fotografisches gedächtnis

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9473
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 14.04.2010, 19:22





so erinner ich mich: wie ein mäuschen unter blätter huscht
schnurrend sah ich ihm nach, diesem weideweg deiner lippen




Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Max

Beitragvon Max » 16.04.2010, 21:12

Liebe Flora,

bei deisem Text bin ich nun schon zum dritten Mal. Ich stehe ihm etwas zwiespältig gegenüber. Es gibt diese absolut schöne Passage


diesem weideweg deiner lippen


für die sich das Gedicht schon lohnt. Das ist originell, das habe ich noch nie gelesen und das gibt mir ein Bild.

Den Rest des Bildes bekomme ich aber nicht so richtig hin. Ein ''Mäuschen, das unter die Blätter huscht'' sieht bei mir gar niemandem mehr nach, sondern sieht zu, dass es möglichst schnell verschwindet :-). Schon gar nicht schnurrt es - macht das nicht eher die Katze, die sich schon auf Futter freut? ... Aber "wie einem Mäuschen ... " kann es auch nicht heißen, denn dann würde das Mäuschen zum Ende zum Weideweg, ein echtes Wunder ;-).

Du siehst, ich puzzel grade hilflos an Deinem Bild ...

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 16.04.2010, 21:21

Hallo Max,

also für mich las es sich so: Die erste Zeile beschreibt das Wie des Erinnerns; die zweite, davon abgesetzt, an was sich erinnert wird.

Hallo Flora,

insofern komme ich mit der ersten Zeile auch gut klar, die zweite bleibt mir allerdings auch verschlossen :confused:

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Max

Beitragvon Max » 16.04.2010, 21:39

Hai Ferdi,

oh, das ist eine Variante, die ich wirklich nicht gesehen habe (jaja, ich weiß, das ist keine Entschuldigung, beeim Schach verliert man daurch immer die Partien ;-) ).

Merci, so geht es zumindest eher auf.

Liebe Grüße
Max

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.04.2010, 21:41

Liebe Flora,

dieser kurze poetische Text gibt für mich folgendes Bild: das Lich spaltet sich in Maus, Katze und Auge der Kamera. Das Lich sieht den Weide(n)weg, das Huschen der Maus, die sich vor dem zufriedenen, aufgeregten Schnurren der Katze versteckt (in Deckung geht), es raschelt im (Stroh). Der Weideweg ist die Verdichtung der Photographie.

Natürlich ist das eine angestrengte Decodierung deines dichten Textes.

ich mag ihn sehr ... Aber sag mir bitte, ob Maus und Katze (bzw umgekehrt) von dir so intendiert waren?

liebe Grüße

Renée

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 16.04.2010, 22:03

Hallo,

ich las den Text zum einen ähnlich wie ferdi (wobei sich das wie und das was tendentiell sogar noch vermischen (so wie Farben nebeneinander sich ja auch beeinflussen und nicht genau gleich bleiben). Zugleich ist die Spaltung, die ich auch sehe (Renee, deine Erklärung habe ich im entscheidenden Zusammenfügen noch nicht verstanden), bei mir ambivalent. Katze und Maus agieren ja gefährlich zusammen, aber trotz der Gefahr ist das ganze in einem angenommenem Sinne friedlich (der schnurrende Jäger, der sich in seine Beute verliebt, und sie dennoch fressen würde - irgendwie liegt darin für mich das geheimnis der Erinnerungskunst (man könnte auch von Liebe sprechen). (weshalb ich auch mit den letzten worten: diesem weideweg deiner Lippen bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Probleme habe, weil ich hier das sehe, worauf sich die vorherigen Beschreibungen beziehen: das konkrete sinnliche, emotionale Erlebnis.
ich finde das jedenfalls schön, dass der Text auf "irgendeine" geheimnisvolle Art Erinnerung notwendig mit einem Liebesblick verbindet - zumindest für mich .-)
Einzig den Titel konnte ich für mich nicht anwenden auf den Text - klingt auch so kühl. Er verweist wahrscheinlich auf den ursprünglichen Anlass zum Text und geht in Renees Richtung dann noch konkreter auf die Medienebene, um dann den intendierten Prozess zu beschreiben, aber ich krieg das nicht zusammen.

Wieder ein sehr seltsam guter Text für mich...
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 16.04.2010, 22:16

Liebe Lisa,

mit dem Titel sprichst Du etwas an, das mit nun schon zweimal durchgerutscht ist.

Bei meiner ersten Interpretation konnte ich ihn gar nicht recht verstehen - da habe ich ja auch den Text nicht verstanden - aber auch nach Eurer Interpretation finde ich den Titel relativ fern vom Text. Hm, vielleicht könnte Fräulein flora etwas dazu sagen?

Liebe Grüße
Max

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.04.2010, 22:31

eine Augenweide

das photographierende Auge

der Weideweg

sich weiden an
(den Lippen, am Weide'n'weg)
das sind meine Assoziationen

nur ganz kurz

lG
Renée

Max

Beitragvon Max » 16.04.2010, 22:35

Ok,

der Augenweideweg überzeugt mich :-).

ich gebe mich geschlagen ...

Danke fürs Erklären!

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9473
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 17.04.2010, 10:11

Max hat geschrieben:Hm, vielleicht könnte Fräulein flora etwas dazu sagen?

Also dann meldet sich das Fräulein Flora mal zu Wort. ;-) Ich habe mich gestern sehr über eure Kommentare und wie es sich entwickelt hat gefreut.

Max hat geschrieben:Es gibt diese absolut schöne Passage


diesem weideweg deiner lippen


für die sich das Gedicht schon lohnt.

Danke, das ist schön, weil es mir auch so geht und dieser Gedanke/Blick auch der Ausgangspunkt des Gedichtes war.

Zum Verhältnis der ersten zur zweiten Zeile haben ferdi und auch Lisa ja schon geschrieben.
Lisa hat geschrieben:(wobei sich das wie und das was tendentiell sogar noch vermischen (so wie Farben nebeneinander sich ja auch beeinflussen und nicht genau gleich bleiben).

- irgendwie liegt darin für mich das geheimnis der Erinnerungskunst (man könnte auch von Liebe sprechen)
weil ich hier das sehe, worauf sich die vorherigen Beschreibungen beziehen: das konkrete sinnliche, emotionale Erlebnis.

ich finde das jedenfalls schön, dass der Text auf "irgendeine" geheimnisvolle Art Erinnerung notwendig mit einem Liebesblick verbindet - zumindest für mich .-)
Das ist ganz wunderbar, dass das so ankommt, und ich bin froh, dass ich mich mit meinem Erklären zurückgehalten habe, denn so hätte ich es gar nicht sagen können. Danke Lisa!

Renée, du sprichst die Fotografie an, und ja, das sind Assoziationen, die mir wichtig waren und gut gefallen, das hat mich gefreut. Wie du das genau meinst mit dem Verhältnis zwischen Maus, Katze, Auge habe ich auch nicht ganz verstanden, aber ich hatte es schon so angelegt, dass da eine Beziehung, entsteht, eine Spannung, die sich sowohl im Verhältnis der Zeilen, als auch unter den Bildern nicht ganz auflösen lässt.
Renée hat geschrieben:Das Lich sieht den Weide(n)weg

Der Weideweg ist die Verdichtung der Photographie.

eine Augenweide

das photographierende Auge

der Weideweg

sich weiden an
(den Lippen, am Weide'n'weg)
das sind meine Assoziationen
Ja! Das spricht auch für mich alles mit. Beim ersten Satz las ich erst "Licht", was auch ein schöner Querverweis wieder auf die Fotografie und die Stimmung war und mich zu einer neuen Titelidee geführt hat.
Natürlich ist das eine angestrengte Decodierung deines dichten Textes.
Das "dichte" daran gefällt mir, dass er aber "anstrengend" ist, kann einen Text schnell kippen lassen. Ich habe aber den Eindruck, du empfindest die Anstrengung hier nicht rein negativ?


Zum Titel... :confused: ja, ihr habt recht, er ist fern vom Text und kühl, aber er enthält eben auch diesen Aspekt der Fotografie, ohne den mir der "Anlass" und auch die einfache Lesbarkeit der zweiten Zeile verloren ginge (und ferdi hadert ja so schon mit ihr .-) )... er war eine gesuchte "Notlösung" und ich bin auch nicht richtig glücklich damit, (auch wenn ich die verkopfte Idee dahinter mag .-)) ... schaut mal, wie wären denn diese Titel für euch, die einzelne Aspekte davon aufgreifen und vielleicht auch etwas näher an der Stimmung sind, oder eben auch etwas "auflösender" wären bezüglich der Lesbarkeit, wobei ich da unschlüssig bin, ob das gut ist:

licht schrieb dich (in meinen worten, eine fotografie)

dein gelöschtes gesicht

du nahmst dein bild aus meinen augen

wider das erblassen

wenn ich zoomte


Ich würde mich freuen, wenn ihr mir auf die Titelsprünge helft, .-) gerne natürlich auch andere, die noch nicht kommentiert haben.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 17.04.2010, 10:21

Liebe Flora,

Also Maus und Katze zuerst? Ich wollte jetzt nicht sofort den psychoanalytischen Apparat herausholen. Das wären einfach gegensätzliche Pulsionen der Sexualität, während sich etwas verkriecht, versteckt, bedeckt hält (die Maus) schnurrt das andere - kannibalisch sich freuende - beides ist im L'Ich verborgen. In einer Momentaufnahme stehen beide einander gegenüber.

Das angestrengte bezog sich auf meinen Kommentartext, den ich als "angestrengt" empfand, Selbstkritik der Kommentatorin, die gerne nur Klares, Deutliches und Leichzulesendes von sich gäbe ...

Den Titel fand ICH ja gut, denn das Verkopfte, Veraugte, das ei (irgendwas) diktische Gedächtnis passt sehr gut, mMn.

sehr liebe Grüße
Renée


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Google [Bot] und 20 Gäste