Grenzen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 13:36


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Grenzen

1960
Paul sitzt am Schreibtisch seines Vaters. Vor ihm ein Schulheft, DIN A 5, kariert. Hinter ihm sein Vater.
Paul schaut durch das große Fenster nach draußen. Der Efeu hat sich hochgerankt. Einige frische Triebe lugen über den Rahmen.
"Weiter!" Die Stimme seines Vaters drängt.
Paul setzt eine neue Zahlenreihe in die Kästchen. Der Vater legt das Lineal an und streicht sie durch.
"Noch einmal! Sie dürfen die Ränder nicht berühren! Du hast die Zahlen in die Mitte zu setzen."
Die Seite besteht aus bisher 30 durchgestrichenen Zeilen. Paul setzt erneut an. Das Lineal folgt.

1972
Paul hat sich zum Abitur durchgehangelt. Abschluss mit 2,3.
Der Efeu umrankt fast das ganze Haus. Die Fenster sehen wie sauber ausgeschnittene Quadrate aus.
Auf Wunsch seines Vaters beginnt Paul eine Lehre als Bankkaufmann.
Der Efeu wuchert.


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© Gabriella Marten Cortes 2010

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.01.2010, 14:14

Hi Andreas,

den Schreibtisch des Vaters habe ich aus den von dir genannten Gründen gewählt. Meiner Ansicht nach ist es für Paul beklemmender, wenn er sich, zusätzlich zu dem ganzen Druck, auch noch im "Reich seines Vaters" aufhalten muss, sprich, nicht einmal in seinem eigenen Zimmer sein darf. Der Schreibtisch des Vaters soll noch einmal die Omnipräsenz des Vaters ausdrücken.
Zu deinem 2. Hinweis: hier sind schon die Zahlen gemeint und ich glaube, dass man das auch versteht, durch den folgenden Satz.
Ich freu mich, dass dir der Text gut gefällt.

Saludos
Mucki

scarlett

Beitragvon scarlett » 18.01.2010, 15:58

Hallo Mucki,

wollt nur kurz rückmelden, dass auch mir dieser Text gut gefällt.

Das Motiv des Efeus ist dabei für mich gleich doppelt gut gewählt; ich lese es nicht ausschließlich auf den Vater bezogen.

Im Efeu wird oft nur das destruktive Element gesehen, er gilt als zäh und kräftig, er wirkt dunkel, zerstörerisch, Eigenschaften wie hartnäckig und beharrlich lassen sich damit allerdings auch verbinden.
Auf der anderen Seite steckt auch etwas Kreatives in ihm, er kann etwa hässliche Wände verschönern, er verkörpert Nehmen und Geben gleichermaßen: er blüht später als alle anderen Pflanzen, er bietet Nahrung und Schutz im Winter.

Wenn Paul sich durchgehangelt hat, so hat er sich ja auch durchsetzen, behaupten können - so wie hatnäckiger Efeu. Trotz allem. Der Vater überschreitet natürlich Grenzen (wie der Efeu, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet), aber auch Paul - etwa seine eigenen?
Und das offene Ende sehe ich daher weniger negativ - Paul wird seinen Weg machen.

Liebe Grüße,

scarlett

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.01.2010, 16:03

Hallo Monika,

danke dir für dein Lob. Da freue ich mich.
All das, was du schreibst, steckt im Text, jep.

Saludos
Mucki


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