Der Traum

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Sam

Beitragvon Sam » 09.03.2010, 17:23

Der Traum

Im Dezember 1941 wurde Horst Kuchheuser in der Nähe von Moskau von russischen Soldaten gefangen genommen, misshandelt und dann zu Oberst Ilja Saborowitsch Haskajew gebracht, der ihn verhören sollte.
Die Verletzungen Kuchheusers betrachtend, drückte Haskajew zunächst sein Bedauern über die Grobheit seiner Kameraden aus. Nicht ohne zu erwähnen, dies sei die logische Folge dessen, was die deutsche Armee seit Monaten seinen Landsleuten antue.
„Zu schade“, sagte Haskajew, „dass man euch dazu zwingt, Menschen zu morden, die eure Freunde und Nachbarn sind.“
Darauf meinte Kuchheuser, er wäre nicht aus Zwang hier, sondern er habe sich freiwillig gemeldet. Einen schönen Posten hätte er gehabt, in der Heimat, als Ausbilder an Flugabwehrgeschützen. Aber da wäre dieser Traum, den er jede Nacht träumte seit seine Tochter in einen See gestürzt und ertrunken war. Ein blaues Kleid trüge sie in diesem Traum und stünde am Ufer eines Flusses, auf dem Eisschollen schwimmen, die wie Spiegelscherben aussahen. Die Moskwa, wie er von einer Reise wüsste, die ihn als jungen Mann einmal in die russische Hauptstadt geführt hätte. Der Fluss schien das Mädchen zu beschützen oder zu bedrohen und sie sagte: ‚Ich bin doch hier’.
Haskajew lachte laut.
„Wegen eines Traumes bist du in den Krieg gezogen? Was hast du geglaubt, hier zu finden? Deine Tochter?“
Kuchheuser schwieg.
„Du bist ein Narr“, sagte Haskajew. „Auch ich habe einen Traum und ich träume ihn jede Nacht, denn ich habe ebenfalls ein Kind verloren. Mein Sohn Jirgi starb durch die ersten Kugeln, die ihr auf unsere Heimat abgeschossen habt. In dem Traum sehe ich ein Haus, es ist aus Backsteinen gemauert und liegt auf einer Anhöhe über einem kleinen Bach. Die Eingangstür ist verschlossen, darum gehe ich um das Haus herum und komme in einen Garten, in dem Kräuter wachsen und Kartoffeln. Und neben einem kleinen Brunnen, zwischen Tontöpfen und Blecheimern, an einer efeubewachsenen Wand lehnend, sehe ich Jirgi. Auch wenn er mir fremd erscheint, so weiß ich doch, dass er es ist.“
Haskajew hielt einen Moment inne, als hätte er Angst den Traum zu verlieren, wenn er weiter davon erzählte.
„Keine Ahnung“, sagte er dann, „wo sich dieses Haus befindet und ob es überhaupt existiert. Jedenfalls käme ich nie auf die verrückte Idee, danach zu suchen. Es ist nur ein Traum.“
Und er fügte noch hinzu:
„Träume und Menschen haben eines gemeinsam: Man kann ihnen nicht trauen. Was dich betrifft, du wirst hier nichts finden, außer den Tod.“

Noch am selben Tag wurde Kuchheuser bei einem Vorstoß der deutschen Armee befreit. Einmal konnte er im Kampfgetümmel den Oberst Ilja Saborowitsch Haskajew sehen, wie er sich mit einem Bajonett gegen drei Angreifer wehrte. Doch dann wurde er vom Kampf fortgerissen und verlor den Russen aus den Augen.

Horst Kuchheusers Heimweg dauerte viele Jahre. Als er seiner Heimat nicht mehr fern und der Krieg schon hundert Mal verloren war, verließ er seine Kameraden und machte sich auf den Weg nach Hause. Schließlich sah er von weitem jene Senke, die man den goldenen Grund nannte, weil dort im Spätsommer das Getreide reif in der Sonne glänzte. Er erkannte seine Heimatstadt und, als er näher kam, sein Haus. Es war aus roten Backsteinen gemauert und stand auf einem Hügel oberhalb eines kleinen Baches. An der Haustür angelangt, besann er sich und ging um das Gebäude herum in den Garten, wo Kräuter wuchsen und Kartoffeln. Dort, neben einem Brunnen, zwischen Tontöpfen und Blecheimern, fand er seine Frau, wie sie an der efeubewachsenen Wand lehnte.
Ein Jahr später wurde ihnen ein Sohn geboren, den sie Georg nannten.


Einen Dativlapsus ausgebessert - Danke an Scarlett!
Das Wort "seitdem" auf "seit" geändert. - Danke an Leonie
Zuletzt geändert von Sam am 11.03.2010, 17:21, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.03.2010, 00:56

Hi Sam,

erste Eindrücke von mir nach mehrfachem Lesen:
insgesamt wirkt die Geschichte auf mich zu konstruiert oder präziser ausgedrückt: die Komposition wirkt konstruiert. Es beginnt so sachlich (zu sachlich?), dann kommt diese Traummotivation von Kuchheuser, die von Haskajew verlacht wird als Narrheit und dann erzählt Haskajew selbst von seinem Traum, menschelt plötzlich. Das passt für mich nicht zusammen, wirkt unglaubwürdig.
Und außerdem weiß man als Leser ziemlich schnell, wie es ausgehen wird. Die Story ist m.E. zu vorhersehbar. Nach diesem Satz:
Sam hat geschrieben:„Keine Ahnung“, sagte er dann, „wo sich dieses Haus befindet

wusste ich sofort, wie das Ende aussehen würde. Da schließt sich zwar ein Kreis, in dem Kuchheuser seinen Sohn nach dem Sohn von Haskajew benennt, doch es wirkt auf diese "Pointe" hin geschrieben auf mich. Das ist schade, finde ich.
Vielleicht liegt es an der Kürze der Geschichte. Wäre sie länger und auserzählter, würde dieser Effekt wahrscheinlich nicht entstehen.

Saludos
Mucki

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.03.2010, 09:07

Eine wunderbare Parabel ist dir hier geglückt, Sam, fast schon klassisch im Aufbau und der Aussage!

Einzige "Mäkellei": "Wegen einem Traum bist du ... " Da schreit mir der Dativ in den Ohren.

scarlett

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 10.03.2010, 15:43

Lieber Sam,

deine Geschichten sind immer etwas Besonderes und fallen wie Kieselsteine ins Wasser, um dort kreisförmige Ringe zu bilden. Sie sind "Kunstgeschichten", so wie man von "Kunstmärchen" sprach und gefallen mir sehr. Die Konstruktion ist kaum spürbar, sie ist der scheinbar solide Untergrund, auf dem der Sinn ins Schwimmen gerät. Der Realismus der Geschehnisse - die Namen, die Kriegshandlung, Folter, Töten, und das Gespräch von Männern, die eigentlich "Freunde und Nachbarn" sind, vermittelt mir das Gefühl, einem erlebten Ereignis beizuwohnen. Der Surrealismus - der ausgetauschte Traum - das Vertauschen der Kinder - wie im Märchen bewirkt eine melancholische Tragik, die von den Weiterlebenden empfunden wird, und an der ich als Leserin teilhabe.

Eine Geschichte, die mich aus den angeführten Gründen mitnimmt und meine Nachkriegsmelancholie anspricht ...

eine kleine Frage:

du schreibst
Träume und Menschen haben eines gemeinsam: Man kann ihnen nicht trauen. Was dich betrifft, du wirst hier nichts finden, außer den Tod.“


sollte es nicht heißen:
außer dem Tod ?


liebe Grüße

Renée

Sam

Beitragvon Sam » 10.03.2010, 17:34

Hallo Mucki,

vielen Dank für deine Meinung zu dem Text. Was das "Konstruiert" angeht, so kann ich dir nicht widersprechen, der Text ist konstruiert und versucht Reales mit Fantastischen zu verbinden. wie sehr das nun als Konstruktion im negativen Sinne wahrgenommen wird, ist wahrscheinlich von Leser zu Leser unterschiedlich.
Bedingt durch diese Mischung ist auch die Offenheit und Sentimentalität des russischen Oberst.

Dass man das Ende der Geschichte ahnt - ja davon gehe ich aus. Zumindest diejenigen, die die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht kennen. Ich habe versucht eine dieser Geschichten zeitlich zu versetzen und ihr auch das Zwingende zu nehmen. Meine geschichte ist also weniger auf eine Pointe hin geschrieben, sondern sie benutzt eine Pointe, die schon ziemlich alt ist.

(Die Geschichte handelt von einem Mann, der von einem Schatz träumt, der an einem Ort in einem fernen Land vergraben ist. Er reist dorthin, wird aber in jener Stadt gefangen genommen und schließlich von einem Wächter verhört. Diesem erzählt er seinen Traum. Der Wächter lacht ihn aus und sagt, er hätte den gleichen Traum und beschreibt den Ort, wo der Schatz seines Traumes begraben liegt. Und dieser Ort ist eben genau das Haus des Mannes, der so weit gereist war. Er kehrt zurück und findet daheim den Schatz. - so grob habe ich es in Erinnerung. Es ist lange her, dass ich es gelesen habe und mein Text hat auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel)


Hallo scarlett,

herzlichen Dank! Freut mich sehr, wenn dir die kleine Geschichte gefällt. Klassisch - nun ja, insofern, als dass ich es gewagt habe, einen Klassiker ein wenig zu verändern.
(Siehe bitte meine Antwort an Mucki)

Danke auch für den Hinweis auf den Dativ! (Oh Herr, lass Deutschkenntnisse über mir regnen!!) :-)


Hallo Renée,

auch dir vielen Dank! Dein Lob freut mich sehr. Du erwähnst das Märchenhafte. Wie ich in meiner Antwort an Mucki erwähnt habe, ist diese Geschichte auch tatsächlich ein Märchen, welches ich ein wenig verändert habe. Etwas hochtrabend ausgedrückt: Der Versuch von magischem Realismus auf eine moderne und vielleicht auch deutsche Art (ein Versuch natürlich, den man vielleicht auch als gescheitert bezeichnen kann). Insofern trifft der Begriff "Kunstgeschichte" wahrscheinlich zu, weil nicht nur das Erzählen der Geschichte im Vordergrund steht, sondern eine gewisse Idee oder ein Konzept.

Heisst es nun "dem Tod" oder "den Tod"? Er findet den Tod. Er findet nichts, außer den Tod. Ich bin mir nicht ganz sicher (siehe meine Dativschluderei), meine aber, dass "den Tod" richtig ist. Bin aber für Gegenargumente jederzeit offen :-)

Euch Dreien nochmals herlzichen Dank!

Gruß

Sam

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.03.2010, 17:44

Das ist so richtig, Sam: Er findet nichts außer den Tod.

scarlett

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Beitragvon Zefira » 10.03.2010, 17:49

Lieber Sam,
zu "finden" gehört Akkusativ, zu "außer" hingegen Dativ. Siehe hier (Link von canoo.net, einer in Rechtschreibung recht vertrauenswürdigen Seite) ... Ich hätte auch "außer dem" geschrieben.
Schönen Gruß
Zefira
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(Ikkyu Sojun)

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.03.2010, 18:09

Na ja, mag sein, Zefira, ich beziehe mich auf den Duden, Band 9 und da heißt es:

"Wenn das Bezugswort des auf "außer" folgenden Substantivs im Nominativ, Genitiv oder Akkusativ steht, ist es möglich, dieses in den gleichen Kasus zu setzen; "außer" ist dann Konjunktion".

Und so habe ich das hier aufgefasst.

LG,
scarlett

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Beitragvon Zefira » 10.03.2010, 18:13

Kann gut sein, dass beides geht. Hin und wieder darf man in unserer schönen Sprache ja auch mal was so machen, wie man will.
:mrgreen: Zefira
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(Ikkyu Sojun)

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.03.2010, 18:19

Stimmt, Zefira ... *ggg*

scarlett

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Beitragvon leonie » 10.03.2010, 18:23

Lieber Sam,

mich erinnert Deine Geschichte an eine andere von dem Mann, der von einem Schatz geträumt hat, ich weiß aber nicht mehr genau, wie sie geht, vielleicht kennt jemand sie und hat sie irgendwo zum Nachlesen.

Für mich regt die Geschichte sehr zum Nachdenken an. Es schwingen für mich Themen wir "Geschwisterlichkeit", Stellvertretung u.a. mit, das ist gut gemacht, finde ich.

Hier:

Sam hat geschrieben:Aber da wäre dieser Traum, den er jede Nacht träumte seitdem seine Tochter in einen See gestürzt und ertrunken war.


meine ich, dass es "seit" heißen müsste.

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 11.03.2010, 17:19

Hallo Scarlett und Zefira,

danke nochmals für eure Hinweise. Vielleicht geht ja wirklich beides. Ich lasse es ersteinmal bei "den Tod"

Hallo Leonie,

auch dir vielen Dank! Ich denke, die Geschichte, die du erwähnst, von dem Mann, der einen Schatz träumt, ist diejenige, die die Grundlage für den Text bildet (siehe meinen Kommentar zu Mucki).

Mit deinem Hinweis bezüglich "seitdem" hast du glaube ich Recht. Ich werde das ändern.

Liebe Grüße

Sam

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Beitragvon leonie » 11.03.2010, 18:02

Ja, ich hatte das gelesen, Sam, und fragte mich, ob es wohl die Geschichte ist. Weißt Du, wie sie heißt? Ich würde sie gerne nachlesen können.
Es ist eine spannende Idee, sie auf diese Weise ganz neu zu fassen und etwas Eigenes daraus zu machen.

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 13.03.2010, 06:54

Hallo Leonie,

leider weiß ich nur, dass es eben eine der Geschichten aus 1001 Nacht ist. Ich muss mal die Bibiothek meines Vertrauens konsultieren. Die haben da irgendwo eine 15-bändige Gesamtausgabe herumstehen.

Gruß

Sam


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