Ich kauf jetzt auch bei Lidl ein

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Klara
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Beitragvon Klara » 21.09.2010, 11:26

In der Krise

Ich kauf jetzt auch bei Lidl ein. Das ist meine Luxussorge.
Da wartet jeden Tag eine junge Frau vor den Schiebetüren auf mich, immer an der gleichen Stelle, strategisch geschickt platziert: am Eingang, neben den Reihen, in denen die riesigen Gitterwagen angeleint stehen. Sie will den Euro. Sie lächelt in einem fort und begrüßt jeden. Mir wird unwohl, wenn ich sie sehe. (Auch am Bioladen, den ich bevorzugte, als ich mir das noch leisten konnte, stand jemand, ein älterer, südländisch aussehender Mann mit Klumpfuß; auch er verursachte mir Magenbeschwerden mit seiner Unterwürfigkeit, er war mir zuwider, und nie hab ich ihm etwas gegeben.)

Wenn ich an ihr vorbeigehe, versuche ich so zu tun, als sähe ich sie nicht, doch sie ist penetrant mit ihrer subkommerziellen Freundlichkeit, „Hallo!“, ihr Lächeln strahlend. Man kommt nicht dran vorbei, muss mindestens nicken, auch wenn man sich dabei eklig fühlt und keinerlei Stolz verspürt, sich missbraucht vorkommt. Ich will meine Euros behalten, sie bekommt sicherlich von den andern genug, mager sieht sie auch nicht aus, und die grundsätzlichen Geschäftsregeln für Erfolg hat sie ja offenbar gefressen: Schon vor acht Uhr besetzt sie ihren Arbeitsplatz, damit ihn ihr niemand weg nehmen kann (nur ganz selten sehe ich einen anderen dort stehen), und um 17 Uhr verlässt sie mit vollen Taschen den Laden und begibt sich zur S-Bahn. (Ich habe sie beobachtet. Mir macht sie nichts vor. Auch ihr Lächeln ist nicht umsonst, und ich frage mich, ob sie sich die Augenringe und die Müdigkeit vor ihrer Bettelarbeit ins Gesicht schminkt, und überlege, ob ich schon vorher so eklig zu den Menschen war, in meiner Innenwelt, oder ob das erst so ist, seit ich wie sie bei Lidl einkaufe , und ob es lange dauert, bis diese unangenehme Innenwelt in die Außenwelt übergreift, überschwappt, ob das gar längst passiert ist, oder ob ich noch etwas Zeit habe, bevor ich mich offensiv daneben benehmen muss.)

Viele Leute sind okay bei Lidl. Die meisten Angestellten sind nett, sie weisen mich vor dem Bezahlen darauf hin, wenn die Alufolie um die Butter eingerissen ist, falls ich das nicht beim Griff danach bemerkt habe, so dass ich kein unhygienisches Butterstück kaufe. Auch manche Kunden sind freundlich, auch zur Bettlerin. Aber meinen Euro bekommt sie trotzdem nicht. Könnte ja jeder kommen. Ich habe Kinder, ich habe Auslagen, und ich habe verdammt noch mal keinen Job. Läuft halt alles grad nicht so gut. Alles passt, alles klingt fast schon wie eine Entschuldigung fürs Versagen, zumindest erleichternd. So dass man damit klar kommt. Obwohl ich niemanden kenne, der in unserer Warenwelt damit klar kommt, nicht genug Geld zu haben für all die Dinge, die was Besseres sind. Entweder hat man oder nicht, und in beiden Fällen hält man den Mund.

Manche Sachen bei Lidl schmecken sogar, und es gibt auch fair gehandelten Kaffee (doppelt so teuer), den wählt man, trotz allem, aber man hat insgesamt kein gutes Gefühl bei Lidl. Man hat zu viel gelesen. Die Kassiererinnen tragen graue Gesichter, sie sind so schnell, dass man kaum hinterher kommt, und man muss die billige Ware fünfmal anfassen: beim Aussuchen, beim Aufs-Band-Legen, beim In-den-Wagen-hetzen, beim In-die-Tasche-umpacken und zuhause. Beim Auspacken. Verpackungsmüll in die gelbe Tonne tun, das schlechte Gewissen stopft man hinterher, aber es passt nicht, fällt immer wieder raus, die Müllmänner wollen es auch nicht mitnehmen: So weit kommt’s noch!

Wenn nur die wenigen Geld genug für bio haben, müssen die anderen zu Lidl. Wenn man nicht genug Geld hat, wird alles anstrengend. (Wieder dieses alles.) Sogar die Gedanken werden zäh, laufen nicht rund, werden schlecht geschmiert, verhaken sich. Wenn man kein Geld hat, wird das nichts mit der allgemeinen Gerechtigkeit. Dann kauft halt man bei Lidl, frisst das allgemeine Unrecht, spaltet sich auf, tut sich nicht zusammen für was Besseres, ach ja, nützt ja alles nix, bringt doch gar nichts, außerdem hat man keine Kraft, geizt mit dem Wenigen, Billigen, und will was Besseres sein. Man vergisst, dass Glück im kleinsten Gefäß sein kann, man sammelt jetzt andere Sätze, liest sie von der Straße auf, legt sie zu den Plastiktüten im Schrank. Man trifft die Nachbarin, man trifft von Schulfreunden der Kinder die Mütter, die sich engagieren, die die vernünftigen Schuhe tragen, die bestimmt Die Grünen wählen, oder FDP, von denen man nie gedacht hätte, dass… man bei Lidl einkauft. Und auf Luxussorgen verzichtet.
Zuletzt geändert von Klara am 21.09.2010, 12:10, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Pjotr » 21.09.2010, 11:45

Ich nehme meine Kritik zurück, ich war zu streng.




Hallo Klara,

ich fing an zu lesen, tolerierte das erste "man", auch das fünfte ... nach dem sechsten hörte ich auf, drückte ALT-F und gab "man" ein; der ganze Text ist übersät mit man, man, man ... Der Erzähler sieht sich als Sprecher of man-kind, das mag ich über so weite Strecken nicht weiterlesen.


Dein Fan

Pjotr


Edit: Oder ist das "man" absichtlich so überbetont, im sarkastischen Sinn? (Hab's doch zu Ende gelesen.)

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Beitragvon Klara » 21.09.2010, 13:55

Hallo Pjotr,

danke für deinen Kommentar.

Auch wenn er jetzt durchgestrichen ist, hab ich vor dem Durchstreichen drüber nachgedacht und daraufhin noch mal genau auf den Text geschaut, kann das aber nicht nachvollziehen, insbesondere das Nichtweiterlesenwollen, denn zu Beginn ist ja vor allem "ich" am Zuge bzw. am Einkaufen. Die man-Häufung kommt, wenn es überhaupt eine ist, erst im zweiten Teil, und das ist durchaus Absicht. Vielleicht mag MAN das dann nicht so gerne lesen, vielleicht ist auch das ABsicht, vielleicht wird das ICH zu MAN, weil ES bei Lidl kauft, vielleicht mag ich aber auch ziemlich ungern eigene Texte interpretieren ;)

herzlich
klara
Zuletzt geändert von Klara am 21.09.2010, 14:16, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Pjotr » 21.09.2010, 14:09

Ich glaube, das mit dem "man" ist ein Dilemma, das im deutschen und in ähnlichen Sprachen noch lange eins bleiben wird. Nimmt man viele "ichs", könnte es auf Dauer egozentrisch wirken -- nehme ich viele "mans", könnte die Eigenverantwortung allmählich an die Masse übergehen.

Bei Alltagsdialogen fällt mir oft auf, dass Menschen bei unangenehmen Fragen "man" benutzen, ansonsten "ich".

"Herr Müller, schämen sie sich nicht?"
"Doch, da schämt man sich schon."

"Herr Müller, sie haben gewonnen. Wie schafft man sowas?"
"Ich habe hart gearbeitet."

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Beitragvon Klara » 21.09.2010, 14:18

Hallo Pjotr,

Ich glaube, das mit dem "man" ist ein Dilemma, das im deutschen und in ähnlichen Sprachen noch lange eins bleiben wird. Nimmt man viele "ichs", könnte es auf Dauer egozentrisch wirken -- nehme ich viele "mans", könnte die Eigenverantwortung allmählich an die Masse übergehen.


Ich finde es kein Dilemma, weil ich hier ja nicht Alltag bin, sondern Text, und auch im Alltag selbst entscheiden kann, wie ICH mit MAN umgehe - noch mehr im Text :)

sowohl das Egozentrische wie die massenhafte Eigenverantwortung - wären doch eine super Aussage ;)

Edit: Im Französischen meint das "on" (man) auch "wir". Im Englischen gibt es dafür "you", was aber, wie ich kürzlich erfuhr, offenbar weniger von unserem "du" kommt als von unserem (deutschen) "ihr", also sehr respektvoll gemeint war, bevor es verduzte und uns Deutsche Siezer verdutzte.

Ich mag SIE, ich mag MAN, ich mag DU und ich mag ON - wie auch viele andere Differenzierungs- udn Verallgemeinerungsmöglichkeiten von Sprache.
Zuletzt geändert von Klara am 21.09.2010, 14:20, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Pjotr » 21.09.2010, 14:20

Ich habe meine Kritik durchgestrichen, weil ich erst hinterher erfühlt habe, dass hier das "man" immer noch eindeutig für das "ich" spricht. Zu Beginn fühlte es sich an wie "jetzt kommt die große Verallgemeinerung".

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Beitragvon Pjotr » 21.09.2010, 14:23

Klara hat geschrieben:Hallo Pjotr,

Ich glaube, das mit dem "man" ist ein Dilemma, das im deutschen und in ähnlichen Sprachen noch lange eins bleiben wird. Nimmt man viele "ichs", könnte es auf Dauer egozentrisch wirken -- nehme ich viele "mans", könnte die Eigenverantwortung allmählich an die Masse übergehen.


Ich finde es kein Dilemma, weil ich hier ja nicht Alltag bin, sondern Text, und auch im Alltag selbst entscheiden kann, wie ICH mit MAN umgehe - noch mehr im Text :)


Ich meinte ja auch nicht Klara, sondern den Erzähler (siehe oben), also das Ich und das Man.

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Beitragvon Pjotr » 21.09.2010, 14:31

Genau! Plural "ihr" hieß (und heißt stellenweise noch) im Englischen "yous", and "du" hieß "thou". Die Deppen in Germanien denken heute noch, die Engländer würden sich duzen. Aber sie siezen sich.

Die duzen ja auch nicht die Queen, wenn sie sagen: "Thank you, your majesty!"

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 21.09.2010, 22:53

:drück: Liebe Klara, lieber Pjotr,

eine schöne Diskussion um einen sehr interessanten Text. Ich finde Prosa einfach toll. Ich mag es, wie sich die Worte in den Alltag hinein versenken und in fein gesetzter Ausführlichkeit dem häßlichen "man" hinterher spüren, einem "man" von dem wir bewohnt sind, einem prosaischen Subjekt, das in Spiralen zu seiner erbärmlichen Gewöhnlichkeit findet. Man liest gespannt, man fühlt sich ertappt, man fühlt sich geizig und mies und im Bewusstsein des Scheitern. Man sieht sich geradezu CDU wählen oder Lena-CDs kaufen. Man mag sich nicht, weiß aber, dass man an sich nicht vorbeikommt. Dieses insichfestsitzen vermag man anscheinend nur in Prosa zu gestalten. Man ist Prosa, seltener ist man ein lyrisches Ich,
:daumen:

danke Klara, für einen ... Prosatext

Renée

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Beitragvon Klara » 22.09.2010, 09:55

oh, dank dir Renée!

freu ich mich ganz prosaisch drüber ;)

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 22.09.2010, 11:51

Hallo Klara!

Also ich finde, zumindest über solche mans - Dann kauft halt man bei Lidl - könntest du nachdenken. In ihrer Dichte machen die restlichen den Text allerdings schon zäh.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Beitragvon Klara » 22.09.2010, 13:50

ja, ferdi, ich denk noch...

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Beitragvon Klara » 22.09.2010, 14:52

Hab das grad mal mir selbst vorgelesen und weiß jetzt, welche Stelle gemeint sein könnte mit zu vielen "man"s.
Bin mir aber nicht sicher, ob der unrunde Eindruck durch die mans kommt.

Denke weiter.

Klara
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Beitragvon Klara » 22.09.2010, 21:35

Denk-Ergebnis nach nochmaligem Lautlesen:

Ich lass jetzt erstmal die man's.
Die wollen nicht weg.
Sei's drum, wenn sie den Text versauen.

Vielleicht in ein paar Tagen wird er sich fein(er) machen, aber im Moment gefällt er mir *genügend*

Danke.

klara


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