Die Großvaterkiste

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 14.11.2010, 17:04

Das Grab ist eingeebnet worden; die Ruhezeit von zwanzig Jahren längst abgelaufen.
Sie weiß dennoch, wo ihr Vorfahre begraben ist. Vorfahre, was für ein Wort, denkt sie. Unter einer Eibe, an einem kühlen, schattigen Platz. Direkt an der Friedhofsmauer, hinter der sich eine vielbefahrene Straße stadtauswärts windet. Immer, wenn sie auf dieser Straße unterwegs ist, spürt sie dem Großvater nach, in Gedanken, aber sie ahnt, dass sie eigentlich nicht weiß, wer dieser Mann war.

In den Träumen sieht sie ein Schloss. Vom Küchenfenster aus. Sie fragt sich, ob ihr das Gedächtnis einen Streich spielt. Nach all den Jahren. Sie glaubt, das frischgescheuerte Treppenhaus zu riechen. Es ist Erinnerungsgeruch. Ob es ihn gab? Oder gibt?

Eine Zeitlang kam er die Familie oft besuchen. Unangemeldet. Überraschend. Sie schaute aus dem Fenster, um die Mittagszeit, nach der Schule, und freute sich, wenn der alte, hagere Mann langsam die Straße zum Haus heraufgelaufen kam. Er hatte ein dunkles Jackett an und trug eine lederne Aktentasche bei sich. Oft blieb er stehen, weil die Beine nicht mehr wollten. Setzte die Tasche ab. Strich sich das Haar nach hinten. Nahm die Tasche wieder auf und ging weiter. In Zeitlupe. So, wie er wohl ein Leben lang weitergegangen war.

Sie pflückt Blumen von Parkwiesen. Blassblaue Blumen. Vergissmeinnicht. Eine Männerstimme ruft sie. Die Kinderhände können den Strauß kaum halten. Irgendjemand sucht eine passende Vase.

Er brachte Schokolade mit, Rotsternschokolade. Sie mochte Schokolade und sie mochte ihn.

Ihre Mutter hingegen war gereizt, wenn er zu Besuch kam und deutete an, er habe Streit mit seiner zweiten Frau und sei nur deshalb da. Die hatte er kurz nach dem Tod der Großmutter geheiratet. Übereilt und hastig. Er konnte nicht allein sein, behauptete die Mutter. Keinen Haushalt führen. Aber es musste weitergehen. Immer. Irgendwie.

Im Mund der Geschmack von Bayrisch-Blockmalz. Eine viereckige Großmuttersüßigkeit. Zu Kieselform gelutscht. Man kann die wohlschmeckenden Steine gegen das Licht halten. Aber dann kleben die Hände.

Der Vater blieb nachmittags länger im Institut und schwieg ausdauernd, wenn der Schwiegervater im Wohnzimmer saß. Er hielt sich plötzlich, entgegen seinen sonstigen Angewohnheiten, bei der Mutter in der Küche auf, um keine Gespräche mit dem Gast führen zu müssen. Es war nicht so, dass er ihn völlig ignorierte, aber er beschränkte den Kontakt auf ein Mindestmaß, das ihr geradezu unanständig vorkam. Für den Großvater war der Schwiegersohn ein „Studierter“. Einer, der zwar klug daherreden konnte, aber keinen Nagel gerade in die Wand bekam.

Der Großvater verbrachte die Tage mit Lesen. Vor allem Zeitung. Er sah auch fern. Hörte Radio. Schrieb Postkarten mit zittriger Hand. Besuchte die Verwandte in der Sächsischen Schweiz. Nickte im Sessel ein. Schnarchte dabei fürchterlich. Schrak zusammen. Manchmal konnte er seine Träume dann nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. Er erzählte, dass eine berühmte Opernsängerin ihn zu Hause besucht, er Robert Lemke im Zug getroffen habe. Dass Vicky Leandros ein feines Mädel sei. Sie verbarg ihr Kichern schlecht. Gluckste. Die Mutter war hin- und hergerissen. Auch sie musste lächeln. Ein trauriges Lächeln. Dann aber wurde sie ernst und drohte der Tochter. Alle Menschen würden einmal alt.

Brombeerteenachmittage. Berliner Zungen aus dem besten Cafe am Platze. Der Blätterteig krümelt. Die Creme muss man sich für zuletzt aufheben. Sie ist das Beste.

Die Mutter bäckt einen Frankfurter Kranz. Nach überliefertem Familienrezept. Der Geruch gerösteter Kokosraspeln wabert durch die Wohnung.

Einmal riss der Großvater, der mit wenig Schlaf auskam und bis zum Sendeschluss fern sah, die Schlafzimmertür auf und schrie in die Dunkelheit, dass das Ultimatum der Entführer in diesen Stunden abliefe. Sie würden die Maschine sprengen. Ihr Kinderherz pochte wild. Keiner verstand ein Wort. Aber alle wussten: etwas Bedrohliches war geschehen. Der Vater murmelte verschlafen: „Lass uns in Ruh.“ Die Schlafzimmertür wurde leise geschlossen, der Vorfall nie wieder erwähnt.

Sie rechnet. Zehn Jahre ist sie alt. Mogadischu. Ein Wort wie ein Lichtspalt, der ins Zimmer fällt. Grell.

Manchmal schwärmte der Alte auch von der ersten Frau. Von der, die so zeitig gestorben ist, nach einem Herzinfarkt. Die Mutter hatte erzählt, dass die Ehe der beiden nur in den Anfangsjahren glücklich gewesen war. Dann habe er zur Wehrmacht gemusst und der Krieg habe ihn verdorben. Verdorben. Wie verschimmeltes Toastbrot? Erst Jahre später begriff sie, was die Mutter hatte erklären wollen. Der Großvater hatte Schreckliches erlebt. Tagelang in Schützengräben gelegen. Schwarze Skorpione liefen die Wände entlang. Die Sterbenden schrieen nach ihren Müttern. Er fand sich nicht wieder in der Familie. Er kam nie wirklich zurück zu seinen lebhaften Zwillingstöchtern und der Frau, blieb für immer ein Fremdkörper im Getriebe der thüringischen Kleinstadt.

Im Bad, auf dem Fensterbrett, steht ein Einweckglas mit Zähnen. Sie setzt sich auf den äußersten Rand der Toilette und schaut in die andere Richtung, zur Tür.

Einmal hatte der Großvater eine abgewetzte, graue Kiste mitgebracht. Seine Fotos von der Front seien darin, sagte er leise. Er hob den Deckel ab. Ein eigenartiges Geräusch, das an ein Seufzen oder ein Ausatmen erinnerte, entstand. Muffiger Geruch machte sich breit. Die Bilder waren vergilbt. Von Insekten angefressen. Sie hatten einen weiß gezackten Rand. Junge Männer in Uniformen waren darauf zu erkennen. Lastwagen. Weite Felder. Häuser.
Der Großvater breitete die Fotos auf einer bunt gemusterten Wachstuchdecke aus. Schweigend und ernst.

Da kam der Vater von der Arbeit. Wieder später als gewöhnlich. Aber gerade noch im rechten Moment. Er erblickte die Bilder, sah in neugierige Tochteraugen und forderte den Großvater mit harter, lauter Stimme auf, alles sofort in die Kiste zurückzupacken. Er solle das Zeug wieder mitnehmen. Unverzüglich. In seiner Wohnung sei kein Platz für diese Dinge. Nicht einmal im Keller. Der alte Mann packte seine Erinnerungen zurück in die Kiste. Ohne ein Wort. Ein Seufzen war zu vernehmen.

Das Grab ist eingeebnet worden. Die Kiste verschwunden. Spuren verlieren sich.
Sie träumt von Schlössern, von Blumenwiesen und Skorpionen. Und wüsste gern, wer er war.

scarlett

Beitragvon scarlett » 14.11.2010, 18:19

das hat mich zu tränen gerührt.
all diese details, mit so viel liebe erzählt, dass es einem die kehle zuschnürt.

ein wunderbar trauriges panorama, flüssig zu lesen, zum nachdenken und träumen gleichermaßen einladend!

chapeau!

lg
scarlett

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noel
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Beitragvon noel » 14.11.2010, 18:33

dito
bewegEnd
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.11.2010, 00:43

Hallo allerleirauh,

die Geschichte lässt auch mich nicht unberührt. Sie ist so warmherzig geschrieben und in einem schönen Erzählton, so dass ich es in einem Zug runterlas, ganz drin war, mitging und am Schluss dachte: Ja, ich wüsste auch gern, wer er war. Sehr gelungen!

Saludos
Gabriella

Nicole

Beitragvon Nicole » 15.11.2010, 09:00

Liebe allerleirauh,

oh, das ist eine wundervolle Geschichte. ...Brombeerteenachmittage... sehr dicht, sehr charismatisch, einfach gut und gelungen.

Gruß, Nicole

Quoth
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Beitragvon Quoth » 15.11.2010, 09:43

Hallo, Allerleirauh,
schöne Erinnerungsgeschichte. Ich hätte sie in der ersten Person erzählt (aber ich hatte so einen netten Großvater nicht :sad: ). Der Versuch der Distanzierung durch die dritte Person als Erzählperspektive scheint mir nicht völlig gelungen. Die Enkelin bleibt blass wie ein sich selbst nicht näher definierendes Ich. Der Enkelin würde ich etwas mehr "Fleisch" wünschen. Eine Leerstelle ist das Einandermeiden von Großvater und Schwiegersohn. Das muss tiefere Gründe haben als die Verachtung des einfachen Mannes für den "Studierten". Die Kiste des Großvaters kommt mir zu spät "auf den Tisch" und wird auch eingepackt, bevor sie richtig geöffnet wurde. Und hier, durch die Bilder der Kiste, müsste deutlich werden, was jetzt die Mutter vorwegnimmt. Das würde die Titelposition der Kiste rechtfertigen. Hier begreift die Enkelin ahnungsweise, warum der Großvater ein Fremdling in der Familie geblieben ist.
Müsste es in dem Sächsische-Schweiz-Absatz nicht "die Verwandten" (Plural) heißen? Eine einzelne Verwandte wäre wohl näher beschreibungsbedürftig. In diesem Absatz frage ich mich zunächst auch, warum Vicky Leandros ihr Kichern schlecht verbarg. Das namenlose "sie" hat so seine Tücken ... Und dann die vielen, für mich zu vielen parataktischen Fügungen:
Der Großvater verbrachte die Tage mit Lesen. Vor allem Zeitung. Er sah auch fern. Hörte Radio. Schrieb Postkarten mit zittriger Hand. Besuchte die Verwandte in der Sächsischen Schweiz. Nickte im Sessel ein. Schnarchte dabei fürchterlich. Schrak zusammen.
Der ganze Text ist davon durchzogen und bekommt dadurch etwas Kurzatmiges. Und diesen Absatz kann ich im Erzählganzen nicht unterbringen:
Im Bad, auf dem Fensterbrett, steht ein Einweckglas mit Zähnen. Sie setzt sich auf den äußersten Rand der Toilette und schaut in die andere Richtung, zur Tür.

Eine Frage ganz zum Schluss: Gab es nie irgendeinen Körperkontakt zwischen Großvater und Enkelin?
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.11.2010, 14:41

Hallo Quoth,

seltsamerweise schafft die dritte Person in dieser Geschichte für mich keine Distanz, sondern eine Art verstärkter Wehmut, welche die Erinnerung noch einmal bekräftigt. Auch die Parataxen stören mich nicht.
Was ich mich allerdings frage, allerleirauh: warum die abgesetzten Einzeiler? Haben sie einen besonderen Grund, den ich nicht erkenne?

Saludos
Gabriella

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 16.11.2010, 13:49

ihr alle,

vielen dank für eure rückmeldungen. ich freue mich, dass der text euch gefällt. ich schrieb ihn schon vor längerer zeit, habe ihn aber erst kürzlich, nach dem erinnerungsschreibseminar, wieder hochgeholt.

lieber quoth, dass ich ihn nicht in ich-perspektive schrieb, hängt wohl damit zusammen, dass erinnerungen für mich nicht mehr nachvollziehbar homogen sind, insofern, als ich als ICH kaum noch sagen kann, welche erinnerungen wirklich die eigenen sind, welche mir immer wieder erzählt wurden und welche ich zum beispiel mit bildern etc sozusagen "konstruiert" habe. mir scheint daher die SIE-erzählform naheliegender. wenn man so will, übernimmt SIE eine vermittlerfunktion im text aber auch nach außen hin, bezogen auf den leser. dass das nicht unproblematisch ist, bleibt mir bewusst. die kichernde vicky leandros muss ich nochmal bearbeiten...

wenn die enkelin "mehr fleisch"(!) hätte, geriete das erinnerungskaleidoskop meiner meinung nach aus den fugen. im mittelpunkt soll der großvater stehen, ich wüsste ganz ehrlich nicht, welche rolle ich dem kind zuschreiben sollte.

was das verhältnis von schwiegervater und schwiegersohn angeht: meinst du nicht, dass diese "paarung" von akademiker und handwerker allgemein schwierig sein und als grund für ein sehr distanziertes verhältnis reichen könnte? ich denke schon, zumal ja, wie im text beschrieben, überfallsartige besuche auch in ein familienleben eingreifen und eine hohe toleranz von allen beteiligten verlangen. vor allem dann, wenn die lebensräume beengt sind.

dass die kiste erst zum schluss auf den tisch kommt, hängt schon damit zusammen, dass dem kind erst in dieser episode bestimmte zusammenhänge klar werden, evtl. auch erst im nachgang. wenn ich das kistenelement auserzählen wollte, müsste ich spekulieren und das mag ich in diesem kontext nicht. dann wäre es wohl auch nötig, diesen abschnitt abzutrennen.

die verwandte in der sächsichen schweiz war tatsache eine einzelne tantenverwandte und die parataxen unterstreichen für meine begriffe ganz gut den kaleidoskopartigen charakter der erinnerungen. es sind nur bruchstücke, größere und kleinere. (und die kleineren, liebe mucki, sind eben auch mal ein einzeiler.)

die frage nach dem körperkontakt finde ich interessant. ich habe mich nie versucht zu erinnern...
ich denke allerdings, dass der großvater zu einer generation gehörte, die von vornherein wenig körperkontakt zu kindern hatten. sie definierten ihre rolle anders, denke ich. die umwelt schrieb ihnen einn bestimmten part zu. liebkosungen wurden wohl eher von den großmüttern erwartet.

lga

Quoth
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Beitragvon Quoth » 16.11.2010, 18:21

Hallo, Allerleirauh,
von der Tante würde ich in der Tat etwas mehr erzählen, weil hier ja die Vermutung im Raum steht, dass der alte Herr bei ihr mehr als Bratkartoffeln gekriegt hat (man würde es ihm so gönnen!). wenn aber nicht, würde das den Isolierten noch schärfer zeichnen. Mich würde es auch nicht stören, wenn Du hier Erfundenes erzähltest (zumal ich es gar nicht merken würde). Dasselbe gilt für die Beziehung zwischen Vater und Schwiegersohn - ich würde sie mit Vermutbarem oder Überraschendem in Tatsachenform "auskleiden". Der Text verharrt ja durch die Verschiebung der Erzählperspektive in die 3. Person auf der Schwelle zur Fiktion, und in dieser Richtung würde ich ruhig zwei, drei Schritte riskieren. Und was die Kiste betrifft - Deine Begründung überzeugt mich nicht. Jeder lebenserfahrene Leser würde hier von sich aus und selbständig die Schlüsse ziehen, die ihm jetzt von der Mutter "vorgekaut" werden - wenn die Bilder nur ein wenig ausführlicher gezeigt würden. Man brauchte nur ein paar Greuelbilder dabei sein zu lassen - dann hat der Vater auch noch mehr Grund einzugreifen. "Don't tell it - show it!"
Aber ich weiß, wie schwer es ist, authentisches Material fingierend zu erweitern - die Angst vorm Verfälschen ist immer dabei.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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