zwei rehe auf dem eis (aua aua)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.03.2010, 22:47

zwei rehe auf dem eis (aua aua)

wie sind wir bloß

auf diese fläche geraten, auf der du sagst
dass du nicht mehr wüsstest
ob ich die sei, die xyz
und ich nicht mehr zu lügen weiß
um zu beschützen, was uns not tut

bernard, du befürchtest, du hättest kein herz
und fürchtest doch, an eben diesem zu sterben


ich verstehe schon (sagt valentina), es geht um deine angst
es ist ein zögern, ein zittern
und ich übergehe es mit meinem zittern
das sich nur an deinem auftun kann
und darin noch behauptet
es spräche nur davon

dass ich dich kenn


es ist dein zittern
dein zittern

und ich übergehe es


bananenschalengefledder altwäsche krümelreize
salzstangenfraß dickbrotaufstrich
schühchen, kakao & nudelsuff
die manie das richtige foto zu machen
rosagefranzte leberflecke groblustiges haut- und herzgewabbel
verabredete vergewaltigungen

die grausame kleinmütige eindämmung der einzig rettenden schluchtwiesenweite in der brust des anderen
das anzünden seiner bücher, heiligtümer, seiner habseligkeiten
das töten, morden seines innersten

weil der graus der abwesenheit in der anwesenheit nicht auszuhalten ist

die alltäglichkeit (körpereigenes gewebe) ist unheilbar erkrankt

ein schauer aus geilkino
ein schauder, der uns hält

das können wir doch nicht alles sein



mit dem schlüssel möchte ich uns den hals aufschließen
mit dem wasserschlüssel

die ranzigkeit, drüssigkeit, den abstoß der zimmer- und lungenwände fortspülen
wie andere sich den kopf wegschießen
den man sich nicht zu heben traut
woran alles hängt



ich verlange, dass sich das gesicht des täters auftut
ich befehle, dass sein anblick die welt überfällt

die bösartigkeit sitzt in einem schnurrbart


ich weiß das
ich weiß das alles, doch es nützt mir nichts

muss man sich den hals brechen
um einander das gesicht zu halten?

wie sind wir bloß


Änderungen

eindemmung zu eindämmung - danke leo

Louisa

Beitragvon Louisa » 23.03.2010, 23:15

Liebes Frauchen!

Hat mir sehr gut gefallen die bunte, deutungsoffene und knurrende kleine Gedichtwelt!

Bei zwei Stellen habe ich gestuzt und stutzte immer noch ein bisschen:

1.

(...)
und darin noch behauptet
es spräche nur davon

dass ich dich kenn

und 2.

ich verlange, dass sich das gesicht des täters auftut
ich befehle, dass sein anblick die welt überfällt

- Das erste finde ich glaube ich im Vergleich zur restlichen Sprache zu aufgedröselt und das zweite verstehe ich noch nicht ganz - das bedeutet: Ich kann mir etwas dazu denken, aber das, was ich mir dazu denke ist dermaßen weit hergeholt und so vielschichtig, das es nicht mehr zur restlichen Stimmung des Textes für mich passt. Vielleicht stehe ich aber auch auf dem Schlauch - oder auf einem Hals, wer weiß.

Insgesamt finde ich den Text aber toll! Ich habe mir heute beim Radfahren überlegt, dass du unbedingt einen Gedichtband brauchst! Das kriegen wir sicherlich hin dieses Jahr :pfeifen: ...

Gute Nacht, frühlings-piep!
l

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 24.03.2010, 09:03

Liebe Louisa,

dank dir für die nächtlich schöne Lektüre - bei der ersten Stelle geb ich dir recht, du hast eine intuitive Augenbraue, scheint mir - ehrlich gesagt, habe ich es einfach nicht besser hinbekommen, an der Stelle hing mein kleines Schallplattensatzgehirn eine gute Weile fest - wenn du also etwas Geschmeidigeres weißt: hilfe!


Bei der zweiten: Was kannst du dir denn dazu denken? Ich möchte das jetzt ungern gleich strukturell erklären.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 24.03.2010, 12:26

Liebe Lisa,

erstmal nur: meinst Du eindämmung?

Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 24.03.2010, 12:35

Hallo Frauchen!

Ich versuche es noch einmal genauer und mit Vorschlägen, wenn es recht ist!



Also ich finde die ersten Verse allesamt sehr fein - besonders das doppeldeutige "bloß" und den fast unsichtbaren Dialog der Rehe - dann kommt dies hier:

ich verstehe schon (sagt valentina), es geht um deine angst
es ist ein zögern, ein zittern
und ich übergehe es mit meinem zittern
das sich nur an deinem auftun kann

-obwohl ich ja mit Begriffen wie "Angst, Zögern" und der leichten Überstrapazierung des "Zitterns" (was mir als alliniges Wort für die Angst und das Zögern übrigens vollkommen reichen würde!!!) - finde ich das noch ganz ok. Obgleich ich hier schon meinen ersten Vorschlag machen könnte:

ich verstehe schon (sagt valentina), es geht um dein Gezitter
und ich übergehe es mit meinem zittern
das sich nur an deinem auftun kann

- Ich finde darin liegt schon die Hilflosigkeit von der du berichten willst!?

Dann kommt die Problemstelle:

"und darin noch behauptet
es spräche nur davon

dass ich dich kenn"

Also... das Zittern behauptet es spräche davon den andern zu kennen??? :spin2:

Also....mir ist unklar wie ein Zittern/ein Angst etwas behaupten kann... Das gefällt mir ehrlich gesagt nicht so gut. Vielleicht eher:

und ich spräche noch davon
dass ich dich kenn

- Das finde ich um einiges klarer... ???

Dann kommt diese starke Betonung:

"es ist dein zittern
dein zittern

und ich übergehe es"

Mm.... das finde ich jetzt nicht besonders störend, aber begeistern tut es mich auch nicht :smile: ... Ich finde es würde reichen wenn du am Anfang schon das "dein" (Gezitter, Angst, Zittern - was auch immer es am Ende wird) kursiv stellst. So ist es ja einfach nur eine Wiederholung. Höchstens das "übergehen" erscheint mir noch als ein neuer Aspekt... Aber den könnte man evtl. auch schon früher auftauchen lassen... Da bin ich mir noch unsicher. Jedenfalls finde ich diese Zeilen auf Grund der leichten Redundanz streichenswert :eek:

Dann kommt wieder viel Schönes. Am liebsten mochte ich:

"die manie das richtige foto zu machen"

und auch sehr stark:

"verabredete vergewaltigungen"

Dann machst du schon wieder so etwas leicht Redundantes hier:

"das töten, morden seines innersten"

Ich finde diese leichte Wortwiederholung meistens nicht besonders gut... Sie gibt dem ganzen eher einen leicht erhöhten Tonfall. Mir würde viel besser gefallen:

"das töten seines innersten"

Oder vielleicht sogar:

"das töten seines Innenlebens" oder "Innenseins" - das letzte mag ich...

Jedenfalls entsteht hier schon wieder mein Wunsch manche Stellen zu vereinfachen. Ich glaube das würde dem Text gut tun.

Das fand ich wieder super:

"mit dem schlüssel möchte ich uns den hals aufschließen
mit dem wasserschlüssel"

So, dann zu der Stelle:

"ich verlange, dass sich das gesicht des täters auftut
ich befehle, dass sein anblick die welt überfällt"

Naja - ich dachte um die eigene Schuldfrage zu klären muss ein außenstehender Täter gefunden werden, ein oder etwas, dass für dieses Leid und diese Hilflosigkeit der Leute sich gegenüber verantwortlich gemacht werden kann. Für mich hat das so etwas von einem Abwehren der eigenen Verantwortlichkeit und nach dem Suchen einer allgemeingültigen Erklärung. Wieso sein Blick die Welt überfallen soll!? Tja, vielleicht damit man das eigene Unheil nicht mehr so stark wahrnimmt, weil es dann überall um einen herum entsteht...
Obwohl ich mir das so denken kann ist es immer noch sehr undeutlich für mich und fällt etwas aus dem gesamten Textbezug heraus. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so schlimm!? Weiß ich gerade nicht.

Angenehm lustig-leicht fand ich:

"die bösartigkeit sitzt in einem schnurrbart"

Das hätte man ruhig noch weiter ausbauen können. ("Er vibriert im Wind wie ein Sensor" etc. :smile: ...)

Das Ende mag ich wieder und bin immer noch erfreut diese Reise durch das Gedicht unternommen zu haben.

Ich hoffe das hilft dir irgendwie weiter!

Schönen Frühlingstag!
l

Klara
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Beitragvon Klara » 24.03.2010, 14:07

Hallo Lisa,
das ist ein schöner Text.
Er könnte wohl, nehme ich an, noch etwas Arbeit vertragen.
Und ich bin mir nicht sicher, ob das Lyrik ist - oder nicht doch verkappte Prosa. (Ich lese es als Prosa, wie kommt das? Wegen des prosaischen Themas?)

Die Brüche in der Haltung des Erzähl-Ichs (bzw. -Wirs) empfinde ich zum Teil als störend.
Das beginnt im Titel mit dem kindlichen, wenn nicht gar kindischen - (aua aua)" - dessen Notwendigkeit sich mir nicht erschließt.

Der Einstieg dann gefällt mir sehr, das ungenaue "xyz" dann schon wieder weniger, denn es kommt mir mehr vor wie ein verschämtes xyz als ein text- bzw. aussagebedingtes. Warum Verschweigen bzw. AllesundNichts zeigen anstatt einer kleinen Vorstellbarkeit? Eines pars pro toto? Wirkt auf mich unschön. Fast faul.

Ähnliches gilt für "und ich nicht mehr zu lügen weiß" - das lässt so rätselhaft alles offen, dass es nichts wird.

"um zu beschützen, was uns not tut" klingt erstmal - wenn auch gegen das "aua-aua" seltsam altertümlich - hübsch, scheinbar doppeldeutig auch, doch gerade die Doppeldeutigkeit sperrt sich mir: Muss man bschützen, was einem Not zufügt? Um nicht zu satt zu sein? Das fände ich dann arg von hinten durch die Brust ins Auge gezielt...

Dann kommt der Perspektivbruch, der möglicherweise ein scheinbarer ist:

bernard, du befürchtest, du hättest kein herz
und fürchtest doch, an eben diesem zu sterben


ich verstehe schon (sagt valentina), es geht um deine angst
es ist ein zögern, ein zittern


Wo kommt nun plötzlich Bernhard und Valentina her? (Die übrigens den proaischen Eindruck verstärken.) Ist es ein Filmzitat? Nein, das kann doch nicht. Und wer spricht sie an? Wer sagt "du", der vorher "wir" sagte?

weiter: mein Zittern, "das sich nur ein deinem auftun kann" - entsteht für mich kein Bild: Zittern - AUFTUN? Das umgangssprachliche Auftun konterkariert den altmodischen Konjunktiv. Und Zittern SPRICHT?

Schimpf mich ruhig einen Korinthenkacker, eine Erbsenzählerin, aber ich habe das deutliche Gefühl, dass hieraus ein starker Text werden kann, der "sich" nicht durch Ungenauigkeit und Nichtklarsagenwollenkönnen schützen muss - und dadurch schwächelt. So kommt es mir vor.

Dann, endlich, nicht die Selbst (wir) beobachtungsanalyse, sondern die Beschreibung, das Zeigen:

bananenschalengefledder altwäsche krümelreize
salzstangenfraß dickbrotaufstrich
schühchen, kakao & nudelsuff
die manie das richtige foto zu machen
rosagefranzte leberflecke groblustiges haut- und herzgewabbel
verabredete vergewaltigungen

Das sind doch mal klare Ansagen! Da kann ich mir sofort drunter vorstellen! Das will ich früher sehen! Ich will erst das Bild sehen - dann die Erklärung dazu. Oder liebe rnoch gar keine Erklärung, gar keine Deutung. Das Bild sich selbst deutend will ich sehen. Ohne das Pathos.

Das mir hier dann eben wieder nicth gefällt (mag Geschmackssache sein):
die grausame kleinmütige eindämmung der einzig rettenden schluchtwiesenweite in der brust des anderen
Herrje... Das klingt so patho-logisch bedürftig...

das anzünden seiner bücher, heiligtümer, seiner habseligkeiten
das töten, morden seines innersten

weil der graus der abwesenheit in der anwesenheit nicht auszuhalten ist

und das wieder so kryptisch erklärend... Dafür möchte ich, bockige Leserin, ein Bild haben - keinen Gedanken. Da ist so viel Gefühl in der PHilosophie versteckt, dass das Gefühl gerade auch im ja nicht nur behaupteten Pathos seltsam kleinmütig bleibt.

Dieser Gedanke gefällt mir:

die alltäglichkeit (körpereigenes gewebe) ist unheilbar erkrankt

und gefällt mir doch wieder nicht., nicht nur wegen des unbeholfenen Begriffes "Alltäglichkeit". Gefälllt mir nicht, weil die Konsequenz wäre: Die(se) Liebe stirbt - notwendigerweise. Unabänderlich. Und mir diese Aussage im Rahmen dieses Textes falsch vorkommt. Wahr wäre aber die Sehnsucht, die ich mitlese: Dass die Liebe unheilbar wäre - und nicht krank bzw. unabhängig davon ob krank oder nicht.

das können wir doch nicht alles sein

(ist das ein bewusstes Zitat? bzw. kennst du das hier: http://www.youtube.com/watch?v=x-p_AsaNLnI)

Den Wasserschlüssel vrstehe ich nicht, die drüssigkeit mag ich, das gesicht des täters verstehe ich nicht, oder wie sein anblick die welt überfallen sollte, nur, vielleicht, das Verlangen danach: wieder verliebt zu sein in den Geliebten (prosaisch gesprochen), den Gefährten. Ich verstehe die bösartigkeit im schnurrbart nicht, sie ist mir zu angedeutet, zu sehr darauf bauend, dass der Leser alles weiß und fühlt, was das Ich sieht und spürt. Ein Insider sozusagen, dieser Schnurrbart, der so sehr Insider ist, dass alle draußen bleiben.

Und dann ist das zwar ein schöner Satz in seinem konstruierte Widerspruch
muss man sich den hals brechen
um einander das gesicht zu halten?
doch kommt mir der Widerspruch eben konstruiert vor in diesem Zusammenhang. Es ist ja eine alte Geschichte, die da erzählt wird (die nichts Lyrisches hat, und wenig Tröstendes, in diesem Moment), doch mir kommt es so vor, als ließe sich der Text gar nicht, verzeih bitte diesen meinen Wirrsinn, auf sich selbst ein. Er lässt sich nicht schreiben, was wirklich ist. Verharrt im Nebulösen. Vergrößert so die Angst. Das Nichtsagenwollen. Das Nichtsagenkönnen. Und geht so gar, möglicherweise, am eigentlichen Thema, seiner eigentlichen Philosophie vorbei: der Unmöglichkeit, das Noch-nicht-sagen-Wollen auszudrücken.

Insgesamt lese ich, platt inhaltlich, den Versuch eines Hilfeschreis eines Wir nach Selbst-Rettung, ein Ich, das sich nach dem Wir sehnt, aber noch nicht danach zu schreien wagt, ganz prosaisch, nicht den Kopf hebt, sondern eben, gleichsam murmelnd, dichtet.
Ist mir, brutal gesagt, nicht brutal genug - und zu brutal. Oder umgekehrt.

Wie immer: Nimm, was du brauchen kannst, oder nicths, den Rest wirf weg als ncith zutreffend :)

Herzlich
klara

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leonie
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Beitragvon leonie » 24.03.2010, 14:53

Liebe Lisa,

ich lese zunächst einmal hilfloses Unverstehen, ein Ausgeliefertsein einer Situation von der man sich fragt, ob man sie selbst herbeigeführt habe. Das Bild der Rehe stärkt das, ebenso wie die Kindersprache "aua aua".

Dann lese ich von einem Dilemma, im Grunde einer nicht lösbaren Zwickmühle. Sie betrifft die Unmöglichkeit, wahrhaftig zu sein, man selbst zu bleiben in einer Beziehung. Ein Zusammenhängen und doch ein Alleinbleiben mit seiner Angst, seinem Zittern.

Ich lese von Alltag, in dem Kleines eine Relevanz bekommt, die ihm nicht zustehen sollte. Ich lese von der Zerstörung des anderen, um das Gemeinsame zu retten (es aber genau auf diese Weise zu zerstören, wiederum ein Dilemma). Die Weite verträgt sich nicht mit der Enge der Beziehung. Ebenso wie das Anderssein des Anderen nichts Bereicherndes, Eröffnendes mehr hat, sondern nur noch bedrohlich erscheint, so dass es weg muss.

Ich lese, dass als einige Lösungsmöglichkeit scheinbar nur bleibt, eine Operation vorzunehmen, bei der zugleich weggeschnitten wird, was am Leben hält.

Das lyrIch wendet sich dann nach außen, um den Verantwortlichen vor die Welt zu zerren. (Bei "die Bösartigkeit sitzt in einem Schnurrbart" musste ich an Hitler denken).

Mir ist es, wenn ich mich zwischen Klaras Alternativen entscheiden muss, zu brutal.

Ich finde die Denkstruktur, die hier aufgedeckt wird, ebenso spannend wie abstoßend. Das Sich-Selbst-als Hilflos-Erleben, Das Abwehren der eigenen Verantwortung. Die Brutalität, die einzig das Ziel hat, den Selbstverlust abzuwenden, indem man den anderen vernichtet und in der dann selbst Zärtlichkeit zur Gewalt verkommt.

Ich finde deutliche Anspielungen an die Nazizeit, nicht nur im Schnurrbart, auch in der Bücherverbrennung, den verabredeten Vergewaltigungen, der Abwehr der eigenen Verantwortung.

Natürlich stimme ich inhaltlich nicht überein. Mir fehlt im Gedicht die Rebellion, der Widerspruch. Das Übernehmen der eigenen Verantwortung. Es ist zu wenig, das Geschehende zu beschreiben, daran zu leiden und sich in der Opferrolle einzurichten.

Ich vermute, dass das bewusst so gestaltet ist, damit der Leser den Part übernehmen muss zu rebellieren. Im Bezug auf mich gelingt das.

So würde ich die Frage

muss man sich den hals brechen
um einander das gesicht zu halten?

mit einem eindeutigen "Nein" beantworten.


Liebe Grüße

leonie

P.S. Ich musste bei Bernard übrigens an Christiaan Barnard denken, den Herzchirurgen, der, wenn ich das richtig erinnere, die erste Herztransplantation vorgenommen hat)

Mir scheint dieser Satz auch sehr wichtig zu sein, ich frage mich sogar, ob in der darin angedeuteten Unsicherheit nicht eine der Ursachen für das Dilemma liegt, in das die Beziehung gerät...
Viel Stoff zum Weiterdenken....

Louisa

Beitragvon Louisa » 24.03.2010, 16:46

(*hüstel* Der Bernard soll ja angeblich am Ende nur seinen Stempel auf die Herztransplantation gedrückt haben - in Wirklichkeit war das wohl ein schwarzer Arzt aus Afrika, dessen Namen selbst ich wieder vergessen habe! Nur so nebenbei -)

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Beitragvon leonie » 24.03.2010, 16:52

Liebe Louisa,

das kann gut sein, ich habe das jetzt so aus dem Gedächtnis gekramt, weil ich mich fragte, ob der Name in Lisas Text etwas damit zu tun hat...
Er hieß aber ja Barnard, während Lisa Bernard schrieb, ich denke, meine Assoziation kam über das Thema "Herz" zustande. Vermutlich ist er ja gar nicht gemeint.... :-)

Liebe Grüße

leo

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 24.03.2010, 20:09

Hallo,

liebe Louisa,

ohje, danke für die Mühe - ich meinte eigentlich nur, wie du die beiden zeilen mit dem Täter verstanden hast, damit ich auf dein Unverstehen eingehen kann - aber so war das natürlich viel interessanter für mich. Jedenfalls hast du das in meinem Sinne gelesen: das irgendein (natürlich so nicht auffindbarer) außenstehender Täter gesucht wird - wenn man loenies Gesamtinterpretation liest, fügt sich das da ja auch ein.

Zu Rest antworte ich dir mit Klara gemeinsam, ja?

Ihr beiden, ich denke, ihr habt mit der Kritik an den vielen Einzelstellen Recht (wenn ich auch Klara, nicht mit deiner "erstdasbildforderung" übereinstimme und auch nicht denke, dass der Text in bezug auf seine Form verkappt sein muss, nur weil er auch prosa ist, aber hier steht, irgendwie schreibe ich meist was dazwischen und mal stelle ich es da und mal dort ein, also bitte bei mir die Kategorien nicht ganz so maßgebend ansehen)
- ihr vermisst im grunde das auf Sprachebene, was leonie auf Inhaltsebene bemerkt und ich denke, ich vermisse es auf der sprachebene auch (der Inhalt ist komplizierter, zumal ich den im grunde gar nicht unmittelbar bestimme).
Ich denke also, dass tatsächlich viele Stellen, die du, Louisa, missen könntest, und die du Klara kritisierst oder noch nicht als fertig oder am Ende doch problematisch ansiehst, tatsächlich mangel leiden - ich mach das daran fest, dass ich das ganze eigentlich ganz anders schreiben will, aber irgendwie kommt das noch nicht raus und das, was neu ist, wird dann, damit ein text, vorzeigbar in irgendeiner Form (damit ich alle halbe Jahre einen Text einstellen kann), in einen alten überholten Rahmen aufgenommen, der dann im besten falle ganz hübsch klingt, aber zugleich auch winterschlaf hält. ich hoffe, es ist ok, wenn ich daher erstmal keine einzelstellen beantworte, auf die ihr gnau eingegangen seid - ich speicher das alles so ab und kram dann bei Musenzeiten die Stellen, die dann für mich von Bedeutung sind, mal wieder raus und schau, ob sie woanders aufgehen.
Ich finds trotzdem ok, den Text eingestellt zu haben, ich brauch manchmal diese Art Rückmeldung, damit das Kämmerlein nicht zu schwarz wird .-)
Dank euch also!

(Biermann kannt nicht, klara)

liebe leonie,

erstmal danke für den Hinweis auf den Rechtschreibfehler.
du hast den Text inhaltlich eigentlich sehr genau erschlossen - auch wenn ich weder auf den Herzchirurgen (die Assoziation gefällt mir aber) noch auf den Nationalsozialismus hinweisen wollte - ich denke, es liegen aber ähnliche Strukturen zugrunde, also sind deine Gedanken in diese Richtung auch nicht aus der Luft gegriffen.
Zur Rebellion: ich sehe, das eigentlich schon als Rebellion, wenn auch all die Fehler, die du daran benennst (Opferrolle etc.), tatsächlich da sind - ss ist die Frage, ob es eine "richtige" Weise, eine, die aufgeht, überhaupt gibt, oder ob das Verhältnis da nicht immer problematisch ist - wahrscheinlich kommt es einfach drauf an, dass ein text es schafft, die Haltung innerhalb der Rebellion, dem Leser annehmbar zu gestalten (auf positiven, oder, wie du beschreibst, negativen Wege) - ich glaub jedenfalls, dass dieser Text da durchaus schwächelt.

Ich hoffe, diese allgemeine Rückmeldung war ok so ...

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Klara
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Beitragvon Klara » 24.03.2010, 20:26

Hallo Lisa,
klar ist das alles okay!
don't make yourself smaller than you are - in life, in writing.
k.

Max

Beitragvon Max » 24.03.2010, 21:44

Liebe Lisa,

es ist hier schon eine Menge Kluges gesagt worden, so dass ich dem Text kaum eine inhaltliche Deutung geben kann, die hier nicht schon besprochen worden wäre - und wenn würde dieser Aspekt am ehesten auf einer ganz guten Kenntnis der Autorin beruhen. Vielleicht aus dieser Kenntnis heraus, erscheinen mir Stellen, die beispielsweise oben als zu allgemein angegriffen wurden ("dass ich nicht mehr zu lügen weiß") als aussagekräftig. Anderes, das in ähnlichen Kategorien gesteckt wurde ("xyz"), finde ich zwar nicht faul, aber zu verschämt. Das Gedicht ist ein Zeigegedicht. Es lebt auf der inhaltlichen Seite davon, dass der Leser sich in seine Geheimnisse findet und sich mit den dort enthaltenen subjektiven Wahrheiten auseinandersetzt. "xyz" zeigt nicht, auch nicht im Geheimnis, es schließt ab.
Insgesamt geht es mir bei einigen Kritrikpunkten oben so, dass ich denke: Ja, das könnte man ggf. anders machen, aber es würde den Text nicht sehr ändern. Wenn das wahr wäre, spräche dies für mich für Klaras These von einem Prosatext zu sprechen, denn die sind ja typischerweise viel robuster gegenüber Änderungen als filigrane Lyrik.

Nun, wenn ich inhaltich an einigen Stellen nichts hinzufügen kann, an anderen nichts hinzufügen mag, warum kommentiere ich dann? Weil mir ein Aspekt aufgefallen ist, der mir gut gefallen hat: die Korrespondenz von Inhalt und Sprache. Auf der inhaltlichen Seite scheint mir der Text neben einem Leiden an der Wirklichkeit auch ein Suchen und ein Schwimmen zu beschreiben. Auf der sprachlichen Seite scheinen mir die teilweise recht langen, komplexen Sätze Taue auszuwerfen, feine Wurzeln zu bilden, um irgendwo in der Realität festzumachen. Das gefällt mir sehr.

Liebe Grüße
Max

Klara
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Beitragvon Klara » 25.03.2010, 09:11

Auf der inhaltlichen Seite scheint mir der Text neben einem Leiden an der Wirklichkeit auch ein Suchen und ein Schwimmen zu beschreiben. Auf der sprachlichen Seite scheinen mir die teilweise recht langen, komplexen Sätze Taue auszuwerfen, feine Wurzeln zu bilden, um irgendwo in der Realität festzumachen.

Das stimmt, das ist eben das, was einen doch packt :)

(und es ist auch auf seine (weibliche?) Art verdammt mutig, so zu schreiben)

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 25.03.2010, 11:42

hallo Lisa,


ich habe nun deinen text mehrmals gelesen.
und mit großem interesse und viel zustimmung auch die kommentare dazu, wiewohl ich gestehe, dass ich deinen text viel lieber lese, ohne den dingen derart konkret "auf den grund zu gehen" währenddessen.

im nachhinein zu erforschen, was die "zeilen" auf der intellektuellen ebene alles "bieten" ist hier sehr spannend und lohnend, weil ja reichlich vorhanden (meine vorkommentatoren haben das auch weit besser fest-gehalten und -gemacht als ich das je könnte). doch auf mich wirkt besonders das, was sie auf der intuitiven ebene vermögen.

eben durch diese "brüche", schwenks und scheinbaren widersprüche. sie erschließen, wenn man ihnen einfach mit dem gefühl zu folgen bereit ist, eine persönlichkeit in ihrer ganz eigenen weltanschauung und gefühlswelt. und zwar in all ihren facetten, die eben auch in der person selbst und dem, was sie an welt "erfährt" widerstreiten.

wahrhaben-wollen und nicht-wahrhaben-wollen ringt mit -können.
ambivalenz darf hier sein und macht den text so ungeheuer authentisch, dass man ihn auch "für voll nimmt" ohne sich um die logischen aspekte zu kümmern. wer ist schon logisch, wenn er fühlt?

und dieser text fühlt. fühlt im hinterfragen. sich selbst und ein gegenüber und sich selbst an einem gegenüber.

wie sind wir bloß

auf diese fläche geraten, auf der du sagst
dass du nicht mehr wüsstest
...

weil der graus der abwesenheit in der anwesenheit nicht auszuhalten ist

...
ein schauder, der uns hält

das können wir doch nicht alles sein



....
ich weiß das
ich weiß das alles, doch es nützt mir nichts

muss man sich den hals brechen
um einander das gesicht zu halten?

wie sind wir bloß



die von mir zitierten stellen sind die zusammenfassungen dieser fragen.
"das alles können wir sein" lautet die antwort.
der text ist wortgewordenes zeugnis dafür, wie schwer es ist, diese antwort annehmen zu können.

und vielleicht entsteht aus diesem nicht-annehmen-können und weiterfragen-müssen das, was den menschen so besonders macht.

ein großartig gelungener spiegel des mensch-seins ist dieser text.

einzig an dem "(aua aua)" stoße auch ich mich ein wenig. es fällt heraus - als wäre es einem anderen erzähl-alter des LyrIchs entsprungen als der rest.

aber alles andere funktioniert so intensiv, weil es genau so da steht, wie es steht, denke ich. mit all den widersprüchlichkeiten, die den menschen nun mal ausmachen. ich würde also kein fitzelchen daran ändern, um der logik-seite oder einer konkreteren erkennungs-richtung einen vorzug zu geben.


sehr gern gelesen. und sicher nicht zum letzten mal.
selten spannend und wunderbar zwingend "fremd", weil "eigen" - im positivsten sinne des wortes. danke.


gruß,

keinsilbig


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