Jakob

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 25.04.2010, 19:48

Jakob

Pfeifen, Buttons und Transparente! Da weiß man doch gleich, wo man ist! Alt und Jung haben sich vereint, um eine Menschenkette auf dem Elbdeich zu bilden, und picknicken. Zur vereinbarten Zeit fassen sie sich bei den Händen oder verbinden einander durch Shawls oder Spruchbänder. Auch der Zweifelnde wird mitgerissen von der großen Familie der Protestierenden, die ihn einfach aufnimmt. Der kleine Jakob hat die Schnauze voll und verpisst sich an den Schafzaun. „Jakob, komm zurück!“ Der Ruf pflanzt sich fort durch die Kette, aber Jakob denkt gar nicht daran, er verstopft sich die Ohren mit den Fingern und marschiert trotzig weiter. Flugzeuge überfliegen uns, wir wölben die verjüngte Brust ihnen entgegen, Frische und Sonne prickeln im Gesicht, ein leises Grauen geht aus vom vermessenen düsteren Kraftklotz zur rechten, von der schneeweißen Kuppel zur Linken, doch der Genuss würziger Elbluft hilft darüber hinweg. Die vertraute Hand in meiner rechten, die fremde in meiner linken, die fröhliche Zuversicht, etwas zu bewirken, das bunte Containerschiff, das vorbeituckert, das Geschwätz des Rohrspatzen im noch rostbraunen Schilf ... Die Hände lösen sich von einander, zurück zum Bus, wo die gelockte Jugend einen Käfer zähmt und ein Kopf sich zwischen meine Hosenbeine bohrt: Jakob! „Was machst du denn hier?“, frage ich ihn. „Ich bin ein Maulwurf!“
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Nicole

Beitragvon Nicole » 26.04.2010, 16:26

Hallo Quoth,

wir hatten noch nicht das Vergnügen!

Mein Leseeindruck nach dem ersten Überfliegen: "was ist das?!?!"
Erst weiß "man", dann fassen "sie" sich an den Händen, dann verpisst (das ist eine grauselige Wortwahl) sich Jakob, und der Ruf pflanzt sich durch die Kette fort , dann wölben "wir" die Brust, "ich" habe eine Hand links, eine rechts, dann lösen sich die Hände voneinander, dann zähmt die gelockte Jugend einen Käfer und am Ende ist Jakob ein Maulwurf?!?!?
Mir ist nicht klar, ob das Absicht ist (wenn ja, gefällt es mir nicht), aber durch die Perspektivewechsel wird mir schwindelig... Und alles in allem erschließt sich mir der Text absolut nicht. Aber vielleicht stehe ich auch einfach nur mächtig auf dem Schlauch...

Lieben Gruß, Nicole

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.04.2010, 21:31

Lieber Quoth,

ich hatte beim Lesen ähnliche Orientierungsschwierigkeiten wie Nicole, trotzdem war mein Leseeindruck diffus positiv - irgendwas "warmes" (wie albern das klingt .-) ) kam bei mir an (wenn ich auch manche sprachliche Formulierung wie die gelockte Jugend auch nicht gelungen finde und die auch teilweise Unsympathie bei mir erzeugen), ich glaube, es ist die eingenommene Perspektive oder der Versuch davon, die/der mir gefällt: die Demonstration wird tatsächlich als zusammenschweißend, spannend, ermutigend beschrieben, und in dieser Szenerie dann doch eben, ein "Jakob" - irgendwie bricht das diese typische Haltung von Demonstranten, die ja oft dann krampfhaft gruppendynamisch und polemisch wird (auch wenn sie Gutes will) und Jakob ist eben in dieser Bewegung aufgehoben, weil er nicht muss - (ich lese ein Kind), gelassen wird. Er scheint deshalb (weil er auch am Bus ankommt) die Strecke auf seine Art (unterirdisch meint hier vielleicht eher in den Schächten zwischen dem Menschenband) mitgehen zu können, mit seinem anderen Willen. Das gefällt mir - oder sagen wir, das gefällt mir potentiell: durch die teilweise für mich noch problematischen Formulierungen könnte ich das ganze auch als noch überhöhtere Verklärung lesen als die von mir beschriebene einfacher gestrickte polemische Demonstrationshaltung.

Allerdings kann das alles auch ganz anders gemeint sein ... und ich habe mich ganz fehlleiten lassen.

liebe Grüße,
Lisa
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Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Klara
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Beitragvon Klara » 26.04.2010, 21:40

also, ich find das schön - und versteh das ungefähr so:

http://www.freitag.de/community/blogs/j ... =katharina

;)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 27.04.2010, 21:45

Hallo, Nicole, Lisa und Klara,
das Vagieren der Perspektiven zwischen man, ich und wir ist kennzeichnend für größere gruppendynamische Prozesse, denen sich hier nur der kleine Jakob entgegenstemmt. Ich wollte erst schreiben, wie er in hohem Bogen durch den Schafzaun strullte, dann erschien mir die "grauselige Wortwahl" (Nicole) angemessener. Ja, Jakob ist der Antagonist des Ereignisses, das Klara zutreffend lokalisiert hat, er ist gleichsam der Fluchtpunkt meines eigenen hier vorübergehend außer Kraft gesetzten Eigensinns, der nur als Maulwurf überlebt.
Hilfreich vielleicht auch dieser Link:
http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotos ... 197-2.html
Ganz oben links bei dem kleinen roten Häuschen: Jakob!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.04.2010, 10:50

Lieber Quoth (und Klara),

Jakob habe ich natürlich nicht entdecken können .-)

den Verweis auf diese unheimlich große Bewegung habe ich schon auch verstanden (hier in Berlin könnte man das gar nicht nicht mitbekommen), ich finde allerdings, dass der Text auch in Bezug auf ähnliche Demonstrationen etc. wirken kann und fand es daher nicht wichtig, den Bezug herzustellen. Meine Textschwierigkeiten hatten damit ja auch nichts zu tun.
Immerhin scheine ich den Text dann ja verstanden zu haben :-). Was sagst du zu den von mir sprachlichen Problematisierungen, Quod? Kannst du sie nachvollziehen?

liebe Grüße,
Lisa
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 28.04.2010, 21:56

Deine sprachlichen Problematisierungen könnte ich leichter nachvollziehen, liebe Lisa, wenn sie etwas entschiedener wären, unter weniger Vorbehalten stünden, sich nicht immer wieder relativierten. Wenn etwas "diffus Warmes" bei Dir angekommen ist, so wird das schon seine Gründe haben, und eine erfahrene Leserin wie Du kann von einem Text gar nicht fehlgeleitet werden. Wie er "gemeint" ist, scheint mir völlig gleichgültig - was er aussagt, ist entscheidend. Auch das Überhöhende und Verklärende ist gut geortet und löst bei mir keinerlei Befremden aus. Nein, es war wirklich wie das Aufgenommenwerden in eine große Familie, und dazu trug Jakob, trugen die vielen anderen Kinder bei. Die lockige Jugend halte bitte meinem sich lichtenden Haupthaar zugute - blanker Neid!
Herzlich grüßt - nicht Quod, sondern - Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.04.2010, 21:04

Lieber Quoth,

entschuldige bitte die falsche Anrede, obwohl das doch auch ein hübscher Name wäre .-). Also schwarz-weiß-Urteile sind nicht so mein Ding, das stimmt schon, aber dem, was bei mir ankommt, stünde eine Kürzung um das "diffus", schon nicht schlecht - meiner Meinung nach ist Ausdifferenzierung nicht gleich unter Vorbehalt. Allerdings ist es mir jetzt auch nicht konkret so wichtig, dass du hier irgendwas annimmst oder aufgreifst, ich wollte nur nochmal nachfragen, ob meine Anmerkungen überhaupt angekommen sind.
Das Neidargument lass ich natürlich zählen .-)

liebe Grüße,
Lisa
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 30.04.2010, 13:03

Hallo, Lisa,
ich wollte auf keinen Fall für diese Veranstaltung nachträglich werben, damit wäre ich dann womöglich bei der "krampfhaften Gruppendynamik und Polemik" gelandet, vor der Du warnst. Deshalb das "Diffuse".
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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