Was ich am dritten Oktober feiere

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.10.2010, 19:20

Was ich am dritten Oktober feiere

Die deutsche Einheit bedeutet mir offen gestanden nichts. Ich nehme sie als Faktum hin, vermag ihr aber nichts zu Feierndes abzugewinnen. Der Osten ist damals an den Westen verramscht worden, und nun hacken wir auf den Menschen dort herum, weil sie’s nicht weiter gebracht haben. Ungerecht! Aber ich gebe zu, dass ich Ende der 80er einen Politiker bewundert habe, das war Gorbatschow, und als er mal in Köln war und ein Bad in der Menge nahm, hat er diese meine rechte Pfote gedrückt und mir aus dem feuermalbewehrten Schädel fröhlich ins staunende Auge geblickt. Sollte ich sterben, womit wohl zu rechnen ist, schenke ich meinen Enkeln diese Hand, dass sie sie abhacken, präparieren, vergolden und an die Wand hängen mit der Beschriftung: „Diese Hand unseres lieben verblichenen Großvaters usw.“ Gorbatschow gab mir zum ersten Mal das Gefühl, dass in der Politik Bewegung möglich ist. Nach 35 Jahren kalter Kriegserstarrung kam alles in Fluss, und dieser einzigartige Mann ließ die Staatsmänner wie Puppen tanzen. Und hatte dazu noch eine wunderbare Frau, an die man nur mit Verehrung zurückdenken kann, Raissa, erinnert ihr euch? Nicht so eine süße Matrioschka, die man besser dort lässt, wo sie sich am wohlsten fühlt, nämlich in der Küche, sondern eine intelligente, elegante Frau, die möglicherweise die Politik ihres Mannes mehr beeinflusst hat, als wir wissen und uns denken können. Ein anderer politischer Avantgardist war Lech Walesa. Der Sohn meiner Freundin arbeitet als Werkstudent auf dem Bau zusammen mit Polen, und die haben zu ihm gesagt: „Wir sind es gewohnt, 11 Stunden durchzuarbeiten, leg Du Dich nach 8 Stunden hin und schlaf aus, wir sagen nichts!“ Das ist polnische Solidarität, und die ist von einer ganz besonderen Kraft. Neige ich zum Personenkult? Denke ich an die Tage der Einheit zurück, so fällt mir kaum ein Deutscher ein, den ich den Genannten an die Seite stellen möchte und könnte. Natürlich gehörte Mut dazu, damals auf die Straße zu gehen, aber viele wollen den Mut, den sie damals bewiesen haben, nicht mehr wahrhaben, winken müde ab und zitieren die jüngst verstorbene Bärbel Bohley, vor der ich einen Heidenrespekt habe, aber diesen ihren Satz mag ich gar nicht: „Wir wollten die Freiheit – und bekamen den Rechtsstaat“. Hm. Ist denn der Rechtsstaat nichts? Er erlaubt mir z.B., den 3. Oktober einfach zu ignorieren, und dafür bin ich ihm, dem Rechtsstaat, so recht aus tiefstem vaterlandslosem Gesellenherzen dankbar.

Muttermal auf Hinweis von Zakkinen in Feuermal geändert.
Zuletzt geändert von Quoth am 04.10.2010, 10:33, insgesamt 1-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Gerda

Beitragvon Gerda » 03.10.2010, 20:26

Hallo Quoth

das kann ich mitunterschreiben. Mir geht ganz ähnlich.
Natürlich bin ich froh, dass die Grenze gefallen ist und vor allem, dass das friedlich ging.
Ich könnte noch ein paar Namen aufzählen, von Menschen, die ebenfalls mutig waren und für die Freiheit einiges riskiert haben, aber ist dieser "Feiertag" denn für diese Menschen und deren Mut und Leistung geschaffen worden?
Wohl eher doch, damit Politiker eine Gelegeheit mehr haben sich zu beweihräuchern.

Das ist jetzt keine Textbesprechung ich weiß ... aber das lag mir gerade so auf der Zunge.

Liebe Grüße
Gerda (mit ebenfalls vaterlandslosem Gesellinnenherzen) = Klasse Ausdruck übrigens!

Klara
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Beitragvon Klara » 03.10.2010, 21:05

Hallo Quoth,
das ist ein hübsch tiefgründiger, abgründiger, hintergründiger, auch erfrischend selbstironischer und sogar witziger Text.
Hab ich gern gelesen.

Das Witzige ist auch: Deutscher geht es in gewisser Weise kaum, denn "wir Deutschen" (pardon bitte), und damit meine ich alle, die in diesem Rechtstaat leben und sich ihm in dieser oder jener Weise willentlich oder unwillig zugehörig fühlen, wir Deutschen also, wir mögen es gern, uns damit zu beschäftigen, wie sehr wir mit unserem Staat hadern - so oder so. Das mag, wenn mir dieser unpolitische Ausdruck gestattet sei, geschichtsnatürlich sein, wahrscheinlich auch notwendig.

Wenn ich recht verstehe, feiert also das ich im Text, dass es die Freiheit hat, den 3. Oktober nicht feiern und auch nicht als herzbewegend empfinden zu müssen. Mir geht das ähnlich: Der 9. November bewegt mich, immer noch (mag sein, dass es damit zu tun, dass ich Berlinerin bin). Der 3. Oktober - ist mir lästig. Nicht, dass ich es schlimm finde, man muss das wohl so feiern und tun, aber mir ganz persönlich ist es halt lästig. Finde andere Sachen tausendmal wichtiger. Und glaube, das geht vielen Deutschen so. Ich hab auch nie so richtig verstanden, warum man diesen bürokratischen Tag zum Feiertag gemacht hat.

Im Grunde ist es doch wohl ein bürokratischer Akt gewesen, die Vollendung einer Tatsache zur Formsache. Das Parlament nickte ab, was längst Fakt war. Die große Mehrheit der Ostdeutschen wollte ganz offenbar - so bitter das für einen politisch anders Denkenden sein mag - nicht den dritten Weg, auch keinen vierten, sondern direktemang unter die scheinbar schützende, hütende Hand Helmut Kohls. Dagegen konnte man, glaube ich, nciht an, wem auch immer man das zum Vorwurf machen kann. Nun ist es so, und es könnte, trotz allem, schlechter sein, besser aber auch. (Das Schwierige mit der Demokratie ist ja, dass die Mehrheit entscheidet. Das ist das Gute und auch das Grässliche, denn diese Mehrheit in diesem Rechtsstaat hat dummerweise nur in seltenen Fällen "Recht" -)

Ich finde übrigens, der Rechtsstaat schließt die Freiheit durchaus nicht aus. Aber das sind so Begriffe - Rechtsstaat, Freiheit, Volk - die ein jeder nach Gusto und eigenen Zwecken dreht und wendet in seiner je gewählten ideologischen Panade, manchmal so fettig ist sie, dass einem übel wird davon, und dann verwechselt man die Panade mit der Freiheit und dem Rechtstaat und dem Volk.

Und ich finde: Man sollte aufpassen, dass man nicht fahrlässig umgeht mit diesem REchtsstaat, der ja recht eigentlich eine Demokratie sein soll, will und muss, eine Volks-Herrschaft also. Davon sind wir noch ein Stück entfernt, aber näher dran als unter Louis IV, und man sollte weder zu bescheiden noch zu draufgängerisch sein - in der Politik ist es anders als in der Liebe: Das richtige Maß ist entscheidend, nicht das Unmaß. Denke ich. In aller Bescheidenheit. Denn man kommt ja nicht umhin, sich so seine Gedanken zu machen, auch wenn man an allen Ecken und rundgeschliffenen Kanten von Floskeln davon abgelenkt wird, sich Gedanken zu machen.

Was hat unser aktueller Bundespräsident dazu gesagt, heute? Ich werde es jetzt nicht am Bildschirm lesen, und der Fernseher streikt gerade, also morgen in der Zeitung. Nur eine Überschrift streifte mich vorhin online: Von Respekt gegenüber den Ostdeutschen, der irgendwie zu kurz komme. Oje, Herr Präsident... das ist, mit Verlaub, nicht besonders originell - naja. Wenn ich ehrlich bin, wäre ich enttäuscht, sollte der Herr Wulff eine gute Rede halten - ich traue ihm einfach das richtige und wahrhaftig Gute nicht zu. Dazu ist er zu lange in der PR-Politik unterwegs.

Na schauen wir mal. Gorbatschow war auch lange in der Diktatur unterwegs, bevor er den Weg frei machte für eine Ent-Diktaturifizierung (die ja noch lange nicht abgeschlossen ist, Master Putin&Co. nicht wahr), und auch für eine ökonomische Globalisierung, die in manchen Ausprägungen von einer Diktatur gar nicht so weit entfernt scheint. Wer oder was bestimmt, was ich tue? Was ich tun kann? Was versteckt sich hinter diesem Nominativ, der das Indiviuum so sehr betont, und die Freiheit, und in Wirklichkeit - naja, lassen wir das, es führt hier zu weit.

Jedenfalls: Gorbatschows Handschlag ist unwichtig, aber der Rechtsstaat ist es nicht. Das ist vielleicht wie mit dem Impfen: Wenn keiner mehr Kinderlähmung hat, unterschätzt man die Krankheit. Wir sollten, bie allen Hinfälligkeiten, Altersschwächen und Bedürftigkeiten unseres gar nicht so alten Staatswesens, die Krankheit Willkür niemals unterschätzen. Sonst wird aus dem Kränkeln eine ernsthafte, eine tödliche Erkrankung. Und das meine ich jetzt - todernst.

Jedenfalls ist der Gedanke zu feiern, dass man nicht feiern muss, ein guter.
Man könnte am 3. Oktober auch feiern:
Willy Brandt wird Bürgermeister von Berlin (1957)
Ernte-Dank dank George Washington (1789)
Doch kein Ernte-Dank dank Abraham Lincoln (1866)
SOS wird internationales Notrufsignal (1906)
Preußen kriegt Hannover (1866)
Preußen bedroht Napoleon an der Elbe (1813)
Albrecht der Bär nennt sich Markgraf Brandenburg (1157)
Staedtler gründet Bleistiftfabrik (1835)
Berliner Fernsehturm geht sozusagen online (1969)
Hypo Real Estate kriegt 35 Milliarden Staatsbürgschaft und verpasst dadurch knapp den Bankrott (2008)
Geburstag von Louis Aragon (1897), Monika Griefahn (1957), Gwen Stefani (1969)

und vieles mehr (danke, wikipedia!)

Man könnte aber auch einfach so ein Bier trinken - prost! - oder ein Bier nicht öffnen.

Oder man könnte den alten Wehner zitieren:
"Aus Erfahrungen lernen und nicht verzweifeln: im STreit der Meinungen und Interessen nicht die Auffassungen annehmen und versteinern lassen, als seien die Irrtümer der einen Seite die Rechtfertigung der anderne." (1979)

herzlich
klara, die das mit dem vaterlandslos niemandem glaubt, der in diesem Land lebt, wohnt, arbeitet, von allerlei Leistungen direkt oder indirekt profitiert, allerlei Leistungen direkt oder indirekt finanziert und insgesamt ein vergleichsweise geborgenes rechtstaatliches geschütztes Leben führt, und den Begriff angesichts Staatenloser und echter Flüchtlinge und im Gedenken an z.B. Heinrich Heine reichlich leichtsinnig findet :)

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Beitragvon Zakkinen » 04.10.2010, 09:12

Interessante Texte. Klaras Antwort noch lieber gelesen als Quoths Starttext. Schwer hier den Text vom Inhalt zu trennen.

In diesem einen konkreten Satz hier
und als er mal in Köln war und ein Bad in der Menge nahm, hat er diese meine rechte Pfote gedrückt und mir aus dem muttermalbewehrten Schädel fröhlich ins staunende Auge geblickt.

sind mir persönlich zu viele Schnörkel. Zumal das Feuermal, das Gorbatschow trägt nun mal kein Muttermal ist. Ich finde, man muss vorsichtig sein mit dem vorgeblich lockeren Ton, er wirkt gern ein wenig arrogant, geringschätzig.

Gruß
H

Quoth
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Beitragvon Quoth » 04.10.2010, 10:23

Hallo Gerda, freut mich, dass Du mit meiner etwas mutwilligen Kolumne was anfangen kannst!

Hallo Klara, Deine Erörterungen sind eine gute Ergänzung zu meinem sehr assoziativen Rundflug. Deine Warnung vor der "Krankheit Willkür" gefällt mir besonders. Dass die Vaterlandslosigkeit Staatenloser, Ausgebürgerter, Exilierter eine viel ernstere, härtere, ja, unvergleichlich heftigere ist als die von "vaterlandslosen Gesellen", die es in ihrer "Vaterlandslosigkeit" noch recht gemütlich haben, ist völlig klar.

Hallo, Zakkinen, die Lust am Schnörkel ist für mich ein Hauptantrieb zu solchen Texten, und da muss ich dann einfach sagen: So schreibe ich, ich kann nicht anders! Dieser Ton ist nicht vorgeblich irgendwas, es ist m e i n Ton. Aber sehr dankbar bin ich Dir für den Hinweis auf das Feuermal! Passt ja noch viel besser für diesen Veränderungs-Herkules! Und ich brauche nur Mutt durch Feu zu ersetzen!

Mit Dank für Befassung
Quoth
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Beitragvon Zakkinen » 04.10.2010, 10:32

Ok, Quoth, ist schon klar. Sagen wir, ich laufe Gefahr, den Ton als etwas oberflächlich aufzunehmen? Ich habe das Problem immer wieder mal, ist nicht bös gemeint.

Gruß
H

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Beitragvon fenestra » 04.10.2010, 11:09

Ja, wie ist das mit dem 3. Oktober und dem 9. November? Der 9. November ist ein Datum, an dem gerade in Deutschland nicht nur Gutes geschehen ist, sicher war das auch ein Grund, ihn nicht als Tag der deutschen Einheit zu nehmen. Mir ist es eigentlich egal, welchen Tag sie nun im Kalender festgesetzt haben. Ich finde schon, dass es ein Grund zum Feiern ist, wenn Menschen durch friedliche Proteste eine Grenze zu Fall bringen! Es liegt doch an uns, ob wir genau das feiern, oder die Aktionen einzelner Politiker damals. Ich fände es schön, eben mal keinen Personenkult zu betreiben, sondern sich zu freuen, dass auch die Massenbewegung zu etwas Positivem führen kann. Ich bin übrigens 20 km von der Grenze entfernt aufgewachsen. Für unsere Familie war die Grenzöffnung ein großer Tag - wir sind noch in der Nacht rüber gefahren und wurden euphorisch begrüßt. Das werde ich nie vergessen, besonders nicht die Tränen in den Augen meines Vaters.

Die Zeitungen waren in den letzten Wochen voll von Diskussionen darüber, was man richtig und was man falsch gemacht hat bei der Wiedervereinigung. Gut war z.B., dass man sofort reagiert hat und große zusammenhängende Naturgebiete unter Schutz gestellt hat, bevor gewinnmaximierende Firmen sie zubetonieren konnten. Klara hat es angedeutet, die eigentliche Gefahr für die Demokratie ist inzwischen, dass wir zunehmend von der Wirtschaft regiert werden, man sieht es am Atomvertrag, der einen Verrat an der Generation darstellt, die sich seit Jahrzehnten auf die Abschaltung verlassen hat. Auch hier könnte der Widerstand der Massen ein Gegenmittel sein - das einzige Gegenmittel vermutlich.

Klara
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Beitragvon Klara » 04.10.2010, 14:07

Hallo Quoth,

dein Text hat mich auf die Idee gebracht, mich in einem eigenen (Blog) redenartig so richtig auszumähren...
http://www.freitag.de/community/blogs/j ... s-dem-volk

"geklaut" von dir hab ich: die Anregung, Bärbel Bohley zu zitieren und die Idee zu feiern, dass man nicht feiern muss.
Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen.

Ich hoffe, das ist okay für dich? Ich nenne dich aber auch gern als Inspirator, Ursprungsideengeber etc. - als Quoth oder mit deinem richtigen Namen, wenn du das möchtest.

(Liest ohnehin kein Schwein, diese Zeitschrift, und noch weniger deren Blogs... ;))

Viele Grüße
klara

Quoth
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Beitragvon Quoth » 04.10.2010, 17:41

Liebe fenestra,
Deine Betrachtungen sind völlig zutreffend, auch ich habe am 9. November 1989 ein paar Tränchen zerdrückt - aber eben am 9. November, während der 3. Oktober einfach der falsche Tag ist.
Verfassungspatriotischer Gruß
Quoth

Das ist völlig okay, Klara. Zitate gehören nur ihren Urhebern, und das Privileg, den dritten Oktober nicht zu begehen, drängt sich ja förmlich auf angesichts der Zwangsbegeisterung bei Paraden in totalitären Systemen wie der DDR.
Gruß
Quoth
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