Der Traum
Im Dezember 1941 wurde Horst Kuchheuser in der Nähe von Moskau von russischen Soldaten gefangen genommen, misshandelt und dann zu Oberst Ilja Saborowitsch Haskajew gebracht, der ihn verhören sollte.
Die Verletzungen Kuchheusers betrachtend, drückte Haskajew zunächst sein Bedauern über die Grobheit seiner Kameraden aus. Nicht ohne zu erwähnen, dies sei die logische Folge dessen, was die deutsche Armee seit Monaten seinen Landsleuten antue.
„Zu schade“, sagte Haskajew, „dass man euch dazu zwingt, Menschen zu morden, die eure Freunde und Nachbarn sind.“
Darauf meinte Kuchheuser, er wäre nicht aus Zwang hier, sondern er habe sich freiwillig gemeldet. Einen schönen Posten hätte er gehabt, in der Heimat, als Ausbilder an Flugabwehrgeschützen. Aber da wäre dieser Traum, den er jede Nacht träumte seit seine Tochter in einen See gestürzt und ertrunken war. Ein blaues Kleid trüge sie in diesem Traum und stünde am Ufer eines Flusses, auf dem Eisschollen schwimmen, die wie Spiegelscherben aussahen. Die Moskwa, wie er von einer Reise wüsste, die ihn als jungen Mann einmal in die russische Hauptstadt geführt hätte. Der Fluss schien das Mädchen zu beschützen oder zu bedrohen und sie sagte: ‚Ich bin doch hier’.
Haskajew lachte laut.
„Wegen eines Traumes bist du in den Krieg gezogen? Was hast du geglaubt, hier zu finden? Deine Tochter?“
Kuchheuser schwieg.
„Du bist ein Narr“, sagte Haskajew. „Auch ich habe einen Traum und ich träume ihn jede Nacht, denn ich habe ebenfalls ein Kind verloren. Mein Sohn Jirgi starb durch die ersten Kugeln, die ihr auf unsere Heimat abgeschossen habt. In dem Traum sehe ich ein Haus, es ist aus Backsteinen gemauert und liegt auf einer Anhöhe über einem kleinen Bach. Die Eingangstür ist verschlossen, darum gehe ich um das Haus herum und komme in einen Garten, in dem Kräuter wachsen und Kartoffeln. Und neben einem kleinen Brunnen, zwischen Tontöpfen und Blecheimern, an einer efeubewachsenen Wand lehnend, sehe ich Jirgi. Auch wenn er mir fremd erscheint, so weiß ich doch, dass er es ist.“
Haskajew hielt einen Moment inne, als hätte er Angst den Traum zu verlieren, wenn er weiter davon erzählte.
„Keine Ahnung“, sagte er dann, „wo sich dieses Haus befindet und ob es überhaupt existiert. Jedenfalls käme ich nie auf die verrückte Idee, danach zu suchen. Es ist nur ein Traum.“
Und er fügte noch hinzu:
„Träume und Menschen haben eines gemeinsam: Man kann ihnen nicht trauen. Was dich betrifft, du wirst hier nichts finden, außer den Tod.“
Noch am selben Tag wurde Kuchheuser bei einem Vorstoß der deutschen Armee befreit. Einmal konnte er im Kampfgetümmel den Oberst Ilja Saborowitsch Haskajew sehen, wie er sich mit einem Bajonett gegen drei Angreifer wehrte. Doch dann wurde er vom Kampf fortgerissen und verlor den Russen aus den Augen.
Horst Kuchheusers Heimweg dauerte viele Jahre. Als er seiner Heimat nicht mehr fern und der Krieg schon hundert Mal verloren war, verließ er seine Kameraden und machte sich auf den Weg nach Hause. Schließlich sah er von weitem jene Senke, die man den goldenen Grund nannte, weil dort im Spätsommer das Getreide reif in der Sonne glänzte. Er erkannte seine Heimatstadt und, als er näher kam, sein Haus. Es war aus roten Backsteinen gemauert und stand auf einem Hügel oberhalb eines kleinen Baches. An der Haustür angelangt, besann er sich und ging um das Gebäude herum in den Garten, wo Kräuter wuchsen und Kartoffeln. Dort, neben einem Brunnen, zwischen Tontöpfen und Blecheimern, fand er seine Frau, wie sie an der efeubewachsenen Wand lehnte.
Ein Jahr später wurde ihnen ein Sohn geboren, den sie Georg nannten.
Einen Dativlapsus ausgebessert - Danke an Scarlett!
Das Wort "seitdem" auf "seit" geändert. - Danke an Leonie
Der Traum
Hi Sam,
schau mal hier: http://www.maerchen.org/maerchen-aus-ta ... -nacht.htm
Vielleicht findest du die Geschichte anhand des Titels.
Mich würde das Original auch interessieren.
Saludos
Mucki
schau mal hier: http://www.maerchen.org/maerchen-aus-ta ... -nacht.htm
Vielleicht findest du die Geschichte anhand des Titels.
Mich würde das Original auch interessieren.
Saludos
Mucki
Hallo Mucki,
danke für den Link. Leider sind da nur ein kleiner Teil der Geschichten, und darunter ist sie nicht. Ich werde weitersuchen.
Hallo Elsa,
Vielen Dank! Freut mich sehr, dass es dir so gut gefällt!
Hallo Yorick,
gut möglich, dass Coelho die Geschichte auch verwurstet hat (ich gebe zu, ich mag ihn nicht besonders). Ich habe die Geschichte ebenfalls über einen Umweg gefunden, und zwar in Borges Buch der Träume (so meine ich mich zu erinnern, ist wie gesagt schon ein Weilchen her).
Gruß
Sam
danke für den Link. Leider sind da nur ein kleiner Teil der Geschichten, und darunter ist sie nicht. Ich werde weitersuchen.
Hallo Elsa,
Vielen Dank! Freut mich sehr, dass es dir so gut gefällt!
Hallo Yorick,
gut möglich, dass Coelho die Geschichte auch verwurstet hat (ich gebe zu, ich mag ihn nicht besonders). Ich habe die Geschichte ebenfalls über einen Umweg gefunden, und zwar in Borges Buch der Träume (so meine ich mich zu erinnern, ist wie gesagt schon ein Weilchen her).
Gruß
Sam
Lieber Sam,
eigentlich wollte ich ja zunächst zu "Das Bild" schreiben (wäre es OK, wenn ich zu diesem Zweck den text mit Kopiefunktion in die Prosa schiebe?), aber nun musste im Zuge der Wahl vor ein paar Tagen doch endlich in den Traum hineinschauen - und das gefällt mir wieder so gut, dass ich das jetzt eben (recht inhaltslos) schreiben möchte. Aber Renee hat ja sowieso schon so einen tollen Kommentar geschrieben:
Ja und nochmal ja! (danke Renee).
Und ich freu mich, solche (auch) geschichts/gesellschaftsbezogenen Texte mit großen Themen wie hier den Krieg haben es bei mir immer so schwer, meist bin ich mit der Darstellung und der Art, wie sie den Leser einfangen möchten, nicht zufrieden, aber bei dir geht es jedes Mal auf, mehr: es ist ein Genuss.
liebe Grüße,
Lisa
eigentlich wollte ich ja zunächst zu "Das Bild" schreiben (wäre es OK, wenn ich zu diesem Zweck den text mit Kopiefunktion in die Prosa schiebe?), aber nun musste im Zuge der Wahl vor ein paar Tagen doch endlich in den Traum hineinschauen - und das gefällt mir wieder so gut, dass ich das jetzt eben (recht inhaltslos) schreiben möchte. Aber Renee hat ja sowieso schon so einen tollen Kommentar geschrieben:
deine Geschichten sind immer etwas Besonderes und fallen wie Kieselsteine ins Wasser, um dort kreisförmige Ringe zu bilden. Sie sind "Kunstgeschichten", so wie man von "Kunstmärchen" sprach und gefallen mir sehr. Die Konstruktion ist kaum spürbar, sie ist der scheinbar solide Untergrund, auf dem der Sinn ins Schwimmen gerät. Der Realismus der Geschehnisse - die Namen, die Kriegshandlung, Folter, Töten, und das Gespräch von Männern, die eigentlich "Freunde und Nachbarn" sind, vermittelt mir das Gefühl, einem erlebten Ereignis beizuwohnen. Der Surrealismus - der ausgetauschte Traum - das Vertauschen der Kinder - wie im Märchen bewirkt eine melancholische Tragik, die von den Weiterlebenden empfunden wird, und an der ich als Leserin teilhabe.
Ja und nochmal ja! (danke Renee).
Und ich freu mich, solche (auch) geschichts/gesellschaftsbezogenen Texte mit großen Themen wie hier den Krieg haben es bei mir immer so schwer, meist bin ich mit der Darstellung und der Art, wie sie den Leser einfangen möchten, nicht zufrieden, aber bei dir geht es jedes Mal auf, mehr: es ist ein Genuss.
liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo Lisa,
entschuldige bitte, aber ich habe erst jetzt gesehen, dass du zu diesem Text noch einen Kommentar geschrieben hast.
Vielen Dank dafür und auch für dein Lob, das mich natürlich sehr freut. (Wenn du magst, kannst du den Text "das Bild" natürlich gerne verschieben).
Nochmals herzlichen Dank!
Gruß
Sam
entschuldige bitte, aber ich habe erst jetzt gesehen, dass du zu diesem Text noch einen Kommentar geschrieben hast.
Vielen Dank dafür und auch für dein Lob, das mich natürlich sehr freut. (Wenn du magst, kannst du den Text "das Bild" natürlich gerne verschieben).
Nochmals herzlichen Dank!
Gruß
Sam
Hallo, Sam,
eine sehr schöne neue Geschichte nach einem bewährten alten Rezept. Während dieser Traumaustausch in 1001 Nacht märchenhaft passend ist, ist er hier (zwei hartgesottene Weltkriegssoldaten begegnen einander) auf merkwürdige Weise ein Fremdkörper, aber gerade das macht den Reiz aus, lässt vorausahnen, dass Weltkriegsgeschichten eines Tages auch mal so fern sein werden, dass aus ihnen Märchen entstehen.
Warum heißt es eigentlich "Der Traum" und nicht "(Die) Träume"?
eine sehr schöne neue Geschichte nach einem bewährten alten Rezept. Während dieser Traumaustausch in 1001 Nacht märchenhaft passend ist, ist er hier (zwei hartgesottene Weltkriegssoldaten begegnen einander) auf merkwürdige Weise ein Fremdkörper, aber gerade das macht den Reiz aus, lässt vorausahnen, dass Weltkriegsgeschichten eines Tages auch mal so fern sein werden, dass aus ihnen Märchen entstehen.
Warum heißt es eigentlich "Der Traum" und nicht "(Die) Träume"?
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.
Hallo Quoth,
vielen Dank!
Du hast Recht, bei der Geschichte aus 1001 Nacht ist alles märchenhafter und auch die Traumerfüllung zwingender.
Der Reiz bei cieser Version lag für ich darin, das Fantastische aus einem märchenhaften Kontext herauszunehmen und in ein realistisches Umfeld zu verlagern. Das märchenhafte bleibt ebenso, aber das Realistische verändert sich dadurch und rückt dadurch in ein anderes, vielleicht eben auch märchenhaftes oder fantastisches Licht. So zumindest, war meine Intention.
Den Titel "Der Traum" habe ich gewählt, weil es in erster Linie um den Traum Kuchheusers geht. Der Traum des russichen Soldaten war ja eigentlich nur ein Teil von Kuchheusers Traum. (Und wer weiß, vielleicht hat Kuchheueser das alles ja nur geträumt.)
Gruß
Sam
vielen Dank!
Du hast Recht, bei der Geschichte aus 1001 Nacht ist alles märchenhafter und auch die Traumerfüllung zwingender.
Der Reiz bei cieser Version lag für ich darin, das Fantastische aus einem märchenhaften Kontext herauszunehmen und in ein realistisches Umfeld zu verlagern. Das märchenhafte bleibt ebenso, aber das Realistische verändert sich dadurch und rückt dadurch in ein anderes, vielleicht eben auch märchenhaftes oder fantastisches Licht. So zumindest, war meine Intention.
Den Titel "Der Traum" habe ich gewählt, weil es in erster Linie um den Traum Kuchheusers geht. Der Traum des russichen Soldaten war ja eigentlich nur ein Teil von Kuchheusers Traum. (Und wer weiß, vielleicht hat Kuchheueser das alles ja nur geträumt.)
Gruß
Sam
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