Krumme Hunde

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.06.2010, 21:17

Krumme Hunde

Nemo me impune lacessit

Vorbemerkung der Redaktion: Vor kurzem konnten wir berichten, dass Holger Grunow, der Mann, der im Alter von 80 Jahren den Stararchitekten Lars Hulin in einem Verlies seines Hauses verdursten ließ, sich in der Justizvollzugsanstalt von S., in der er seit drei Jahren einsaß, erschossen hat. Die Polizei bemüht sich um Aufklärung, wie er in den Besitz einer polizeilichen Dienstwaffe (Sig Sauer P250) gelangen konnte. Wenige Stunden vor seinem Tod empfing Grunow unseren Mitarbeiter zu einem Gespräch, das wir erst jetzt in zusammengefasster Form veröffentlichen, weil wir die staatsanwaltliche Genehmigung abzuwarten gehalten waren.

Sie fragen mich, warum ich meinen Lebensabend hier verbringe. Gute Frage! Aber warum sollte ich ihn woanders verbringen? Hier werde ich gut verpflegt, habe immer ein Dach überm Kopf, habe eine warme Decke und kein allzu weiches Bett, aber weiche Betten sind eh ungesund. Natürlich könnte ich mich darauf berufen, dass ich woanders gar nicht leben kann. Aber das wäre unredlich, denn als ich tat, was ich getan habe, war das meine freie Wahl. Ich näherte mich dem 80. Lebensjahr, meine Augen wurden immer schlechter, ich lebte allein, versorgte mich selbst, meine Hände bluteten nach dem Kartoffelschälen ... Es musste sich etwas ändern. Da habe ich meine Wahl getroffen. Sie können das nicht verstehen? Nun, sind Sie schon mal in einer dieser Kasernen der Todgeweihten gewesen, die sich Seniorenresidenzen, Lilien- oder Orchideenhof nennen – gerade als ob es schon zu Lebzeiten nach Begräbnis riechen müsste? Nein, nein, das wäre für mich nichts gewesen, und ich hatte ja auch noch etwas zu erledigen.

Da war immer noch Hulin, der Mann, der mit seiner Kaltschnäuzigkeit, seinem Reichtum und seinem Charme mein Leben ruiniert hatte. Er hatte mich aus dem Bau der Oper von S. gekegelt, und dabei hatte ich diesen Auftrag für uns an Land gezogen - ein Bruch in meiner Karriere, den ich nie habe kitten können. Er hatte sich in Interviews über mich lustig gemacht, mich öffentlich als Neidhammel verspottet, und schließlich hat er mir ... Carlotta! Carlotta! Aber was soll das, ich will Ihnen hier nichts vorheulen. Es ist alles so gekommen, wie es kommen sollte, ich habe nichts zu bereuen, und die Details sind Ihnen übrigens sattsam bekannt. Das einzige, was ich bedaure, ist, dass ich mit einer etwas zu idyllischen Vorstellung hierher gekommen bin. Hier herrschen harte, um nicht zu sagen: brutale Verhältnisse, Drogen, Sex, als Suizide getarnte Morde - ich habe mich trotz meines Alters ganz schön durchbeißen müssen, das kann ich Ihnen sagen, und glauben Sie nur nicht, das geht, ohne dass man sich Feinde macht!

Sehen Sie dies Tattoo? Das habe ich mir nicht freiwillig stechen lassen, Slawa, der hier der Boss ist, hat es mir aufgezwungen als Zeichen dafür, dass ich einer der Seinen bin. Was es bedeutet? Ein Fuß zertritt eine Schlange, die sich verzweifelt windet und ihre Zähne in die Ferse bohrt ... Hier müssen Sie Hammer oder Amboss sein, sie kommen nicht durch, ohne sich für eine Seite zu entscheiden, die russische oder die türkische. Ich habe mich für die russische entschieden, irgendwie sind die Russen doch immer noch ein wenig mehr Europäer als die Türken, denen ich keinesfalls Unrecht tun will – aber die Scharia, nun, es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Die Russen beschützen mich jetzt, und es sind gute Leute darunter, ich habe mir Gogols „Tote Seelen“ aus der Bibliothek entliehen. Timofej und ich lesen es mit großem Vergnügen, er sagt, hätte er dies Buch früher gekannt, er hätte den Bruch nie begangen. Ach, ich liebe ihn! Ist er Ihnen auf dem Hof nicht aufgefallen? Ein Riese, er ragt aus jeder Gruppe hervor, ein wunderbarer Mann, ein Mensch wie ein Kind, bildsam wie Wachs und von einer kolossalischen Kraft. Allein seinetwegen lohnt sich’s, dass ich hier bin und nicht unter vertrockneten Beamtenwitwen und poetasternden Pensionären alt werden muss, die mich mit ihrem Dünkel und ihrer Bigotterie in den Wahnsinn getrieben hätten!

Wie ich mein Urteil aufgenommen habe? Mein strahlendes Gesicht hat doch auch Ihre Zeitung gebracht! Das Donnerwort „lebenslänglich“ wird zu einem Säuseln, wenn man über 80 ist. Drei Jahre habe ich ja noch in der sogenannten Freiheit verbracht, habe mir beim Kartoffelschälen die Hände zerschnitten und habe mich an der Vorstellung ergötzt, dass Hulin unten in meinem Keller vermodert, in dem Verlies, das ich eigens für ihn gegraben und in das seine unersättliche Gier nach immer edleren und selteneren Zigarren ihn gelockt hatte. Ich hatte ihm von mehreren Kisten Krummer Hunde aus Havanna erzählt, die der Máximo Líder eigenhändig gedreht und geflochten hat ... Lars hatte nicht nur meine Karriere beschädigt, er hatte mein Lebensglück zerstört und hatte Carlotta Dinge angetan, die ich nicht glauben konnte, als sie sie mir gestand, ich hielt sie für eine Ausgeburt ihrer von Drogen umnebelten Phantasie. Erst als sie sich mit einer Überdosis umbrachte vor Scham und Entsetzen über sich selbst, begriff ich, dass alles wahr gewesen war ... Nein, nein! Verzeihen Sie, ich darf nicht daran denken. Wissen Sie, ich habe hier Vieles gesehen, wovon ich mir vorher nicht hätte träumen lassen – Folter, Entwürdigung, unsägliche Menschenverachtung – und das unter den Augen des Gesetzes – aber es hat mich nicht umgestimmt, ich stehe zu meiner Tat und gehöre zu den wenigen, die noch kein einziges Mal behauptet haben, sie wären zu unrecht hier.

Moment ... Es ist besser, Sie gehen jetzt. Das sind Slawas Schritte. Er geht ein wenig schwer seit einem Kniedurchschuss. Er legt Wert darauf, mit mir allein zu sein, wenn er mich beehrt. Was er von mir will? Das werde ich gleich wissen. Meistens braucht er meinen Rat. Und nebenher nimmt er ein bisschen Deutschunterricht. Er tut sich schwer mit den Artikeln. Der Löffel, die Gabel, das Messer ... Begründen Sie das mal! Vielen Dank für Ihren Besuch! Und schreiben Sie: Hulins Mörder ist ein glücklicher Mann!

(Änderung: Castro in "der Máximo Líder" geändert, "Krummer Hunde" kursiv gesetzt)
Zuletzt geändert von Quoth am 09.06.2010, 22:24, insgesamt 1-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 09.06.2010, 17:32

Hallo Quoth,

nun muss ich an Poe denken. Das Fass Amontillado. Leider ist mir die Geschichte, außer dem Einmauern und dem Rachegedanken wegen zugefügter Kränkungen, nicht mehr präsent, sodass ich weitere Parallelen als die angeführten ziehen könnte. Ich denke, ich werde die Poes Geschichte nochmals lesen müssen, denn ich vermute, dass darin auch ein Schlüssel zum tieferen Verständnis deines Textes liegt.

Jedenfalls ist er gut geschrieben und sehr interessant. Auffallend ist das Tatoo. Die Schlange, der der Kopf zertreten wird, während sie dem todbringenden Fuß in die Ferse beisst. Ein biblisches Symbol aus der Genesis. Das muss ja was bedeuten.

Du siehst, ich brauche noch ein bisschen für den Text. Aber ich melde mich wieder.

Gruß

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 09.06.2010, 18:03

... so, jetzt habe ich Poes Geschichte nochmals gelesen und einige Dinge werden klarer. Einmal das vorangestellte lateinische Zitat. Das Motto aus Montresors Wappen "Niemand kränkt mich ungestraft". Ebenso das Schlangentatoo - ebenfalls aus besagtem Wappen.

Neben den Parallelen gibt es aber auch einen auffallenden Unterschied. Montresor sagt, dass Rache nur dann wirklich gelingt, wenn der Racheakt unbestraft bleibt. Ungestraft strafen, das wäre Vollkommeneheit. Dem ist hier aber nicht so.
Es handelt sich also nicht nur um eine simple Addaption des Textes, sonder um eine Weiterführung. Die Motive werden bei deinem Text klarer. Was bei Poe nur in Interpratationen von Lesern zutage tritt, wird hier direkt erzählt. Die Demütigung bekommt ein Gesicht - das einer Frau. Und auch die Tat an sich erschliesst sich, würde sich Grunow doch in einem Seniorenheim wie lebendig begraben fühlen.

Aber da ist noch mehr. Hat sich Grunow wirklich selbst erschossen? Hat Slawa seine Finger da im Spiel?

Ja, ich glaube der Text wird mich noch eine Zeit lang beschäftigen.

Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.06.2010, 22:28

Vielen Dank für freundliche Aufnahme, Sam. Vor allem auch für die Anerkennung, dass es nicht nur eine Paraphrase, sondern eine Fortentwicklung der poe'schen Geschichte ist.
Gruß
Quoth
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Beitragvon Mnemosyne » 14.06.2010, 21:40

Hallo Quoth,
ohne mit Poe besonders vertraut zu sein, kann sagen, dass mich dieser Text sehr anspricht. Was Sams Frage angeht, war mein Eindruck, dass es sich um einen der als Suizid getarnten Morde handelt - das Lyrich scheint ja mit seiner Lage nicht unzufrieden zu sein.
Möglich - und durchaus plausibel - ist natürlich auch, dass es, dem Wunsch nach "ungestrafter Strafe" folgend, versucht, seinen Zustand nicht als Strafe aufzufassen und zu idealisieren, was letztlich mißlingt, woran das Lyrich zerbricht.
Liebe Grüße
Merlin

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Beitragvon Quoth » 15.06.2010, 13:35

Freut mich, dass der Text Dich angesprochen hat, Mnemosyne. Die Prosa hat es im schnelllebigen Netz ja schwer ...
Deine Interpretation der Umdeutung der Strafe gefällt mir gut, das geht zum Kern der Sache.
Als dritte Möglichkeit wäre vielleicht noch der erzwungene Selbstmord zu erwägen, vergleichbar dem des Seneca.
Mit "Wunsch nach ungestrafter Strafe" meintest Du sicherlich "ungestrafter Rache".

Gruß
Quoth
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Beitragvon Mnemosyne » 15.06.2010, 13:56

Hallo Quoth,
nein, ich bezog mich auf Sams Satz "Ungestraft strafen, das wäre Vollkommenheit.", der aus der Perspektive des Täters gedacht ist. Aus meiner Perspektive handelt es sich natürlich, wie du sagst, um Rache.
Gruß
Merlin


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