Die kleine Frau sucht das Glück und erfindet ein Tagebuch

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 17.08.2010, 19:39

Die kleine Frau sucht das Glück und erfindet ein Tagebuch

Erst muss man sterben. Dann kann man aufstehen.
Erst muss man sich die Nächte mit fremden Geschichten verderben, dann kann man Buch führen über die Tage.
Erst muss man stillhalten und dann kann man zum Leben sagen: Lauf!

Am Ende küsst die Nacht den Tag. Der hat nicht darum gebeten, aber geschehen lässt er es doch. Und ich öffne die Augen und denke: Das ist ja mein Leben, das sich da verlaufen hat, weil ich versäumt habe, es zu beschreiben.

Aber dann erfinde ich ein Buch für die Tage. Ich setze mich in die Mitte und das Leben darüber hinweg. Ich zerlege die Jahre in Tage und behaupte mein Leben in einem Heft.
In meinem Tagebuch habe ich Augen und Haare und Zähne, aber keinen Vater und kein Alter. Es gibt keinen Himmel, aber der ist immer blau. Und keine Gefühle, nur meine Heiterkeit mit der ich mich über die Dürre der mit dem Alltag Beladenen erhebe. Wenn mein Blick sie trifft, denken sie an Regen.
Dem Wetter können sie glauben, weil sie denken, dass es das gibt; Regen und Sonne und eine verhagelte Ernte. Schicksal, Bestimmung, die Halterungen mit denen sie ihr Leben begreifen. So laufen sie dem Leben hinterher.

Und das Leben schaut zu. Schaut zu mir auf. Mehr als mein Leben nieder zu schreiben, führe ich meine Tage auf.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 18.08.2010, 16:26, insgesamt 2-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 17.08.2010, 23:26

Das gefällt mir ungemein gut. Hat etwas von Sich-selbst-Erfinden.
Etwas Mühe hatte ich mit den "mit dem Alltag beladenen". Wenn ich es richtig verstehe, müsste es "mit dem Alltag Beladenen" heißen, also die mit dem Alltag beladenen Menschen. Ich nehme an, die weiteren Sätze mit "sie" als Subjekt beziehen sich auf diese mit dem Alltag Beladenen. Dann würde ich aber wirklich lieber "beladene Menschen" oder Mitmenschen o.ä. lesen; das subjektivierte Adjektiv ist zu schwach, um als SUbjekt die darauf folgenden Sätze zu tragen.

Der letzte Satz ist geradezu genial - Aufführen statt nieder schreiben. Toll formuliert.

Mit Grüßen
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Gerda

Beitragvon Gerda » 18.08.2010, 00:58

Liebe Xanthippe,

das gefällt auch mir.
Bei diesem Kurz-Prosa-Sahne-Stückchen handelt e sich um einen Text, der sich indirekt damit auseinandersetzt, ob man schreibt damit man etwas erlebt oder ob man Erlebtes aufschreibt. Jedenfalls drängt sich mir diese Leseart auf.
Und ergeht es nicht vielen Autoren (ich schließe mich ein) so, dass sie sich nur lebendig fühlen, wenn sie schreiben ... Der Schreib-Prozess an sich macht süchtig ... den Lebensdingen auf den Grund zu gehen. Dass man dabei dem Leben auch schon mal auf den Leim geht darf nicht verwundern.
Ich finde dir ist es auch besonders gelungen mit Klischees zu spielen, im dem du sie zwar benutzt, aber eine frsiche,unerwartete Wendung gleich hinterher schickst.

Beispiel:
Am Ende küsst die Nacht den Tag. Der hat nicht darum gebeten, aber geschehen lässt er es doch.


Also, Kompliment :daumen:

Liebe Grüße
Gerda

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 18.08.2010, 14:03

Liebe Xanthi,

Muss man leben, um zu schreiben? Schreibt man, um zu leben? Ist Schreiben leben? Ist Leben schreiben (für manche)?
So viele Fragen wirbeln auf, wenn ich deinen Text lese, das gefällt mir. Joyce Carol Oates sagte einmal, dass Schreiben einsam macht. Einen am Leben vorbeigehen lässt.

Stellenweise stehen mir zu viele Bücher im Text herum. ;-)

Die kleine Frau sucht das Glück und erfindet ein Tagebuch

Erst muss man sterben. Dann kann man aufstehen.
Erst muss man sich die Nächte mit fremden Geschichten verderben, dann kann man Buch führen über die Tage.
Erst muss man stillhalten und dann kann man zum Leben sagen: Lauf!

Am Ende küsst die Nacht den Tag. Der hat nicht darum gebeten, aber geschehen lässt er es doch. Und ich öffne die Augen und denke: Das ist ja mein Leben, das sich da verlaufen hat, weil ich versäumt habe, es zu beschreiben.
Das ist superschön!

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 18.08.2010, 16:13

Liebe Zefira, Gerda und Elsa,

vielen Dank für die schnellen Reaktionen. Du hast Recht, Zefira, die Beladenen gehören groß geschrieben. Danke.
Dir, Gerda, vielen Dank für das Kompliment.
und Dir, Elsa, danke für den Hinweis auf die sehr gehäuften Bücher, eines davon ist jetzt ein Heft geworden.
Euch allen recht herzlichen Dank

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leonie
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Beitragvon leonie » 18.08.2010, 16:18

Liebe Xanthi,

das ist schön und auf eine verspielte Weise umgesetzt, die ich sehr mag. Es verwischt das Schreiben und das Leben ineinander.

(Ich würde nur schreiben: Wenn mein Blick sie trifft. )

Sehr fein ist das!

Liebe Grüße

leonie

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 18.08.2010, 16:27

Liebe Leonie,

auch dir vielen Dank. Deinen Vorschlag habe ich schon umgesetzt.

Xanthi

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.08.2010, 17:48

Hallo, Xanthippe,
dieser Appell zur Einkehr bei sich selbst macht Lust, es der "kleinen Frau" gleichzutun!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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