Grenzen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 13:36


Neue Version

Grenzen

1960
Paul sitzt am Schreibtisch seines Vaters. Vor ihm ein Schulheft, DIN A 5, kariert. Hinter ihm sein Vater.
Paul schaut durch das große Fenster nach draußen. Der Efeu hat sich hochgerankt. Einige frische Triebe lugen über den Rahmen.
"Weiter!" Die Stimme seines Vaters drängt.
Paul setzt eine neue Zahlenreihe in die Kästchen. Der Vater legt das Lineal an und streicht sie durch.
"Noch einmal! Sie dürfen die Ränder nicht berühren! Du hast die Zahlen in die Mitte zu setzen."
Die Seite besteht aus bisher 30 durchgestrichenen Zeilen. Paul setzt erneut an. Das Lineal folgt.

1972
Paul hat sich zum Abitur durchgehangelt. Abschluss mit 2,3.
Der Efeu umrankt fast das ganze Haus. Die Fenster sehen wie sauber ausgeschnittene Quadrate aus.
Auf Wunsch seines Vaters beginnt Paul eine Lehre als Bankkaufmann.
Der Efeu wuchert.


► Text zeigen



© Gabriella Marten Cortes 2010

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 15.01.2010, 15:26

liebe gabriella,

schöner text. spricht mich an.


paar gedanken:
► Text zeigen

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 16:24

Hallo Aram,

danke für deinen Kommentar. Einiges leuchtet mir ein. Z.B. das Streichen von "liegt", "steht" und "ihn zurück" u.a.
Ja, ich denke mir Paul als Zweitklässler, also 7 Jahre alt.
Ich warte erst mal weitere Kommentare ab. Dann ändere ich in einem Rutsch.

Saludos
Mucki

DonKju

Beitragvon DonKju » 15.01.2010, 16:47

Hallo Gabriella,

zwar ein kurzer, aber deshalb nicht weniger atmosphärischer Text; Ich bin einfach mal durchgerauscht und habe spontan meine Ideen hineinverfrachtet :

"... Vor sich ein Schulheft, DIN A 5, kariert. Hinter ihm der Vater. Paul schaut nach draußen. Der Efeu hat sich schon bis zum Rahmen hochgerankt. "Weiter!" Die Stimme des Vaters drängt ihn zurück. Paul setzt eine weitere Zahlenreihe in die Kästchen. Der Vater streicht sie wieder mit dem Lineal durch. "Noch einmal! Die Zahlen dürfen die Ränder nicht berühren, du hast sie genau in die Mitte zu setzen." Auf der Seite befinden sich bisher 30 durchgestrichenen Zeilen. Paul beginnt von neuem. Das Lineal folgt. Unerbittlich.

1972
Paul hat sich zum Abitur durchgehangelt. Abschluss mit 2,3. Der Efeu umrankt nun fast das ganze Haus. Die Fenster gleichen genau ausgeschnittenen Quadraten. Auf Wunsch seines Vaters beginnt Paul eine Lehre als Bankkaufmann. Der Efeu wuchert."

Viellleicht ist ja das eine oder andere für Dich eine Überlegung wert ...

Mit lieben Grüßen dazu der Hannes

Heidrun

Beitragvon Heidrun » 15.01.2010, 17:15

Hallo Gabriella,

bei diesem Text kann ich keinen Änderungsbedarf erkennen.

Er klingt für mich fast wie der erste Teil einer Chronologie aus einer Boulevardzeitschrift (in meinem Sinne hier: positiv). Nur der dritte (gedachte) Abschnitt fehlt noch, der den "gelungenen" Suizid des Protagonisten aufzeichnet.

Du lässt den Ausgang offen - was ich vortrefflich finde - schilderst lakonisch die Fakten dieser grässlichen Dressur, enthältst dich aber jeder Wertung.

Mir gefällt das sehr.

Liebe Grüße
Heidrun

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 17:25

Hallo Hannes,

danke auch dir für deine Anmerkungen, die sich denen von Aram ähneln. Nur eines: das "unerbittlich" kommt auf keinen Fall hinein, da ich hier ganz bewusst auf jegliche Emotionen und Wertungen verzichte.

Hallo Heidrun,

ja, es ist eine Chronologie, bei der sich der Leser den Fortgang selbst vorstellen soll. Eingeläutet ist er ja durch das "Der Efeu wuchert". Man ahnt also, dass etwas geschehen, Paul aus diesen Grenzen ausbrechen wird, wie auch immer dies aussehen mag.
Und genau: ich habe das Ende bewusst offen gelassen und keine Wertungen eingebracht. Danke dir für deinen Eindruck.

Saludos
Gabriella

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 15.01.2010, 18:08

Liebe Mucki,

Das gefällt mir auch sehr gut, die paar Striche von Aram fände ich gut.

Dieser beschreibende kühle Erzählstil trifft ganz schön ins Herz, wenn ich mir den kleinen, gequälten Jungen vorstelle, meine Güte. Der Efeu, der ungerührt weiterwächst, dichter wird, sich raufhangelt, so wie Paul sich zum Abitur durchhangelt, ist super. Irgednwann platzt die Bombe, welche es ist, wird dem Leser überlassen. Gut so!

Liebe Grüße
ELsie
Schreiben ist atmen

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 18:23

Danke dir, liebe Elsie,

morgen werde ich mich an die Änderungen machen.

Saludos
Mucki

Herby

Beitragvon Herby » 15.01.2010, 20:18

Liebe Mucki,

dein Text spricht mich sehr an, sowohl vom Sprachstil als auch vom Inhalt. Besonders gefällt mir das Bild des rankenden Efeus. Elsa zieht von ihm den Vergleich zu Paul, ich muss dabei eher an den Vater denken, der sich an seinem Sohn "rauf hangelt" und seinen "Wuchs", seine Entwicklung (Berufswahl) beeinflusst. Ich (von Botanik nicht einmal den Hauch vom Schimmer einer Ahnung) glaube zu wissen, dass rankender Efeu anderen Pflanzen Luft und Licht nimmt, sie praktisch einschnürt. Sollte das stimmen, wäre es für mich auf das von dir beschriebene Vater -Sohn Bild durchaus übertragbar. Der Vater "wuchert"...

Sehr gern gelesen!

Lieben Gruß
Herby

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.01.2010, 21:42

Lieber Herby,

ich freu mich sehr, dass dich das Textlein anspricht und vor allem, dass du die zweite Symbolik des Efeus, die da im Text steckt, gefunden hast. So ist es von mir intendiert. Den Efeu habe ich genau aus dem Grund gewählt, da er ufert, ausufert (Grenzen überschreitet, wo es ihm passt), rankt, wuchert, alles Eigenschaften, die größtenteils auf den Vater zutreffen und zum Teil auf Paul (das "durchhangeln") und das "wuchernde Element" bei ihm, das jedoch erst am Ende des Textes angedeutet wird.

Saludos
Mucki

Herby

Beitragvon Herby » 15.01.2010, 23:50

Liebe Mucki,

Gabriella hat geschrieben:die größtenteils auf den Vater zutreffen und zum Teil auf Paul (das "durchhangeln")


Hiermit habe ich ein Problem. Das Verb "durchhangeln" in dem von dir gebrauchten Sinne "sich zum Abitur durchhangeln" hat für mich viel mit Zuständen zu tun, die man umgangssprachlich beispielsweise als "in der Luft hängen", "durchhängen (Durchhänger haben)", "mehr Glück als Verstand haben" nennt. Das passt aber dann für mich nicht mehr zum Bild des Efeus, das mit einer - übertrieben ausgedrückt - erbarmungslosen Effizienz - rankt und wuchert und dabei scheinbar mühelos auch Hindernisse überwindet, sofern der Mensch ihm nicht Einhalt gebietet. Insofern wäre dann für mich auch dieser Teil der Symbolik, Paul betreffend, nicht stimmig.

Herzlichst
Herby
Zuletzt geändert von Herby am 16.01.2010, 00:14, insgesamt 1-mal geändert.

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 16.01.2010, 00:01

Gabriella hat geschrieben:ja, es ist eine Chronologie, bei der sich der Leser den Fortgang selbst vorstellen soll. Eingeläutet ist er ja durch das "Der Efeu wuchert". Man ahnt also, dass etwas geschehen, Paul aus diesen Grenzen ausbrechen wird, wie auch immer dies aussehen mag.

Saludos
Gabriella


Liebe Mucki, lieber Herby,

Hier schreibt Mucki ja, dass Paul eines Tages - so lese ich das o.g. Zitat - genauso zäh die Macht des Vaters überwuchert, aber noch "hangelt" er sich unter dessen Einfluss zum Abitur. Oder verstehe ich das falsch?

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Herby

Beitragvon Herby » 16.01.2010, 00:33

Elsa hat geschrieben:aber noch "hangelt" er sich unter dessen Einfluss zum Abitur.


Liebe Elsa, aber gerade um dieses "noch" geht es mir ja. Das Ausbrechen aus Grenzen kommt ja in der Abfolge erst später, nach dem Abi. Meine letzten Ausführungen und Bedenken hinsichtlich des Verbs "durchhangeln" beziehen sich auf den Zeitabschnitt bis Erreichen des Abiturs.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 16.01.2010, 00:37

Jep, Elsie. Du hast Herby's Frage für mich beantwortet. Genauso ist es gemeint.

Herby, Paul "hangelt" sich durch, sprich: in all den Jahren, in denen sein Vater "wuchert", die Grenzen des Sohnes überschreitet, "hangelt" Paul sich durch, er hält es irgendwie durch/aus.

Saludos
Mucki


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 11 Gäste