihm verdorren. Von den Thronen des Verstandes, der Vernunft und des Gewissens hallte sie ihm entgegen, jene heilige, alte Lehre seiner Kindheit:
„Am Anfang war das Wort.“
Vom Wort aus war die Welt geschaffen, Namen bannten ihre Tiefe, Grammatik hielt sie im innersten zusammen. Durfte man wagen, das Wort zurückzunehmen?
„Und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“
Nun aber schwieg das Wort. Das Schicksal Gottes lag in seiner Hand. Gewissermaßen war er selbst nun Gott. Nein, Gott war das Wort – er war des Wortes Auflösung. Sicher gab es einen passenden Ausdruck dafür, doch der hätte ihn vernichtet. Also keine Worte.
Die Berührung dieses Nichts, das ehemals Wand war würde beweisen, dass es Gott nicht gab, dass er tot war. Sie würde beweisen dass Worte nicht waren, dass auch sie tot waren. Und damit würde er, Jerome, mit einer leichten Berührung beweisen, dass es die Welt nicht gab. Sie würde unter seinen Fingern zerstauben und nie gewesen sein.
Aber wäre das nicht auch sein eigenes Ende? Faszinierend, an diese Möglichkeit des Suizids hatte er bisher noch nicht gedacht. Seine Hand, die Millimeter vor dem Weiß zum Stillstand gekommen war, zitterte leicht.
Dann zog er die Stirn in noch tiefere, ärgerliche Falten. Bängliches Zaudern, befeuert von trauriger Anhänglichkeit an den fallenden Himmel der Begriffe. Durch seine Tat würde er vergehen, und für die Sprachsophister war das Vergehen ein Verbrechen. Was scherten ihn hell und dunkel, gut und böse? Er war das Omega der alten Welt, als Hinübergehender mit einem Fuß längst Teil einer neuen Schöpfung: Der wahren, echten Welt, die durch die Asche der alten hell erstrahlen würde, sowie der Staub sich legte. Alle Zersplitterung würde aufgehoben, unverdeckt, unverstellt würde das All-Eine sich zeigen, nein, nicht zeigen, denn Zeichen waren die Krücken des sterbenden Reiches, sie waren Brücken über die Kluft zwischen dem einen und dem anderen. Es würde sein, nichts sonst, die ruhige Gleichheit mit sich selbst – und er als Teil von ihr, dem selbst diese Teilnatur nur Nachhall vergangener Irrungen wäre.
Nietzsche. Seine Hand ballte sich zur Faust. Nietzsche. Natürlich. Der musste ja einfach dazwischen kommen: Gott ist tot! Schrie er und hämmerte gegen Jeromes Augenlieder. Aber Nietzsche war den letzten, alles entscheidenden Schritt nicht gegangen. Er, Jerome, würde es tun. Jetzt. Jetzt gleich. Langsam entspannte er die Faust wieder. Einen nach dem anderen lockerte er die Finger, um sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Die letzte und erste Aufgabe. Was war es noch, was da vor ihm stand? Nichts. Eine Illusion, deren Melodie er im nächsten Augenblick neu schreiben könnte.
Er streckte einen Finger. Halt! Was war es, womit er dieses Nichts zu berühren gedachte? Musste nicht auch dies Nichts sein? Keine Finger, keine Hand. Jerome musste zunächst sich selbst vergessen, bevor er fortfahren konnte. Wahrscheinlich war das Nietzsches Fehler gewesen. Jerome lachte.
Die Wand
Hallo ihr zwei,
dann beame ich meine kleine Rückmeldung mal dazu. .-)
Liebe Grüße
Flora
dann beame ich meine kleine Rückmeldung mal dazu. .-)
Ich hoffe, damit lag ich richtig und der Text bekommt jetzt wirklich mehr Aufmerksamkeit, ich wäre nämlich auch gespannt auf Kommentare!Flora im Anonymus hat geschrieben:Diesen Text habe ich sehr gern gelesen. Er ist flüssig und in sich stimmig geschrieben, öffnet den Blick in eine Gedankenwelt und Suche, enthält einen schönen Bogen und ist trotz seines Themas sehr präsent, bildhaft und "lebendig" nachfühlbar.
(Schade, dass er im Anonymus gepostet wurde, weil hier meist weniger Aufmerksamkeit für die Texte entsteht. Vielleicht könnte sich der Autor noch entschließen, den Text im Prosabereich zu posten?)
Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Hallo!
Die Berührung dieses Nichts das ehemals Wand war würde beweisen das es Gott nicht gab
Bedeutet der Verzicht auf Komma, dass es keine Zeichensetzung gibt?
Tschuldigung, das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen
(Obwohl die ungefähr drei Dutzend Komma, die dem Text fehlen, schon etwas Aufmerksamkeit vom eigentlichen Inhalt abziehen.)
Und damit zurück zu den ernstafteren und verständigeren Rückmeldungen!
Ferdigruß.
Die Berührung dieses Nichts das ehemals Wand war würde beweisen das es Gott nicht gab
Bedeutet der Verzicht auf Komma, dass es keine Zeichensetzung gibt?


Und damit zurück zu den ernstafteren und verständigeren Rückmeldungen!
Ferdigruß.
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)
Hallo Merlin,
ich glaube, Jerome irrt sich. Nietzsche war am Ende zu Nichts geworden. Und was er in diesem Zustand so alles berührt hat - wer weiß es?
Das Undurchdringliche zu durchdringen - von je her der Traum der Philosophie. Ein gefährlicher Traum, denn er kann im Wahnsinn enden. In der Vorstellung, dass die Dinge sich auflösen, sobald sie wahrhaft erkannt werden. Und der Erkennende gleich mit ihnen. Das Ergebnis sind dann, wie beim guten Nietzsche eben auch des öfteren, Allmachts- und Ohnmachtsallüren, die mit dem eigentlichen Leben nichts mehr zu tun haben. Gegen eine Wand anzudenken muss ja nicht automatisch heißen, sich den Kopf daran blutig und wirr zu schlagen.
Wie Adrian Leverkühn Beethoven zurücknehmen wollte, will Jerome das Wort zurücknehmen, und damit die ganze Welt, weil deren Anfang das Wort war. Was aber nichts anderes heisst, als dass allzu wörtliche Bibelauslegung auch in den Wahnsinn führen kann. Oder ins Nichts. Mindestens aber an den Rand des Nichts. Welcher ja bekanntermaßen ein guter Beobachtungsposten ist.
Gern gelesen!
Gruß
Sam
ich glaube, Jerome irrt sich. Nietzsche war am Ende zu Nichts geworden. Und was er in diesem Zustand so alles berührt hat - wer weiß es?
Das Undurchdringliche zu durchdringen - von je her der Traum der Philosophie. Ein gefährlicher Traum, denn er kann im Wahnsinn enden. In der Vorstellung, dass die Dinge sich auflösen, sobald sie wahrhaft erkannt werden. Und der Erkennende gleich mit ihnen. Das Ergebnis sind dann, wie beim guten Nietzsche eben auch des öfteren, Allmachts- und Ohnmachtsallüren, die mit dem eigentlichen Leben nichts mehr zu tun haben. Gegen eine Wand anzudenken muss ja nicht automatisch heißen, sich den Kopf daran blutig und wirr zu schlagen.
Wie Adrian Leverkühn Beethoven zurücknehmen wollte, will Jerome das Wort zurücknehmen, und damit die ganze Welt, weil deren Anfang das Wort war. Was aber nichts anderes heisst, als dass allzu wörtliche Bibelauslegung auch in den Wahnsinn führen kann. Oder ins Nichts. Mindestens aber an den Rand des Nichts. Welcher ja bekanntermaßen ein guter Beobachtungsposten ist.
Gern gelesen!
Gruß
Sam
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