begegnung mit m.

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 10.11.2010, 18:06

wortzerklaubt saß sie am wegesrand, als ich ihr begegnete, und sah etwas blass aus.


deutlich sichtbar fehlte es ihr an substanz, die sie, weißgottwo, eingebüßt hatte.
ihr anblick ließ mich, der ich mich sonst nicht gerade zu menschen mit helfersyndrom zählte, innehalten und sie ansprechen.
an etwas von dem, das sie an sich hatte, konnte ich nicht vorbei.

ich gebe zu: es war nicht gerade das originellste, um ein gespräch zu eröffnen, doch es war das ehrlichste, das mir je über die lippen kam:
"sie sehen mitgenommen aus. kann ich irgendwie helfen?"
ich ging vor ihr in die hocke, um nicht so von oben herab zu wirken.

"was sehen sie?" war ihre kraftlos und beinahe flehend gehauchte antwort.
nicht ganz sicher, wie diese frage zu verstehen war, runzelte ich die stirn.
auf meinen fragenden ausdruck hin, öffnete sie den mund und gestikulierte - als nichts aus ihm hervorkommen wollte - hilflos und auch resigniert, dabei auf sich selbst deutend.

was sah ich?
war das eine fangfrage?
was wollte sie von mir hören, das ich zu sehen meinte?
was sollte ich sehen außer ihrer gestalt in ihrer derzeitigen, wenig schmeichelhaften verfassung?

sollte ich genau diese unerwähnt lassen und bewusst übersehen? oder exakt das ansprechen? wenn ja - weshalb?
oder sie anlügen, um ihr mut zuzusprechen, den zu fassen mit hoher wahrscheinlichkeit nicht belohnt werden würde?
es ging ihr nicht gut. das war offensichtlich.
ausgemergelt, wie auseinandergenommen und lieblos wieder zusammengeflickt, sah sie aus.
aber konnte man ihr das auch sagen?
ohne, dass sie dabei ihr letztes bisschen zusammenhalt einbüßen und unrettbar in sich zusammensinken würde?
sie sah mir verdächtig danach aus.

ich räusperte mich, um zeit zu schinden und fühlte mich in der falle.

noch bevor ich luft holen konnte, um die von mir unter gewissensbissen zurechtgelegte notlüge, sie sähe bloß aus wie eine hübsche blume, der ein wenig wasser fehlte (,was die untertreibung des jahrhunderts gewesen wäre), auszusprechen, kam sie mir zuvor:
"und kommen sie mir nicht mit einem vergleich! davon hab ich nämlich die nase voll!
beschreiben sie, was sie sehen. adjektive will ich hören. verstanden?!"


so aus dem konzept gebracht (woher hatte sie gewusst, dass ich mir ein (zugegeben: geschöntes) bild von ihr für sie zurechtgelegt hatte? konnte sie gedanken lesen?), stotterte ich reichlich hilflos herum. adjektive! was für ein seltsamer wunsch. wer gebrauchte heutzutage noch adjektive? viel zu direkt und eigentlich auch zu schlicht wirkte das angesichts unserer modernen, verpackungsorientierten zeit.
ich wollte weder das eine, noch das andere, nämlich schlicht und - vor allem - eindeutig (und somit festzunageln), sein.
ich witterte eine falle.

"sie haben ´s schon einmal geschafft, indem sie mich als "mitgenommen" bezeichnet haben." setzte sie etwas barsch, doch vor allem drängend nach, als nach einer peinlich langen schweigephase noch immer kein (ihr in meinen augen zumutbares) adjektiv meinem gehirn entspringen hatte wollen, "und das alles andere als unzutreffend. dann werden sie´s doch nochmal zustande bringen...".

ihr blick war fest auf mich geheftet und sagte mir, dass sie nicht vorhatte, lockerzulassen, bevor sie zufriedengestellt war.

"darf ich fragen, was sie so mitgenommen hat?" versuchte ich mich mit einer gegenfrage zu retten. "und darf ich weiters fragen, wie sie heißen, bevor ich ihnen etwas so persönliches wie ein adjektiv angedeihen lasse? ich heiße übrigens lyrus."

"nicht "was", "wer"!" fuhr sie in diesem moment laut auf. "jeder hat mich mitgenommen. sie alle nehmen mich mit. ungefragt. andauernd werde ich - ebenmalso - mitgenommen. weil ´s angeblich so viel besser aussieht. niemals ausgelassen. ständig werde ich bemüht, wo es auch ohne mich ginge. ich kann nicht mehr. ich bin schon derart gängige begleiterscheinung, dass mich gar keiner mehr richtig wahrnimmt. ich bin die show, ich bin die bühne, bin der vorhang und das, was hängenbleibt. jeder inhalt dieser welt hasst mich. und ich kann nichts dafür. eigentlich bin ich gar nicht so...." sie hielt verzweifelt für einen moment inne und holte zitternd, sichtlich erregt angesichts der verkennung und ausweglosigkeit ihrer lage, luft.

"....und ich heiße metapher" fügte sie, fast unhörbar, hinzu.




.keinsilbig
nov ´10

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.11.2010, 19:54

weißt was, keinsilbig?
das ist einfach genial!

auf so eine idee muss man erst mal kommen.

ich finde sie durchgängig gut komponiert und überzeugend.

die vielen klammereinschübe - da bin ich mir zwar nicht so klar, ob die wirklich so sein müssen, sie haben zumindest mir das lesen etwas erschwert, nein, das ist nicht das richtige wort, es gerät dadurch ins stocken, das lesen- aber nu.

hier:

wer gebrauchte heutzutage noch adjektive? viel zu direkt und eigentlich auch zu schlicht wirkte das angesichts unserer modernen, verpackungsorientierten zeit.

würde ich das präsens vorziehen.

kompliment!

scarlett

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 11.11.2010, 20:21

liebe scarlett,


danke, danke, danke! freut mich sehr, wenn´s derart begeistert.

und das "geschraubte", verschachtelte - das bin nunmal ich... :rolleyes:

ich empfinde keinen zeitbruch an der stelle, die du anmerkst. es ist schließlich alles in vergangenheit erzählt.... ist das hier ein bruch, den nur ich nicht als solchen empfinde?


herzlicher gruß,

keinsilbig

Nicole

Beitragvon Nicole » 12.11.2010, 09:50

Liebe keinsilbig,

gefällt mir gut. Die leidende metapher, der drucksende lyrus. Da ist viel wahres dran, für mein Dafürhalten.

Es fehtl mir gerade die Zeit, mich en detail mit den Text auseinander zu setzen, aber ich wollte mir dann doch dieZeit nehmen, hier zu bemerken, das er es wert ist...

Viele Grüße,

Nicole

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Eule
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Beitragvon Eule » 12.11.2010, 15:11

Hallo keinsilbig, habe Deinen technisch schön komponierten Text mit viel Vergnügen geelesen ! Viele Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 12.11.2010, 18:57

herzlichen dank, nicole und arne!


eure kommentare haben mir große freude bereitet.


liebe grüße,


keinsilbig


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