Frei nach "Der freie Wille" (ein Film von Matthias Glasner)

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keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 12.03.2010, 17:56

Die grazile Blondine mit den schier endlosen Beinen hatte sich ihm förmlich aufgedrängt, dort in der Herrenabteilung des Kaufhauses. Es war also nicht seine Schuld.

Die zwei Kaschmirpullover, die sie ihm mit den Worten „die betonen Ihren so schön durchtrainierten Oberkörper äußerst vorteilhaft“ angetragen hatte, hatte er dermaßen ausgiebig und größte Versunkenheit vortäuschend gemustert, dass sie ihn schließlich schulterzuckend sich selbst überlassen und von ihrer demütigenden Gegenwart erlöst hatte.

Der Geruch ihres Parfüms und die V-form ihres Dekolletees in der tiefausgeschnittenen, lippstiftroten Bluse jedoch hatten sich bereits in seine Wahrnehmung eingebrannt und dort eine nun schwärende Wunde hinterlassen, die drängend schmerzte.
Sicherlich war es ein Versehen gewesen, dass sie beim Zureichen der Pullis mit der Außenkante ihrer feingliedrigen und sorgfältig manikürten Hand an seinem Arm entlanggestriffen war. Nur kurz zwar, aber lang genug, um dort eine feurige Spur blanken Hohns zu ziehen.

Warum mussten ihn die Frauen stets so quälen? Ihn unbarmherzig mit dem konfrontieren, was er nicht haben konnte. So, wie er war, durfte er nicht einmal davon träumen, dass ihn jemals eine einfach so ranlassen würde. Wer war er denn schon? Ein Nichts! Zu klein, zu ungebildet, zu ungeschickt, wenn es um Worte ging, mit denen er bei den Fotzen, bei denen er würde landen wollen, punkten könnte. Nicht einmal einen Gnadenakt wert.

Wie sie ihn mit ihrer Schönheit verspotteten! Ein Blick hervor unter ihren langen Wimpern in seine stets unsicher umherirrenden Augen genügte, um ihn beschämt die Lider senken zu lassen. Er hasste es, wenn er sich dann vorstellte, wie sie ihn als das Weichei erkannten, das er nun mal war. Da halfen auch das ganze harte Muskeltraining und der Kampfsport dreimal die Woche nichts. Er war nun mal wie er war – nämlich einfach das Letzte - und würde es immer bleiben.

So blieb ihm nichts anderes, als das Beste draus zu machen.

Ab und zu gelang es ihm, sich an die Fersen einer dieser Schlampen zu heften und ihr unbemerkt zu folgen, wenn sie abends nach der Arbeit oder dem Abtanzen in der Discothek allein heimgingen. Oft allerdings gingen sie nicht alleine heim, sondern so gut wie immer hatten sie sich einen jener Macker geangelt, die vom Schicksal so ekelhaft bevorzugt worden waren, dass die einfach jede hätte haben wollen. Oder die zwar hässlich waren, aber so viel Kohle hatten, dass die Weiber für alles andere plötzlich blind waren.

Die waren doch alle gleich, diese schwanzlutschenden, oberflächlichen Dreckshuren. Hauptsache, ein Kerl hatte genügend Kohle und einen Großen in der Hose!

Er selbst hatte oft grade mal genug übrig zum Monatsende, um sich ausnahmsweise ein Bier extra gönnen zu können auf einem seiner Streifzüge. Ansonsten war alles genau rationiert und streng verplant, wollte er nicht eine Woche hungern, bis das nächste Gehalt am Konto eingelangt war. Doch er hatte gelernt, aus der Not eine Tugend zu machen – das Heimgehen zu Fuß aus der City bis zu den deprigrauen Riesen-Plattenbauten der Vorstadt hatte seine Ausdauer gestärkt. Er konnte einem dieser verfickten Drecksluder also beliebig lange und weit folgen, ohne auch nur ansatzweise müde zu werden.

Für den alles entscheidenden Sprint am Schluss hatte er jedenfalls immer noch genügend Kraftreserven, um grade noch vor dem Zufallen der Tür hinter ihnen ins Haus zu schlüpfen, aber noch mit soviel Abstand, dass sie ihn – meistens jedenfalls – nicht zu früh bemerkten. Wenn es doch mal passierte, war das immer irgendwie Scheiße, weil sie ihn dann dazu zwangen, sie rasch und zielgerichtet auszuschalten, bevor sie Radau schlagen konnten.

Das verdarb ihm immer ein wenig den Genuss, denn die hübschgeschminkten Gesichter waren dann meist unschön blutverschmiert und das törnte dann doch ein klein bisschen ab. Er drehte sie in diesem Falle dann lieber auf den Bauch. Es fand sich eben für alles eine Lösung.
Und für den Fall der Fälle hatte er immer ein kleines Erste-Hilfe-Kit mit Mullbinden, Pflastern und Wunddesinfektionsmittel dabei, das er ihnen dann dortließ.

Er war ja schließlich kein Unmensch. Zumindest hierbei war er sich sicher.





(nachtrag des autors: ich hoffe, die teilweise explizite wortwahl stößt hier niemandem empfindsam auf. doch sie war mE für diesen text essentiel und unumgänglich.

gruß,

keinsilbig)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.03.2010, 18:40

Hallo keinsilbig,

puh, starken Tobak schreibst du hier. Ich frage mich, ob man überhaupt über einen perversen, kranken Vergewaltiger schreiben kann, ohne sich als Leser davon zu distanzieren und als Frau erstrecht. Es ist nur aus der Perspektive des Vergewaltigers geschrieben, was sicherlich auch so von dir beabsichtigt ist. Er soll als Opfer dargestellt werden. Aber Fakt ist, dass die Frauen brutale Opfer sind. Die innere Not, das Zwanghafte bei ihm, das ihn zu seinen Taten treibt, kommt nach meinem Empfinden nicht genug heraus, da die Frauen derart in den Dreck gezogen werden, dass da keine "Gegenbewegung" bei mir entstehen kann, kein Hauch von Verständnis, sondern genau das Gegenteil.
Wut und Hass auf den Kerl wird bei mir erzeugt.
Frage: was hat dich motiviert, diesen Text zu schreiben, worin besteht deine Intention?

Saludos
Gabriella

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 12.03.2010, 18:53

Hallo keinsilbig

Ich wollte mir deinen Text noch einmal genauer anschauen, aber es ist mir keine Stelle als irgendwie unkohärent aufgefallen. Ein Text, der mich vom Stil her, von der stringent eingehaltenen Perspektive her und von deiner Erzählhaltung her überzeugt.
Der Täter summiert sich zum Täter mit Hilfe der kleinen Demütigungen, die er tatsächlich erlebt, auch mit Hilfe der fantasierten, weil nie erlebten "Anmachen". Im Nichts zählt jede Geste. Ein Wimpernschlag bedeutet "Komm mit!". Das finde ich gut dargestellt. Was damit als Aussage gemeint ist, will ich in diesem Zusammenhang nicht genau wissen. Jeder für sich kann ausmachen, was er wahr nimmt. Für mich ist die Aussage hart, zeigt aber doch das Elend des zwanghaften Täters.
Gratulation zu diesem Text

liebe Grüße
Renée

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 12.03.2010, 19:10

Gabriella hat geschrieben:... Die innere Not, das Zwanghafte bei ihm, das ihn zu seinen Taten treibt, kommt nach meinem Empfinden nicht genug heraus, da die Frauen derart in den Dreck gezogen werden, dass da keine "Gegenbewegung" bei mir entstehen kann, kein Hauch von Verständnis, sondern genau das Gegenteil.
Wut und Hass auf den Kerl wird bei mir erzeugt.
Frage: was hat dich motiviert, diesen Text zu schreiben, worin besteht deine Intention?




hallo, gabriella,


und vorab vielen dank fürs "dich-einlassen" auf den versuch dieser speziellen art der darstellung dieses ja an sich nicht neuen themas.

wenn du sagst, da entstünde kein hauch von verständnis in dir durch die art der geschichte und er käme eben nicht als opfer rüber, dann ist das so goldrichtig und das, was auch meine absicht war. er ist ja auch kein opfer - oder zumindest nicht das, als das er sich sehen möchte. und auch ich würde ihn nicht als solches darstellen wollen... dass aber er es so sieht, ist teil des psychogramms, das ich versuchte zu zeichnen.

die motivation zur geschichte kam durch den film (den ich im titel erwähne) "der freie wille" (2005, von und mit jürgen vogel in der hauptrolle und von regisseur matthias glasner, ausgezeichnet als bester film von der Gilde Deutscher Filmkunsttheater, prämiert auf dem Tribeca Film Festival und dem Chicago International Film Festival. Jürgen Vogel erhielt für diese rolle den silbernen bären), der eben dadurch besticht, dass er nicht versucht, den täter vor"fixiert" darzustellen, sodass es dem filmpublikum überlassen bleibt, wie weit es verständnis aufbringen will für den täter oder eben nicht. eine tatsache, die mich, als ich den film sah, einigermaßen erstaunt über die eigenen zwiespältigen reaktionen zurückgelassen hat. der text hier ist ein versuch, das irgendwie zu "fassen" und zu transportieren.

der text wird natürlich nicht der ganzen film-geschichte gerecht (daher "frei nach" im titel), die ja noch das schicksal einer zweiten person mit hinzuflicht - nämlich die der jungen nettie, die an den sexualattentäter theo gerät und selbst von ihrem vater jahrelang psychisch missbraucht wurde. zwischen den beiden entsteht eine liebesbeziehung, deretwegen theo zuguterletzt, als er feststellt, dass er seinen trieb zur sexuellen gewalt gegen frauen dennoch nicht unter kontrolle bekommt und dies einer beziehung zu nettie im wege steht, in ihren armen selbstmord begeht - um der frau nicht zu schaden, die er als einzige lieben konnte.


das zwanghafte und die innere not sind eben auch im film nicht mehr thema, als sie durch theos verhalten und ein paar äußerungen am rande ablesbar sind für den zuseher. da ist also alles drin - der innere zwiespalt, doch auch diese gewisse "kühle" und sachlichkeit, in der er seine taten begeht. und beides so in der waage gehalten, dass man als zuseher eben alleingelassen ist, sich sein eigenes urteil zu bilden. etwas, das mich nachhaltiger beindruckt hat, als es eine gezieltere darstellung zur einen oder anderen seite hin getan hätte. da arbeitet gewaltig viel nach. ich kann den film nur empfehlen - vorausgesetzt, man ist einigermaßen belastbar. (ich habe am schluss ein paar taschentücher gebraucht und erstmal frische luft).



danke fürs zu-lesen jedenfalls und für das gezeigte interesse.


lieber gruß,

keinsilbig

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 12.03.2010, 19:13

herzlichen dank, renee lomris,


für das große lob, das mich nun auch etwas erleichtert aufatmen lässt.
immerhin ist dieser text eventuell ja einer mit potential zu polarisieren und sicherlich nicht jedermanns sache.

besonderen dank für :
aber es ist mir keine Stelle als irgendwie unkohärent aufgefallen. Ein Text, der mich vom Stil her, von der stringent eingehaltenen Perspektive her und von deiner Erzählhaltung her überzeugt.
. mit einer solchen rückmeldung kann man als autor schon mal übermütig werden. die freut schon ganz gewaltig und ist eine wohltuende bestätigung.

was will ich mehr!


lieber gruß,

keinsilbig

derSibirier

Beitragvon derSibirier » 13.03.2010, 05:50

hallo keinsilbig

Obwohl ich eigentlich vulgäre Worte verabscheue, sind sie in deinem Text sehr gut angebracht. Deine verwendeten Worte spiegeln doch des Protagonistens Denken und Wertschätzung Frauen gegenüber wider; sie erklären seinen Charakter.

Er selbst hatte oft grade mal genug übrig zum Monatsende, um sich ausnahmsweise ein Bier extra gönnen zu können auf einem seiner Streifzüge. Ansonsten war alles genau rationiert und streng verplant, wollte er nicht eine Woche hungern, bis das nächste Gehalt am Konto eingelangt war.

Diese Textstelle passt für mich nicht in das Schema deines Stückes. Es ist ein Abschweifen, ein klischeebeladens Näherbringen der niedrigen Figur.

Das verdarb ihm immer ein wenig den Genuss, denn die hübschgeschminkten Gesichter waren dann meist unschön blutverschmiert und das törnte dann doch ein klein bisschen ab. Er drehte sie in diesem Falle dann lieber auf den Bauch. Es fand sich eben für alles eine Lösung.

Für das Unterstrichene hätte ich dir vielleicht eine bessere Lösung: Er drehte sie in diesem Falle dann lieber auf den Bauch, obwohl es sich weniger persönlich gestaltete.
Es geht dem Typen ja nicht nur um den sexuellen Akt, sondern er geilt sich an den Erniedrigungen auf. So lese ich es jedenfalls.

Der Text gefällt mir gut.
derSibirier grüßt

Sam

Beitragvon Sam » 13.03.2010, 06:52

Hallo keinsilbig,

ich finde es mutig, sich an so ein Thema heranzuwagen. Das liegt zum einen an der Komplexität des Themas, aber auch an der doch sehr unterschiedlichen Art, wie solche Texte aufgenommen werden. Es ist ja heutzutage kein Tabubruch mehr, aus der Sicht eines Vergewaltigers zu erzählen. Im Gegenteil. Die Thematik ist fiktional und nichtfiktional unzählige Male bearbeitet und damit Teil des öffentlichen Bewusstseins. So ziemlich jeder hat seine Meinung dazu, wie man an einen solchen Stoff herangehen sollte (müsste!!). So kann man dann von Zustimmung bis heftiger Ablehnung alles erleben, wenn man sich dieses Themas annimmt.

Mich persönlich berührt der Text wenig. Er ist, bis auf eine Reihe entbehrlicher Adjektive gut geschrieben. Aber dennoch fehlt ihm etwas. Und dieses Etwas hast du selbst erwähnt, in deiner Beschreibung von dem Film "Der freie Wille". Der Film erreicht seine Tiefe durch eine zweite Person, an der sich das Verhaltensmuster des Vergewaltigers bricht. Gerade dieses Brechen zeigt den Charakter und die entsprechened Verformung und geht von der reinen Darstellung weg. Sehr gut ist das damals auch Thomas Harris gelungen, in seinem Roman "Roter Drache". Auch hier entsteht ein Konflikt in dem Verbecher durch die Zuneigung zu einer Frau. Einen Konflikt, den aber aber nicht zu lösen imstande ist.

Um es auf einen Punkt zu bringen: Mir ist der Text zu eindimensional. Ich mag die Formulierung "ich habe hier nichts Neues erfahren" eigentlich nicht, aber auf deinen Text trifft es irgendwie zu. Wobei das Neue nichts Großartiges zu sein hat, sondern es eher um Facetten geht, Kleinigkeiten, die in der Lage sind, das bisherige Denkmuster ein wenig aufzubrechen.

Gruß

Sam

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 13.03.2010, 10:16

hallo, Sibirier, hallo, Sam,


das "nichts neues" hab ich in meinem ersten antwortkommentar auf gabriella bereits selbst so "erwähnt". klar ist mein text nichts neues. er erfüllt den zweck einer studie. so, als würde ich mich am zeichnen einer pflanze üben, die ich am wegesrand gefunden habe. einfach, um sie ein wenig tiefer zu be-greifen (im wahrsten sinne des wortes). in worten, in meinen gedanken zum thema, in meinem versuch, mich am objekt entlangzutasten, um etwas darüber herauszuarbeiten.

und das produkt dieser "naturstudie" stelle ich eben aus. zur betrachtung. ich halte das für legitim, wenn es nicht auch noch den anspruch eines ganzen romans samt entwicklung eines charakters durch von außen hinzukommende faktoren abdeckt. das kann ein kurztext nicht in der art leisten, glaube ich. und dieser hier hatte das ganz einfach auch nicht zum ziel.

die abschweifung zu seinen knappen finanzen fand ich als nötig, um überzuleiten und zu begründen, warum er zu fuß heimging und daher eine gute kondition hatte. (sein motto, aus der not eine tugend zu machen, setzt sich ja bis zum auf-den-bauch-drehen fort und zieht sich durch die story. "mach das beste draus" - sein glaubenssatz, wenn man es so nennen möchte).

und - nein - er geilt sich nicht auf. er wird erregt - und zwar nicht im positiv besetzten sexuellen sinne. da sehe ich einen feinen, aber sehr entscheidenden unterschied. die frauen regen ihn auf. sein sexueller akt ist also nie genuss einer tollen, geilen angelegenheit, sondern ein fehlgeleitetes bedürfnis nach sexueller entladung, das bei ihm an agressionen und gewalt gegenüber frauen gekoppelt ist, die ihn in seiner wahrnehmung nur ständig darin bestätigen, dass er ein nichts ist. sein sex ist also rache, bestrafung - nicht lust.


die eindimensionalität als vorwurf kann ich nachvollziehen und verstehen, aber da dieser text hier studiencharakter hat, wollte ich ja auch nicht mehr als eben genau aus dieser eindimensionalen sicht ein bild zeichnen.



danke für die auseinandersetzung mit meinem text und grüße,

keinsilbig

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.03.2010, 20:18

Hallo keinsilbig,

solche Texte interessieren mich sehr, ich hoffe, es ist daher OK; wenn ich mit meiner Kritik ins Detail gehe.

Interessant ist für mich, dass du den Text selbst als Studie bezeichnet hast - ich sehe es auch so: der Text versucht sich an psychologischem und gesellschaftlich-sozialem Wissen zu orientieren, das heutzutage durch eine Menge Filme, Bücher, Reportagen und dergleichen (zumindest in einer gewissen Bildungsschicht) schon Standard ist.

Für mich gelingt diese Schau aber nicht ganz- weil sie nach meinem Empfinden psychologisch zu sehr an der Oberfläche bleibt (ich bin allerdings bei Weitem keine Fachfrau, arbeite in diesem Kommentar also auch nur mit populär- bzw. halbwissenschaftlichen Hintergrund)

Woran liegt es für mich, dass der Text für mich nicht aufgeht? Zum einen empfinde ich die "psychologischen Thesen" als zu eindimensional (ein Beispiel für mich: dass der Triebtäter sich minderwertig fühlt, wird im Text als eine der elementaren "Ursachen" seines Verhaltens geschildert), zum anderen aber auch an der Komposition, wie der Text seine Thesen darstellt.

Zum Beispiel erzählt er die Erniedrigung anhand eines - für mich - sehr plakativen weil pathologisch chronologisch zusammenstauchenden Beispiels:

grazile Blondine mit den schier endlosen Beinen hatte sich ihm förmlich aufgedrängt, dort in der Herrenabteilung des Kaufhauses. Es war also nicht seine Schuld.

Die zwei Kaschmirpullover, die sie ihm mit den Worten „die betonen Ihren so schön durchtrainierten Oberkörper äußerst vorteilhaft“ angetragen hatte, hatte er dermaßen ausgiebig und größte Versunkenheit vortäuschend gemustert, dass sie ihn schließlich schulterzuckend sich selbst überlassen und von ihrer demütigenden Gegenwart erlöst hatte.

Der Geruch ihres Parfüms und die V-form ihres Dekolletees in der tiefausgeschnittenen, lippstiftroten Bluse jedoch hatten sich bereits in seine Wahrnehmung eingebrannt und dort eine nun schwärende Wunde hinterlassen, die drängend schmerzte.


Natürlich kann Erniedrigung eine Ursache sein, die das Muster des späteren Verhaltens von Triebtätern erzeugt. Zum einen muss das aber nicht die Ursache sein (das allein wäre keine Kritik, erst mit meinem allgemeinen Eindruck, dass der Text psychologisch mir zu stereotyp arbeitet, wirkt auch das hier für mich zu standardmäßig ausgewählt), zum anderen ist das Verhältnis soweit ich weiß meistens nicht so 1:1 (Frau erniedrigt Mann > Mann reagiert auf Frauen), sondern die ursprünglichen Formen der Erniedrigungen liegen in anderen, meist sogar gar nicht sexuell konnotierten Bereichen - der Text erzählt hier nichts und setzt dadurch 1:1. Und drittens müssen die Reize, die die entsprechenden Verhaltensmuster in Gang setzen, nicht so übermäßig vorherrschen, wie ich sie in dem Beispiel vorfinde (die hervorgehobenen Stellen machen die Superlstivreizperson deutlich - für mich wirkt das nicht realistisch / aber auch, dass anhand dieser Szene alles aberzählt wird, verzerrt für mich die Innenschau zu einem Klischee).

Das zweite große Problem des Textes liegt für mich in der Erzählperspektive. Auch diese möchte in meinen Augen zuviel auf einmal sagen: Einerseits spricht er in affektgeladenen Begriffen wie "Fotzen" und dergleichen, andererseits spricht er sehr reflektiert "Da halfen auch das ganze harte Muskeltraining und der Kampfsport dreimal die Woche nichts.".
Natürlich kann es solch einen genialverschobenen Menschen geben, natürlich pendeln viele probelamtische Psychen zwischen Kompensation, Aggression und Erkennen hin und her, aber ich glaube, dieser sehr "reine" Typ bildet die Ausnahme und im Gesamtkontext baut er für mich ähnlich wie die auf Unterhaltungsniveau gut gemachten Hollywoodthriller mit dem genialbrutalen Rätselmassenmörder (Stirb langsam III, Hannibal etc.) Distanz auf - die Energie, die Spannung ist da - aber die Authenzität leidet.


Und noch ein Detail:

Ein Nichts! Zu klein, zu ungebildet


Der Sprachstil, der ja zugleich Denk- bzw. Sprechstil des Triebtäters ist (wenn auch die Erzählinstanz noch komplizierter ist) und auch die Gedanken und der Komplexitätsgrad der Herablassung zeichnen eher einen Täter, der gebildet ist, das würde ich rausnehmen.

Insgesamt möchte ich gar nicht sagen, dass der Text völlig verfehlt ist. Ich würde einfach sagen, er befindet sich auf dem Weg - du schreibst ja selbst, dass das ganze für dich eine Studie, eine Annäherung an das Thema war und ist - ich kann mir vorstellen, dass der text einfach noch etwas von den Gedanken wegreifen muss; es müssen noch Bilder (konkrete Erinnerungen, Macken, Vorgehensweisen) entstehen, die keinen Allgemeinplatz bilden und doch etwas in sich tragen, die erzählen, was gerade in einem Vergewaltiger vorgeht. Die kommen dann wahrscheinlich ganz woanders her und zusammen geht das ganze dann auf.

Den Film, auf den der Text referiert, kenne ich übrigens nicht - es tut mir Leid, wenn dadurch eine wichtige Kenntnis für das Kommentieren deines Textes fehlt.
Zudem hoffe ich, dass meine Ausführlichkeit nicht so wirkt, als wollte ich durch sie den Text zunichte machen - vielmehr ist es bei Sachen, die mich wirklich interessieren, einfach so, dass ich mich gern in Details versteige, ja verbeiße.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Mnemosyne » 14.03.2010, 10:31

Hallo Keinsilbig,
den Film habe ich mir bisher noch nicht angesehen, aber thematisch scheinen der Film und dein Text mir dem "Tagebuch eines Vergewaltigers" der italienischen Autorin Pellegrino nahe zu stehen. (Dort fängt der Täter allerdings eine Beziehung mit einem seiner eigenen Opfer an, das ihn natürlich nicht erkannt hat.)
Dein Text ist drastisch geschrieben und schockiert. Was mir fehlt, ist, trotz der Ich-Perspektive, ein Eindruck vom Inneren des Täters. Die eingebildeten Demütigungen überall, in denen sich seine Selbstverachtung spiegelt, sehe ich, nicht aber, wieso seine Taten ihm als (Er)Lösungsweg erscheinen bzw. inwiefern sie ihm evtl. tatsächlich eine zeitweise Erleichterung verschaffen. Da kann ich mir nun einige dazu denken - die Vergewaltigung könnte von ihm z.B. als Rache für die vermeintliche Demütigung betrachtet werden. Oder er redet sich das insgeheime Einverständnis seiner Opfer ein, und zieht daraus das Gefühl, attraktiv und begehrt zu sein. Oder er versucht während seiner Taten sogar völlig zu ignorieren, dass er überhaupt Zwang ausübt. (Dazu würde es passen, dass ihn die blutverschmierten Gesichter "abtörnen".) Oder er zieht im Gegenteil gerade aus seiner Fähigkeit, Macht gegen den Willen anderer auszuüben, ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit. Oder er glaubt, von seinen Opfern nur das zu nehmen, was diese ihm böswillig vorenthalten, obwohl es ihm zusteht. Oder er folgt einem übermächtigen Trieb, obwohl er sein Handeln selbst als furchtbar empfindet. (Scheint mir für deinen Prot allerdings am wenigsten plausibel.) Oder...
Hierzu finde ich in deinem Text wenig Hinweise, wodurch der Weg von der fehlenden Selbstachtung zur Gewalttat mir letztlich unklar bleibt. Hier ist der Interpretationsspielraum so groß, dass ich meine Gedanken zum Text schon nicht mehr als Deutungen, sondern eher als Projektionen eigener Ideen empfinde.
Ich hoffe, das war nicht zu wirr. Vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen.
Viele Grüße
Merlin
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 14.03.2010, 17:24, insgesamt 1-mal geändert.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 14.03.2010, 15:43

puh, ja.

was soll ich sagen, Lisa und Merlin,


danke für die ausführlichen kommentare!

eure intensive beschäftigung mit dem thema, angestoßen von meinem text ("beschäftigung mit dem text" passt ja eigentlich nicht so ganz - aber wo ist da die berechtigte grenze zwischen text-bereich und themen-bereich und wer zieht die?) , sagt mir natürlich: ich habe da etwas in bewegung versetzt. etwas, das von mir schon einmal unter "positiv" für mich und mein bestreben verbucht wird.

ansonsten kann ich zu euren ausführungen nur entgegnen: diese ansprüche kann ich schlicht und einfach nicht erfüllen. zum teil, weil ich die wahl hatte zwischen seitenlangem essay zum thema oder einem kurztext, und mich dann für letzteres entschied (und dementsprechend ist einiges von dem, was hier "angemahnt" wird, dem "genre" geschuldet), zum teil, weil ich persönlich das eben nicht "leisten" kann.

merlin, du sagst
Hier ist der Interpretationsspielraum so groß, dass ich meine Gedanken zum Text schon nicht mehr als Deutungen, sondern eher als Projektionen eigener Ideen empfinde.
und führst es als negatives kriterium für eine bewertung des textes ins rennen. ich aber schätze (und möchte dementsprechend) genau DAS - fläche für projektionen der eigenen ideen des lesers bilden.

insofern ist mir das ja anscheinend gelungen. viele "oder"-optionen scheinen dir ja möglich und erwachen in deinem kopf zum leben beim verarbeiten meines textes. und wo viel oder, da auch viel bewegung beim leser, die mein text angestoßen hat. und das freut mich dann, wenn ich diese rückmeldung erhalte.



lieber gruß,

keinsilbig

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.03.2010, 20:32

Liebe keinsilbig,
eure intensive beschäftigung mit dem thema, angestoßen von meinem text ("beschäftigung mit dem text" passt ja eigentlich nicht so ganz - aber wo ist da die berechtigte grenze zwischen text-bereich und themen-bereich und wer zieht die?) , sagt mir natürlich: ich habe da etwas in bewegung versetzt. etwas, das von mir schon einmal unter "positiv" für mich und mein bestreben verbucht wird.


Das sehe ich auch so, ganz bestimmt!

Und zur "Leistung": Ich hab bisher noch nicht mal versucht einen solchen Text zu schreiben - und ich glaub auch nicht, dass ich dafür mal ein Gefühl bekommen werden. Kritik üben ist ja immer leichter...

liebe Grüße,
Lisa
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