Das Mädchen und Vater Rhein

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 25.03.2010, 09:37

mmm
Zuletzt geändert von Renée Lomris am 05.08.2011, 09:55, insgesamt 1-mal geändert.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 25.03.2010, 09:46

huh, renee lomris,



große erzählkunst les ich hier!
eine geschichte, so geschrieben, dass sie mich für ein paar augenblicke danach noch atemlos und ganz von ihr umfangen sein lässt.

das schluss-bild wirkt nach, als würde man selbst ein stückchen weit noch mit auf den grund gezogen. längst schon ist deinem text gelungen, den leser so zu umschlingen, wie der rhein das junge mädchen.

was mich am meisten andächtig staunen lässt: wie genau die auslassungen von details die geschichte so reich und intensiv machen, dass ich wasser rieche, algengrün spüre und mein herz mittreiben lasse. und die dialoge: von wunderbarer poesie, ohne dabei abgehoben zu wirken. da ist eine einheit in erzähl- und dialogstil die aus beidem weit mehr macht als die summe seiner teile!


sehr sehr schön. danke!


lieber gruß,

keinsilbig

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 25.03.2010, 11:12

Hallo Renee,
na, also "schön" würde ich das nicht nennen. Eher auf eine sehr unangenehme Art eindringlich - was ja auch zum Thema passt und sicher beabsichtigt ist. Wie Keinsilbig sagte, ist das sehr wirkungs- und kunstvoll geschrieben; trotzdem (oder deswegen) hätte ich es, glaube ich, lieber nicht gelesen.
Liebe Grüße
Merlin

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 25.03.2010, 11:20

Hallo Merlin,
"auf unangenehme Weise" eindringlich? was meinst du damit? Irgendwie billig, kitschig, ???
interessiert mich sehr, wie du das meinst...
liebe Grüße
Renée

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 25.03.2010, 11:36

liebe renée,

sehr schön, sehr gern gelesen.

nur kleinigkeiten würde ich zur änderung vorschlagen -

- die beiden 'erweiterten' absätze würde ich auf normale reduzieren - diese struktur-hierarchie braucht es m.e. nicht, irritiert eher.

- "noch ist nirgendwo ruhe eingetreten" nähme ich raus, weil es nicht auf den satz davor passt (und m.e. ohnedies entbehrlich ist)

- "vater rhein" scheint mir doch ein wenig zu oft wiederholt.

- "und lindert den schmerz, den das mädchen kaum noch spürt" - die logik stutzt hier etwas - und ergänzt sich ein 'ohnehin' vor kaum.

- "du bist beschlossen in meinem herzen, sagen die aufgemalten sprüche" schöbe ich von der zweiten auf die vorletzte position dieses absatzes - käme für mich noch stärker; an der jetzigen stelle verzögert der satz zu stark

- ein einfaches "ja" fände ich stärker als die antwortende wiederholung von "bis auf vorletzte nacht"

- "seine beute" stelle ich zur streichungs-abwägung - "findelkind" allein rührt m.e. noch direkter an.
- edit - oder besser, um das dreifache 'kind' aufzulösen: Er betrachtet die Beute, aus deren Körperöffnungen Wasserblasen blubbern. Er umflutet sein Findelkind, denn es ist noch ein Kind und birgt es tief in sich.


viele schöne ausdrücke, beschreibungen; ein darin und dazwischen
fein schwingender text.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 25.03.2010, 17:07

Lieber Aram,

Hab mich sehr gefreut über deinen Kommentar, obwohl ich mir in den letzten Tagen die Frage stellte, wie ironisch dein Lob sein könnte ... Aber ich glaube doch, mich nicht zu täuschen, wenn ich da so was Positives spüre ... (mh)

Zu deinen Vorschlägen:
aram hat geschrieben:
- die beiden 'erweiterten' absätze würde ich auf normale reduzieren - diese struktur-hierarchie braucht es m.e. nicht, irritiert eher.


das versteh ich nicht, welche Absätze meinst du?

- "noch ist nirgendwo ruhe eingetreten" nähme ich raus, weil es nicht auf den satz davor passt (und m.e. ohnedies entbehrlich ist)


da würd ich das Karnevalslied "mer lasse den Dom in Kölle stehn" oder so ähnlich genauer einarbeiten, dann hätte das mit der Ruhe vielleicht mehr Sinn.

- "vater rhein" scheint mir doch ein wenig zu oft wiederholt.


Es ist sehr schwer, und war mir bisher unmöglich, den Vater Rhein zu ersetzen. Ich bin einverstanden, das ist zuviel. Vielleicht nur "der Rhein?"

alle anderen Vorschläge werde ich berücksichtigen. Danke für das Findelkind!

Danke, Aram ... vielleicht kannst du ja mal erklären, wie deine Lobs gemeint sind? PN?
liebe Grüße


slG
Renée

Benutzeravatar
Mnemosyne
Beiträge: 1333
Registriert: 01.08.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mnemosyne » 25.03.2010, 17:25

Hallo Renee,
nein, ich meine einfach, dass die Vorstellung - misshandeltes (und vermutlich vergewaltigtes) Mädchen ertrinkt halb ohnmächtig im Rhein - mir, gelinde gesagt, nicht besonders gefällt. Gerade der unaufdringliche, ruhige Ton des Textes macht es mir schwer, mit diesem Bild umzugehen. Es ist eine moralische Gleichgültigkeit in den Äußerungen aller Beteiligten, eine Lebensmüdigkeit und ein abgeklärter Fatalismus, mit dem ich nur ungern konfrontiert werde.
Viele Grüße
Merlin

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 25.03.2010, 17:43

Lieber Merlin,
Ich verstehe jetzt besser, was du meinst. Die Geschichte entstand, als ich zufällig Schalke 04 -Anhänger traf, und ich die Gelegenheit nutzte, mich nach dem Kölner Karneval (oder rheinländischen ...) zu erkundigen, da ich eine KG über dieses Thema zu schreiben hatte. Deren Gefühle Karneval gegenüber war sehr negativ, es war von allen möglichen Ausschweifungen die Rede und von den relativ häufigen Unglücksfällen (eben auch Ertrinken im Rhein).
Für mich ist "Vater Rhein" nicht gleichgültig: er nimmt das Mädchen auf. Und vergewaltigt wurde es nicht, es wurde verhauen, weil es untreu war.
Dass ich zu Fatalismus neige, dies als "Lebensmüdigkeit" verstanden werden kann ... und dass dies in den Texten durchscheint, das stimmt wahrscheinlich.
Mir wiederum sind "Gutwill" und "Gutmein" Texte unangenehm, denn ich bin gegen das "Schön"reden der Dinge. Lieber schau ich dem Unveränderlichen ins Gesicht .... übrigens recht unverzagt.
Dieses Mädchen ergibt sich ... es ist schon hinüber ... hätte es besser nicht soviel getrunken ...

so, schade, dass es bei dir so ankam.

Liebe Grüße

Renée

Sam

Beitragvon Sam » 25.03.2010, 18:19

Hallo Renée,

mir gefällt die Geschichte. Einmal, weil ich mit dem Karneval (vor allem dem rheinischen) überhaupt nichts anfangen kann. Aber das ist eher nebensächlich. Gelungen scheint mir vor allem die Positionierung des "Vater Rheins" als träge und sanft dahinfließendes Gewässer, nicht ganz gleichgültig, aber dennoch den menschlichen Angelegenheiten enthoben. In Verbindung mit der Misshandlung des Mädchens (gleichgültig ob sie denn "nur" verprügelt oder tatsächlich vergewaltigt wurde) findet hier eine schöne Dekonstruktion romantischer Motive statt: die Liebe und eben jenes vielbesungenen Vaters Rhein. Der nimmt das Mädchen zwar sanft auf, dennoch bringt er ihr den Tod und ist damit in all seinem Verständnis und Interesse für das Mädchen keinen Deut besser, als der Junge, der ihr Gewalt angetan hat. Ja, er ist sogar ein rechter Zyniker, was verständlich ist, denkt man an all den Müll, den er mit sich herumschleppen muss.

Spontan würde ich sagen, die Autorin hat ihren Heine doch recht gut gelesen, verdreht sie doch einige Motive ein wenig ins Gegenteil und das alles mit einem leicht boshaften Augenzwinkern. Der Karneval wird da eher zur Nebensache. Und das Mädchen hätte genauso gut bei Düsseldorf in den Rhein gehen können.

Gruß

Sam

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 25.03.2010, 18:24

Liebe Renée,

Sam fasst ziemlich genau das in Worte, was ich auch hätte schreiben wollen, wenn ich es so gut hätte ausdrücken können. Also: Danke, Sam :-) .
Ich finde, Du hast wirklich eine ungewöhnliche Art zu erzählen. Ganz eigen.

Liebe Grüße

leonie

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 25.03.2010, 18:47

Liebe Renée,

ja, es ist der Fatalismus, der hier durch alle Poren des Textes sickert und dazu ein "sachlicher Zynismus", sofern es so etwas gibt. So kommt deine Geschichte jedenfalls bei mir an. Ich würde übrigens den Untertitel "Eine Karnevalsgeschichte" weglassen, da es sich aus dem Text ergibt. Das fände ich interessander. Durch den Untertitel ist man (ich) als Leser voreingenommen.

Saludos
Mucki
P.S. Vater Rhein finde ich hier genau richtig.

Herby

Beitragvon Herby » 25.03.2010, 22:40

Liebe Renée,

ich fang jetzt mal in umgekehrter Reihenfolge an. Im Hinblick auf den Untertitel stimme ich Mucki völlig zu. Was ihn mir entbehrlich macht, ist, dass ich ihn irreführend finde. Karneval gibt ja nur den zufälligen zeitlichen Rahmen für die Handlung, ohne indes im Mittelpunkt oder in einem ursächlichen Zusammenhang zu ihr zu stehen. Jedenfalls sehe ich diese Kausalität nicht.

Davon aber einmal ab hast du mir ein ganz besonderes Leseerlebnis beschert: beeindruckend (und) wunderschön erzählt. Nachhallend.

Herzlichst
Herby

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 25.03.2010, 23:08

Renée Lomris hat geschrieben:obwohl ich mir in den letzten Tagen die Frage stellte, wie ironisch dein Lob sein könnte ...
liebe renée - „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ - wenn wikipedia recht hat, versteht sich 'meine' ironie eindeutig in der mannschen und nicht in der schopenhauerschen weise:

Thomas Mann hat Ironie als heitere Ambiguität verstanden. Am 13. Oktober 1953 notiert er im Tagebuch: Heitere Ambiguität im Grunde mein Element. Mit ihr kann er die Antinomien des Lebens aussöhnen, aus dem «Entweder-oder» ein «Sowohl-als-auch» machen. Dieses Geltenlassen bedeutet ihm, ähnlich wie Goethe, Objektivität: Ironie aber ist immer Ironie nach beiden Seiten hin. [1] Mit diesem ästhetisch-künstlerischen Ironieverständnis widerspricht er dem psychologischen Ironiebegriff Schopenhauers, der Objektivität, streng wörtlich, lediglich als das, was sich an das Gegenüber gerichtet, versteht (Die Ironie ist objektiv, nämlich auf den anderen berechnet) und Ironie demnach als den hinterm dem Ernst versteckten Scherz betrachtet, der das Gegenüber treffen will.

Renée Lomris hat geschrieben:Aber ich glaube doch, mich nicht zu täuschen, wenn ich da so was Positives spüre ... (mh)
ja - wobei du ironie damit implizit als negativ bezeichnest? - auf mich wirkt das einerseits verständlich, andererseits ähnlich einer bewertung von "das mädchen und vater rhein" als "moralisch gleichgültig". - interessant, dass wir hier beide seiten der ironiefrage berühren.

das versteh ich nicht, welche Absätze meinst du?
die beiden mit der zusätzlichen leerzeile.

da würd ich das Karnevalslied "mer lasse den Dom in Kölle stehn" oder so ähnlich genauer einarbeiten, dann hätte das mit der Ruhe vielleicht mehr Sinn.
so wie es jetzt unmittelbar aufeinander folgt, wirkt das 'nirgendwo' widerspüchlich: Der Dom steht, wo er stehen soll. Noch ist nirgendwo Ruhe eingetreten. - in der domgeographie ist offenbar ruhe.

Es ist sehr schwer, und war mir bisher unmöglich, den Vater Rhein zu ersetzen. Ich bin einverstanden, das ist zuviel. Vielleicht nur "der Rhein?"
ich stimme dir zu, es ist knifflig - ich würde auch nicht darauf abzielen, die wiederholungen gleichmäßig zu eliminieren - nur zu reduzieren an einer oder zwei stellen - der rhein, der fluss, der strom - die 1-2 geeigneten stellen sind auch für mich schwer zu identifizieren

vielleicht kannst du ja mal erklären, wie deine Lobs gemeint sind? PN?
lieber öffentlich - aufgrund dieser deiner frage war ich zur ironie schon so ausführlich. - ich fand nicht wirklich worte für diesen feinen und komplexen text, konnte mehr oder weniger nur 'schön' - sagen - vielleicht trug das zu deiner verunsicherung bei. - soweit mir bewusst ist, verwende ich nirgendwo 'falsches lob' im sinne von 'das ist ja toll' wenn ich nur das gegenteil meine. es ist wie die haltung deines textes - indem er das 'aufnehmende' beschreibt, kann das auch als zynische haltung gesehen werden - obwohl der 'kontakt' zum aufnehmenden echt ist - ähnlich mag es mit manchen meiner kommentare sein. ironie ist immer kontextabhängig, sagt wikipedia ~

liebe grüße. und gratulation zu diesem text.

aram

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 26.03.2010, 00:08

ps -

liebe mucki, lieber herby, "eine karnevalsgeschichte" - diesen untertitel finde ich sehr passend, würde ihn unbedingt beibehalten, denn die haltung des textes bezieht sich kontrapunktisch auf das heftige, hinter dem lauten glitzern dumpf-morbide karnevals-bewusstsein oder nicht-bewusstsein - ohne diese heute in unserer geographischen zone verbreitete 'brutale' haltung zum karneval gäbe es diesen text nicht; er ist eine karnevalsgeschichte - zudem bezieht er sich auf die eigentliche bedeutung des wortes carnelevare: eindrücklicher höhepunkt in diesem sinn ist für mich die passage, die das langsame kippen des bewusstlosen körpers ins wasser des flusses beschreibt.

pps -

lieber merlin, nochmal zu deiner bewertung der haltung des textes als 'moralisch gleichgültig' - interessant - wenn ich kritik festmachen würde, dann die gegenteilige - dass der text ein klischee bedient, wonach eine junge frau, die promiskue neigungen ausdrückt, umgehend den tod zu finden hat.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 33 Gäste