eine Tagebuchnotiz, 6. Juli 2010

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 08.07.2010, 01:40

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Klara
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Beitragvon Klara » 09.07.2010, 08:05

Hallo Renée,
das habe ich mit Interesse gelesen - als das, was es ist: ein Tagebucheintrag.
Da kritisiert man eigentlich nicht dran rum, deshalb mache ich das auch nicht. Fehlende Stringenz, leicht ausgeleierte Spannungsbögen, Dialoge in die Irre, den-Leser-allein-Lassen etc. gehören sozusagen zum Genre zugunsten eines Fließens, eines assoziierenden Schreibens, eines Mit-sich-selbst-in-die-Vergewisserung gehen. Ich muss an Frieda Kahlo denken, deren fast (?) kindhafte Egozentrik eine beeindruckende, eine beklemmende, eine berührende Bildkraft geboren hat: Man will das nicht sehen, und man will das unbedingt sehen, das Leid, die Selbstbezogenheit, die - Kunst! (Hier in Berlin ist gerade eine Ausstellung zu sehen, zu der mich Kunstanalphabetin Glückes Geschick neulich geführt hatte.) Damit meine ich nicht, dass der Text voller Leid und Egozentrik ist - bitte nicht missverstehen! - sondern versuche, das Wesen eines Tagebuchs zu erfassen und stelle einfach mal in den Raum, dass Frieda Kahlos Bilder Tagebuchseiten sind.

Im Tagebuch: Zum großen Teil wiederholt man sich, stößt sozusagen mit sich selbst zusammen, beim Tagebuchschreiben, denn mankennt sich ja so gut - und möchte sich doch auf den Grund gehen! Sich auf die Schliche kommen - endlich mal-! Möchte sich sich selbst mitteilen, vielleicht versöhnen, doch man bleibt allein damit, ungeborgen, denn ein Tagebuch ist ein Tagebuch, und ein schreibender Mensch ist ein einsames Tier, und so verstehe ich auch die letzten Zeilen: als einsamkeitsgeborene Angst. Das offensiv Unlogische des gleichzeitigen Schmilzens und Gefrierens erschließt sich mir nur in einer Art empathischen (so hoffe ich) Mitfühlens, indem ich die Augen fast schließe, so dass das Gesehene verschwimmt, und nur noch der Teil des Leibs mich führt, in dem die Angst wohnt neben dem Hunger: der Magen.
Aber kann sein, dass das alles Projektion ist.
Grüße nach Paris!

PS Ich selbst, Tagebuchkommentar, habe aktuell vier Entschlüsse gefasst, die schlüssele ich hier jetzt nicht auf, aber außerdem mir etwas Wichtiges, womöglich Überlebensnotwendiges vorgenommen: Immer wieder den Blick zu richten, auf das, was ich habe/kann/liebe, - und nicht ständig das zu fokussieren, was ich nicht habe/kann/kriege. Denn man kommt doch immer wieder, bewusst oder unbewusst, auch als Bibelanalphabet, hierauf zurück: Wie kann ein einzelner warm werden?

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noel
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Beitragvon noel » 09.07.2010, 18:28

nach dem ersten lesen
--> ergriffen
ergriffen von der darstellung des aus der zeit gefallen seins,
des gegensatzes der glaubenden "jugend" zum analytischen,
desillusionierten alters...
des nicht ankommen in sprache, weil die konnotation schon
jahrzehnte geprägt ist....

werde es noch einmal lesen
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Max

Beitragvon Max » 10.07.2010, 23:38

Liebe Renée,

mir geht es da ein wenig wie Klara.
Die Form eines Tagebuchs ist ja durchaus auch literarishc nutzbar und es gibt perfekte Tagebücher wie das Frischs, das dennoch literarisch ist und einem andereseits das gefühl gibt, man erführe etwas über sein Leben.

Der Tagebuchausschnitt hier zieht mich an und macht mich neugierig und gibt manchmal ein wenig zu viel preis, als das sich ihn literarisch kommentieren mag - so bleibt mir nur zu sagen, dass ich ihn sehr interessiert und ja, ähnlöich wie noel, ergriffen gelesen habe.
Nur eine ganz vorsichtige Bermkung:

Die Vorladung zur psychiatrischen Expertise


würde ich auf deutsch nicht sagen ..
Liebe Grüße
Max

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 11.07.2010, 07:50

Guten Morgen, - Ich stelle eben fest, dass meine Antwort - je mehr ich fortshreite - nun euch alle drei betrifft, also Klara, Noël und Max. Vielen Dank für eure Kommentare, und vielleicht gibt es noch eine Reaktion auf meine Antwort -- würde mich sehr freuen!!

hier also der Anfang:
Liebe Klara, deine Anmerkungen verstehe ich vielleicht nicht ganz - wenn du mir sagen willst, dass diese Tagebuchnotiz etwas Unliterarisches hat, etwas Unfertiges, Unausgegorenes, kann ich diese Kritik durchaus annehmen. Ich habe diesen "Eintrag" aus zwei Gründen vorgenommen: weil ich die Augenblicke jenes recht besonderen Tages, mit seinen sehr widersprüchlichen Empfindungen, dem Vergessen entreißen wollte und weil ich mich mit dem künstlerischen Schaffen auseinandersetzen wollte. Das Leiden, das du dargestellt siehst, kann ich nicht entfernen. Natürlich stellt sich die Frage des Sich-Zur-Schau-Stellens. Wenn ich dich richtig verstehe, siehst du bei Frida Kahlo eine künstlerische Verarbeitung dieser Aspekte - (Verarbeitung, die du bei mir vermisst?) und stellst sie mir als Modell vor ...
Ich habe meinen Eintrag jetzt etwas gestrafft, will ihn noch weiter bearbeiten. Mir scheint es wichtig, "ehrlich" über gesundheits- und Geldfragen zu sprechen. Ich würde das sogar (ich formuliere das zu meinem Erstaunen jetzt fast "militant") als gesellschaftlich und politisch motivierte "Ehrlichkeit" (oder Preisgabe? - Preis'angabe') betrachten. Emigration hat Folgen, wenn sie nicht geplant, oder in ein Schema passend erfolgt. Lebensläufe, die sich nicht, oder zu spät in geordnete Bahnen einfügen gibt es vermutlich viele, und ich sehe meinen nur als kleine Neben-Eruption einer Epoche, die solche hervorgebracht hat.
Die Frage der Sprache als --- Ankunft --- (man könnte hier die Assoziationsketten lange und ausführlich frei schwingen lassen) passt ebenfalls in die gesellschaftliche, politische Frage (die m.A.n. auch die Frage der Kunst ist). Die Gesellschaft besetzt zur Zeit wieder alles, was besetzt werden kann: auch die Sprache. Es war mir wichtig, darzustellen, wie es aus der "Asthetik des Widerstands" heraus zu einem echten Gespräch kommen konnte, aber erst nach Formulierung jenes Widerstands, und, dieser Zusammenhang geht mir erst jetzt auf, nach Erfragung einer Biographie, die meiner zuvor erwähnten diametral entgegengesetzt ist.
liebe Grüße
Renée

Klara
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Beitragvon Klara » 11.07.2010, 09:15

Hallo Renée,
deine Anmerkungen verstehe ich vielleicht nicht ganz - wenn du mir sagen willst, dass diese Tagebuchnotiz etwas Unliterarisches hat

Nein, nein! Die Frage nach der Literarizität interessiert mich nicht, sie ist meistens eine akademische, die am Text (und am Leser) vorbeigeht, für eine Antwort wäre ich im Übrigen gar nicht kompetent.

Das Leiden, das du dargestellt siehst, kann ich nicht entfernen.
Das solltest du auch auf keinen Fall tun! Weit entfernt davon.

Es ist einfach so, dass dem Text, wenn ich ihn NICHT als TAgebucheintrag läse, für meine Auffassung etwas fehlte - oder er hätte etwas zu viel. Er nähme mich nicht genug "an der Hand" - und zugleich wäre ich zu sehr beim Schreiber, weil ja eine Identität zwischen Schreiberin und Text-Ich nahegelegt wird. Der Text, als Nicht-Tagebuch-Eintrag, wäre mir zu wenig stringent im Hinblick auf den Fokus (Kunst!), die Personen zu wenig ausgearbeitet (ich möchte sie kennenlernen! möchte wissen, wie sie aussehen, warum sie so merkwürdig reden), die Dialoge zum Teil so kryptisch, dass es nicht mehr interessant, sondern überheblich wirkt. Weil man das dann einfach nicht verstehen kann, wenn man nicht, wie der Tagebuchschreiber, sich in genau derselben Situation wie dieser befunden hätte, die Gerüche dazu, die Farben, das Wetter, die Blicke hätte... Verstehst du? Es ist eine Introspektion, die sich nährt an der äußeren Wahrnehmung, so gesehen ein Startpunkt, von dem man LOSGEHEN könnte, um eine - nichttagebuchartige - Geschichte zu schreiben. Aber für eine solche Geschichte bräuchte ich mehr als subjektiv punktuell beschriebenes Erleben bzw Grübeln.

Vielleicht ist es auch ein Brief, das geht auch :)

Natürlich stellt sich die Frage des Sich-Zur-Schau-Stellens. Wenn ich dich richtig verstehe, siehst du bei Frida Kahlo eine künstlerische Verarbeitung dieser Aspekte - (Verarbeitung, die du bei mir vermisst?) und stellst sie mir als Modell vor ...

Ich persönlich empfinde hier nicht zu viel Zurschaustellung, das ist ja immer auch Geschmackssache, oft auch ein eFrage der Unterstellung. Was ich bei Frida Kahlo sehe (die übrigens auch Tagebuch schriebe - und Tagebuch malte), weiß ich noch nicht, ich kenne sie noch kaum, finde aber gerade diesen Aspekt - Person verschmilzt mit Werk, zugleich spielt das Leid mit der Extrovertierung, setzt auf Außenwirkung... - ziemlich spannend, beunruhigend und zum Teil befremdlich. (Vielleicht ist das eine weibliche Art der Kunst, des Kunstschaffens?) Der Schutz scheint zu fehlen - doch das scheint wohl nur so, oder ist für die Bilder am Ende gar nicht relevant, und etwas Anderes als die Bilder gehen mich ja nichts an, auch wenn jedes Bild "ich", "aua", "lieb mich" etc. schreit. So laut, dass man erstaunt ist, dass es ein Bild ist. Frida Kahlo erzählt, so wirkt es, mit ihren Bildern Geschichten, oder auch nur eine Geschichte, die entschlüsselt werden will - oder auch nicht. Sie hat ihr Leben lang körperlich und seelisch gelitten, so wird überliefert, so legen ihre Bilder nahe, und auch bei ihr ist Gesundheit - oder besser Krankheit - ein zentrales Thema. Sie malte ihre Ärzte, ihre Krankheiten, ihre Verletzungen, ihre Ängste. Und auch sie hatte Probleme, ihre Krankheiten zu finanzieren, war in gewisser Weise auch finanziell abhängig von Diego Rivera, ein kompliziertes Abkommen, bei dem er ihre Arztrechnungen bezahlte, ohne dass sie ihre Würde verlor, vermutlich. Las ich. Ich habe die Malerin hier nicht ins Spiel gebracht, weil ich sie dir als Modell vorstellen wollte (so etwas läge mir fern), sondern weil deine Art zu schreiben bei diesem Text mich daran erinnert hat. Es ist ein (ergebnis) offenes Kommentieren, was ich versuche, inspiriert von deinem - offenen - Schreiben. Es war eher anerkennend gemeint: die Fähigkeit eines Textes, eines Bildes zu berühren und zu beunruhigen.

Der Text streift all die Themen - Gesundheit, Geld, Emigration, Sprachenhüpfen, Freundschaft, Gesellschaft, Kunst. Wie ein Fächer, den man gegen die heiße Luft benutzt. Man sieht die Einzelteile aber eben nich tgenau, weil es fächelt, und weil es so viel ist. Zu viel wahrscheinlich - wenn es eben kein Tagebucheintrag wäre :)

Es war mir wichtig, darzustellen, wie es aus der "Asthetik des Widerstands" heraus zu einem echten Gespräch kommen konnte, aber erst nach Formulierung jenes Widerstands, und, dieser Zusammenhang geht mir erst jetzt auf, nach Erfragung einer Biographie, die meiner zuvor erwähnten diametral entgegengesetzt ist.

Hier verstehe ich leider gar nicht, was du sagen willst - und würde es gern verstehen. Muss ich dafür Peter Weiss gelesen haben?

Herzlich
klara

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.07.2010, 07:21

Hallo Renée,

schöne und interessante Darstellung eines Tagesablaufs, der freilich etwas Tagebuchhaftes völlig abgeht. Dafür wird viel zu Vieles mitgeteilt und erklärt, was in einem Tagebuch, das sich an die Schreiberin richtet, völlig überflüssig wäre. Der Text zielt eindeutig auf eine Leserschaft.

Was mir im ersten Teil fehlt, ist ein Hinweis darauf, weshalb die Erzählerin glaubt, dass sie ein "psychiatrisch relevantes Profil" hat. Auf welchen biografischen Fakten sollte eine solche Einschätzung aufbauen? Und wenn es um Geld geht: Wäre da nicht eine gewisse Strategie angesagt und verzeihlich bis hin zu einer Simulation à la Felix Krull? Es ist sehr sympathisch, dass die Berichterstatterin sich dazu nicht hinreißen lässt - dennoch muss Claudine Rachmaninov-von Hagenfels ja irgendwelche Hoffnungen enttäuscht haben. Welche waren es? Der Sarkasmus - "ehrlich währt am längsten" - genügt mir nicht.

In der Beschreibung der Vernissage könnte für mein Bedürfnis noch sehr viel mehr Säure verspritzt werden - so unumgänglich solche Veranstaltungen sind, so lächerlich sind sie doch auch - die Erzählerin arbeitet diese Ambivalenz gut heraus.

Wenn Du noch an weitere Striche denkst, würde ich die Begegnung mit dem Ex-Lebensgefährten vorschlagen. Das ist eine ganz andere Geschichte - und weder zum Rententermin noch zur Kunstdebatte trägt diese Tasse Kaffee irgendwas bei.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Lenamarie

Beitragvon Lenamarie » 06.08.2010, 18:06

Liebe Renée,

ich bin noch ganz neu im Forum, aber dein Text hat mich so beeindruckt, dass ich die Hürden mit Passwörtern ect. auf mich genommen habe. Ich liebe diesen reflektiven, erzählerischen Stil, die genaue Beobachtung usw. Das feine Portrait der Umgebung usw. Vielleicht hat mich auch ein wenig das frz. Flair imponiert, gebe ich zu. Ich bin von der mütterlichen Seite her Französin.

Ich bin gespannt auf weitere Texte!
Herzliche Grüße Lenamarie


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