Griff ins Leere - DZusG V

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 02.01.2010, 21:36

Hier steht Teil IV:
viewtopic.php?f=1&t=10308&p=136647#p136647



Griff ins Leere


Fatai ist keine große Stadt. Je nach Windrichtung weht ein Duft von Wald, Meer oder Gebirge um die Backstein- und Fachwerkhäuser. Gassen aus Kopfsteinpflaster wecken durch ihren engen, verwinkelten Verlauf die Erinnerung an eine Gründerzeit, die von Stadtarchitektur und Bebauungsplänen noch nichts wußte. Hier und da steigt aus einem Schornstein eine Rauchfahne in die Höhe. Die Straßenbeleuchtung ist spärlich: Einige wenige Gaslaternen säumen den Marktplatz und die anliegenden Straßen. Zur Nachtzeit wirft ein naher Leuchtturm taghelle Blitze über die Dächer.
Vor dem Hintergrund der Berge wirken die Häuser wie junge Tiere, die sich in einer kleinen Herde ängstlich zusammen drängen.
Einige Wände und Türen tragen die Zeichen des Ordens der Gâl-Gatai.
"Dummerjungenstreiche" blinzelt man sich zu, atmet auf und lächelt halb. Undenkbar, daß der alte Kult noch Anhänger besitzen soll. Ein ganzes Lächeln angesichts der Runenzüge bringt niemand recht zustande. Wo man sie sieht, bemüht man sich um eilige Beseitigung.

An der Zimmertür klopfte es. "Dr. Konit? Sind Sie schon wach?"
Dumme Frage. Das Gepolter war laut genug, selbst einen Schwerhörigen zu wecken.
Sein Wecker zeigte 6.55. In fünf Minuten hätte er geklingelt. Sechs Stunden Schlaf reichten kaum aus, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Mißgelaunt öffnete er die Tür. Ein kleiner Mann mit Glatze, Schnauzbart und Brille streckte ihm von unten die Hand entgegen.
"Guten Tag. Herzlich Willkommen in Fatai. Es ist uns eine Ehre, Sie hier zu haben. Ich bin Kommissar Halvoder, Leiter der hiesigen Polizeidienststelle."
Zehn Minuten später machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Wache. Kaum waren sie zur Tür hinaus, als Halvoder das Gespräch eröffnete.
„Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung, aber wir waren uns nicht sicher, ob Sie wirklich angekommen sind. Unser Fahrer hat sich gestern Abend wegen eines platten Reifens etwas verspätet, und als er am Bahnhof ankam, waren Sie schon fort. Darf ich fragen, wie Sie hergekommen sind?“
Provinzler. Kein Wunder, daß sie nicht weiter wußten, sobald die Angelegenheiten über einen Ladendiebstahl hinausgingen. Offenbar waren sie nicht einmal in der Lage, jemand vom Bahnhof abzuholen, ohne daß die eine Hand nicht wußte, was die andere tat.
„Mit dem Taxi, das auf mich gewartet hat.“ Erwiderte er betont knapp, mit einem Unterton tadelnder Schärfe.
„Oh, ein Taxi? Das muß wohl einer von uns bestellt haben, ohne mir etwas davon zu sagen. Eigentlich wußte ich nicht einmal, daß es hier ein Taxiunternehmen gibt. Nun, jetzt sind Sie ja da. Und gleich da vorne ist auch die Wache. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Büro.“
Das Büro war den Umständen entsprechend annehmbar, wenn auch in seiner Ausstattung etwas spartanisch. Ein leeres Regal, ein Schreibtisch mit je einem Stuhl auf jeder Seite, Telefon. Konit ließ sich auf den einen nieder, bot dem Kommissar den anderen an, legte die Akte auf den Tisch und lehnte sich zurück.
„Also, bitte erzählen Sie mir, was Sie haben.“
„Nicht viel, fürchte ich. Alles, was wir wissen, steht in der Akte.“
„Irgendwelche Anhaltspunkte?“
„Wären Sie dann hier? Wenn wir die hätten, stünden sie vermutlich längst in der Zeitung. Man sagte uns, Sie wüßten, wonach sie zu suchen hätten.“
Hinterwäldler. Konit vollbrachte das Kunststück, innerlich die Augen zu verdrehen.
Es war ziemlich offensichtlich, wonach hier zu suchen war – selbst die Spatzenhirne von der Presse spekulierten es von allen Dächern. Wenn, was anzunehmen war, die Verschollenen in Verbindung standen mit dem Vorfall im Gebirge, dann suchte er nach einem Kult, einer Sekte, der Anhängerschaft irgendeiner archaischen Glaubenswelt, die hier ihre Urstände feierte.

„Nun gut, kommen wir zur Sache. Wie lange sind Sie schon hier?“
Halvoder überlegte kurz. „ Seit 20 Jahren.“ Erwiderte er dann und schien über diese Zahl erschrocken. Konit konnte es ihm nachfühlen. Er hätte gerne gewußt, mit wem man es sich verderben mußte, um hierher versetzt zu werden. 20 Jahre in so einem Nest entsprachen im inoffiziellen Katalog unausgesprochener dienstlicher Ungunstbezeugungen in etwa einem „lebenslänglich“. Unter den gegebenen Umständen konnte er allerdings sehr nützlich sein.
„Dann dürften Sie die Leute hier ja kennen. Sagen Sie mir – was glaubt man hier so? Sind die Leute religiös?“
„Sie werden lachen, aber im Grunde habe ich nicht den Eindruck, lange hier zu sein. Sicher, 20 Jahre sind eine ganze Weile. Aber Sie kennen diese kleinen Gemeinden: Wenn man nicht aus ihnen stammt, gehört man nie so ganz dazu. Vermutlich ist man hier bis in die dritte Generation noch ein wenig fremd. Wie dem auch sei – in Glaubensdingen sind die Leute hier im wesentlichen recht gewöhnlich. Es wird auch nicht viel darüber geredet. Jeder, wie er mag – wie beinahe überall.“
„Gibt es besondere Religionsgemeinschaften, Kulte, Sekten, irgendetwas in der Art?“
Halvoder runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. Nach kurzem Zögern erwiderte er:
„Tja, wenn Sie so wollen – dann gibt es hier wohl so etwas wie eine Sekte. Eine kleine Gruppe – wie groß genau, kann ich Ihnen nicht sagen – von Leuten, die ihre freie Zeit damit verbringen, sich komische Säcke anzuziehen und nach Erleuchtung zu streben – oder was immer sie da treiben. Sie nennen sich selbst ‚Nubarier‘, Nebelanbeter. Harmlose Spinner, wenn Sie mich fragen“
„Wie lange gibt es die schon?“
„Ziemlich lange. Ich bin ja kein Historiker, aber sicher schon seit einigen Jahrhunderten. Zwischenzeitlich waren sie fast von der Bildfläche verschwunden. Erst seit ein paar Jahren finden sie wieder mehr Anhänger.“
„Und welche Ansichten vertreten sie? Was sind ihre Bräuche, Vorschriften, Rituale?“
„Sehen Sie, ich kann Ihnen nicht viel zu diesen Leuten sagen. Ich habe sie nie recht ernst genommen. Das Beste wird sein, Sie sehen sich nach ihrem Prediger um. Der stellt sich fast jeden Morgen auf den Marktplatz und beantwortet alle möglichen Fragen, die niemand gestellt hat.“
„Wie heißt denn dieser Prediger?“
„Sein Name ist Abdu Hab. Wenn er gerade nicht predigt, ist er unser Steinmetz. Mit etwas Glück werden Sie ihn zu sehen bekommen, wenn Sie jetzt zum Marktplatz gehen.“
Steinmetz. Es erforderte sicher einiges Geschick im Umgang mit Stein, etwas wie den Steindolch herzustellen und in seiner schon schmerzvoll erfahrenen Schärfe zu bewahren. Ein schwaches Indiz, aber immerhin. Konit dankte für die Auskunft und machte sich auf den Weg.

In einer Ecke des Marktplatzes von Fatai herrschte emsiges Gedränge. Erst als Konit näher kam, erkannte er den Grund der Aufregung. Auf einer Kiste in der Mitte des Platzes stand ein Mann in hellblauem Gewand, das in der Mitte durch einen Gürtel zusammengehalten wurde und von seinem üppigen Bauch bis auf den Boden herabfiel. Er schaute mit verklärtem Blick über sein Publikum hinweg, während er mit ausladenden Gesten und belehrender Stimme wirre Reden hielt.
„Einig sind wir uns alle, daß wir zur Ewigkeit nicht taugen. Die heutigen Gelehrten aber scheitern daran, das Wesen dieses Umstandes zu fassen. Klassisch werden hierzu zwei einander offen widersprechende Ansichten vertreten: Jeder Fortschritt stößt an eine Grenze. Jede Grenze läßt sich überschreiten. Dieses hölzerne Denken in Schranken und Schritten wird der Natur unserer Endlichkeit nicht gemäß. Die Grenze ist keine Barriere, die als ein Ding selbst Gegenstand einer Erkenntnis werden könnte. Sie ist ein allmähliches Außer-Sicht-Geraten, ein Sich-Verlieren im Unbestimmten; eine schleichende Erschöpfung der Kräfte. Was wir nicht mehr ermessen, wartet nicht hinter einer Wand - es liegt im Nebel. Die Unendlichkeit des Raumes, die beidseitige Ewigkeit der Zeit, das grenzenlose Fortschreiten der Zahlen - bietet sich das alles der Vorstellung nicht dar als übersehbarer Abschnitt, der allmählich im Dunst verschwimmt? Und so ist es nur natürlich, daß auch der Bereich des körperlich Erfahrbaren auf diese Art verendlicht ist.
Der Nebel ist die Grenze unseres durch Grenzen bestimmten Seins. Die Aufhebung dieses Seins aber, die Rückkehr in Grund und Wesen unserer Existenz, den Nebel, ist die Erlösung...“

Da brach am gegenüberliegenden Ende des Marktes lebhafter Jubel los. „Es ist Gelukar!“ rief jemand, und im Nu war der Blaurock vergessen. Statt dessen drängte nun alles nach dem bunten Troß, der über die Hauptstraße mit viel Gesang und Gejohle Einzug hielt.
An der Spitze schritt ein hagerer Kerl in einem farbenprächtigen Flickenkleid. Seine Füße steckten in Schnabelschuhen, an deren Spitzen Schellen saßen. Lange schwarze Locken fielen ihm in sein glattes, fein geschnittenes Gesicht, aus dem zwei hellblauen Augen mit unnatürlicher Klarheit hervor leuchteten. In der rechten Hand hielt er eine Art Zepter, dessen eines Ende ebenfalls mit Glocken besetzt war und das, soweit Konit erkennen konnte, aus Gold bestand. Ab und zu warf er es mit geschmeidigen Bewegungen in die Luft, wo es zahlreiche Pirouetten verrichtete, ehe er es auffing. Er strahlte, winkte ohne Unterlaß in die Menge und rief ihnen mit heller, mächtiger Stimme Grüße zu.

„Wer ist das?“ fragte Konit den Nächstbesten.
„Wer das ist fragen Sie? Ach, ich sehe, Sie sind neu hier. Das ist Giocco Gelukar, die künstlerische Seele der Stadt! Wissen Sie, wir haben hier ja nicht viel an Zerstreuung, und im Winter, da man kaum mehr hinaus kann und es grau und kalt und dunkel wird, verlieren hier einige den Mut und den Verstand – es wären weit mehr, wenn nicht Gelukar immer einen Rest von Frühling in der Tasche hätte und seine Rationen weise über die dunkle Zeit zu verteilen wüßte.“
„Also ein Unterhalter?“ fragte Konit und bemerkte seinen Fehler sogleich. Gelukar war der kulturelle Stolz dieser an Kultur sonst armen Stadt, seine Wichtigkeit verband man mit der eigenen. Folglich fühlten die Umstehenden sich sofort berufen, ihn gegen den Vorwurf, ein Unterhalter zu sein, in Schutz zu nehmen.
„‚Unterhalter?‘ Er ist ein Künstler, ein Genie wie seine Väter und Vorväter! Dramatiker, Intendant und Schauspieler, Possenreißer, Spielmann, Musiker und Komponist, Artist, Jongleur und Märendichter...“
„Sehen Sie die Blonde, die an seiner Seite geht? Das ist Amigdala, die Tochter des Bäckers. Sie läßt fast keine seiner Aufführungen aus – bei den meisten spielt sie selber mit, Gelukar hat ihr schon einige Rollen auf den Leib geschrieben – auch wenn ihr Vater das nicht gerne sieht.“
„Die Gelukars reichen sich das Narrenzepter schon durch die Generationen zu, seit in Fatai eine Chronik geführt wird. Man sagt, sie zählten zu den Gründervätern dieser Stadt – der erste sei ein Gaukler am Hof des Königs gewesen, ehe der ihn wegen einiger zu treffender Pointen in die Verbannung schickte.“
„Es gibt sogar die Legende, ihr Stammvater sei Mya-Din, der ‚göttliche Schelm‘, ein Halbgott, der durch seinen Witz und seine Streiche von sich reden machte. Die Geschichten über ihn füllen ganze Bücher...“
Konit lächelte höflich und entfernte sich. Er hatte wichtigeres zu tun. Der Anhaltspunkt war durchaus nicht zu verachten.

Einige Erkundigungen später hatte er ein recht klares Bild von der Sache.
Die Nubarier waren eine Sekte, die einem dieser uralten regionalen Aberglauben anhingen. Sie pflegten eine Art religiöser Verehrung des Nebels, der ihnen als Sinnbild des Lebens und Schlüssel aller Rätsel erschien. Ihrem Glauben zur Folge war das Dasein eine Art Krampf, von dem man nur schwer wieder loskam – gelang es, löste man sich in Nebel auf. Das war nach Vorväterglauben der Ursprung des Nebels – ein Kollektiv erlöster Seelen, Jenseits und Gott in einem.
Es lag auf der Hand, daß von einem, der solch ein Bild vom Leben pflegte, nicht viel Respekt davor erwartet werden konnte. Irgendetwas hatte den alten Wahn aus seinem Schlummer geweckt, und nun brachte ein Trüppchen Übereifriger der alten Gottheit Opfer dar – ein massenhafter Irrsinn, wie er in derart abgeschotteten Gebieten, die sich den Blicken einer aufgeklärten Öffentlichkeit durch ungünstige Launen der Natur entzogen, bisweilen eben vorkam.

Konit stellte einige Beamte ab, die führenden Köpfe Tag und Nacht zu observieren.
Bald hatte man den geheimen Treffpunkt dieses suspekten Rädels ausgespäht – gewöhnlich hielten sie zur Mitternacht in einer kleinen Scheune außerhalb der Stadt ihre Konvente ab. Von außen mochte man leicht glauben, der windschiefe Haufen fauler Planken stehe seit langem leer – dennoch berichteten die zuständigen Ermittler, es sei unmöglich, einen Blick ins Innere zu werfen. Nur scheinbar klafften Lücken in den Wänden, nähere man sich jedoch, so finde man sie dicht verschlossen, kein Lichtstrahl dringe je von außen herein oder von innen heraus.

Eine Vereinigung wie diese anzugreifen war nicht leicht. Es mußte rasch und plötzlich vonstatten gehen, niemand durfte die Gelegenheit bekommen, zu fliehen oder belastendes Material zu vernichten. Vorzugsweise erwischte man alle auf einen Schlag und frischer Tat. Außerdem brauchte man Beweise.
Unter diesen Umständen tat man am Besten eines – man wartete ab. Der richtige Zeitpunkt würde sich in Bälde ergeben.
Wenige Wochen später war er da.
Amigdala, die Tochter des Bäckers, hatte ihren Vater als vermißt gemeldet. Die Geschichte ähnelte den anderen: Sie hatten gemeinsam im Laden gearbeitet, er war für einen Moment in die Backstube gegangen, und diese war wenige Minuten später leer gewesen. Der vorteilhafte Unterschied zu den meisten übrigen lag darin, daß der Vorfall zum Zeitpunkt der Meldung noch keine halbe Stunde zurück lag.
Wenig später meldete eine dort abgestellte Streife Bewegung an der Scheune. Eine größere Gruppe von Personen war soeben hineingegangen. Unglücklicherweise sei im Laufe des Tages starker Nebel aufgezogen, so daß man mehr nicht habe erkennen können und insbesondere nicht wisse, ob der Bäcker dabei gewesen sei.
Das war nicht unbedingt ein Nachteil – im Gegenteil. Im Schutz des Nebels konnte man die Lichtung leicht unbemerkt umstellen. Konit postierte einen Ring von Polizisten in einigem Abstand rings um die Scheune.
Er schlich heran und legte das Ohr an das feuchte Holz. Mit dem, was er hörte, war er hoch zufrieden. Im Inneren wurde gesungen.
„Nimm uns zu dir. Führe uns heim. Birg uns in den Nebel.“ wiederholten sie immer und immer wieder, ein sonorer Choral, in dem die Worte hinter dem ekstatischen Drängen des Rhythmus fast verschwanden. Offenbar hielt man eine Zeremonie ab.
Eine bessere Gelegenheit gab es nicht. So schnell er konnte, robbte er zurück. Als er die Einsatzwagen erreichte, gab er das Zeichen zum Zugriff.
"Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!" schepperte es in den Dunst. Nichts rührte sich. Große Suchscheinwerfer wurden eingeschaltet, doch selbst ihr Licht drang nicht bis zur Scheune vor.
Es dauerte aber nicht lange, und ihre Hitze hatte den Brodem vertrieben. Über eine trübe Sicht konnte sich bald niemand mehr beklagen. Die Lichtung lag da, gut überschaubar, mit Binsen und Gräsern lückenlos bewachsen. Die Scheune war, zusammen mit einem guten Dutzend Personen, vor ihren Augen verschwunden.

Ein gekonntes Bubenstück. Konit hielt sich mit Mühe davor zurück, seiner Freude über einen so unverhofft würdigen Gegner durch ein Schmunzeln Ausdruck zu verleihen. Mochte der Inspektor toben und fluchen. Der war ein Bluthund, solches Wüten vor entwischter Beute war seine Natur. Er selbst kämpfte anders. Er hatte alle Zeit der Welt. Er schlug nicht, er erdrückte. Lügen war um vieles zehrender als Warten, das machte die Zeit zum letzten Probierstein, an dem die Wahrheit sich bewähren, die Lüge endlich scheitern mußte. Sie war sein Verbündeter. Sein unentrinnbarer Verbündeter. Darin lag sein Vorteil. Vielleicht hatten sich die Täter gerade ihrer Ergreifung durch eine List entzogen, für die ein Illusionskünstler von Weltruf sich nicht hätte schämen müssen. Dann mochten sie sich eine Weile verborgen halten, früher oder später mußten sie heraus. Für eine Bande von Irren war der Aufwand zu groß, die Planung zu präzise, die Inszenierung zu durchdacht. Wer immer sie waren, offenbar war, daß sie Ziele hatten. Unerreichte Ziele, die bald zu neuen Anschlägen, Treffen, Hauptquartieren führen würden. Vielleicht waren sie tatsächlich selbst Opfer. Dann war die Bühne dieses Schauspiels geradezu ein Festschmaus an Hinweisen. So oder so blieb jede Aktion der Gegenseite ein Geschenk - sie hinterließ Spuren. Und die würden sich bald finden.
Wer immer dahinter steckte, er würde sie aufspüren. Er hatte schon ganz andere zu Fall gebracht.



Beispielsweise häuften sich die Berichte, daß in den Außenbezirken um Partsa die Zahl der Verschwundenen weit höher sei – und damit nicht genug: Auch von Bäumen, ja ganzen Häusern war die Rede, an deren Stelle plötzlich etwas völlig anderes stand als zuvor – mitunter klaffe dort auch unvermittelt eine Lücke inmitten einer Häuserreihe.
Konit gab nicht viel darauf. Er hatte genug über Partsa gehört und konnte sich den Ursprung solcher Meldungen gut denken. Für keinen der angeblichen Vorfälle hatten sich mehr als drei Zeugen gefunden, obwohl ein verschwundenes Haus schwerlich unbemerkt bleiben konnte. Ob in diesen Bereichen überhaupt jemand wohnte, der auch nur annähernd als zuverlässiger Zeuge anzusehen gewesen wäre, schien mehr als zweifelhaft. Statt dessen lebten dort Trunkenbolde, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr wußten, was gerade noch war, oder sich gemeinschaftlich Unsinn einredeten. Dazu eine unübersichtliche Ruinenlandschaft als „Stadt“, in der alles verfaulte und vermoderte und zerfiel. Wohl möglich, daß da ein Haus "eben noch" ganz anders war, weil einer bei "eben noch" leicht 30 Jahre zurückdachte. Partsa war ein Ort für Irre, wirre alte Einsiedler, ausgeflippte Junkies, träge gewordene Landstreicher, flüchtige Kriminelle, die die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben haben und hier das Ende ihrer Tage fristeten.
Dennoch verschlug ihn eines Tages ein längerer Erkundungsgang dorthin und er beschloß, wenigstens die Hauptstraße einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Am Ortseingang hielt er kurz inne. In einem abgestorbenen Baum, der seine kahlen Äste wie zu einer Anklage in den Himmel reckte, hing ein gewaltiges Spinnennetz. Darin saßen drei große Spinnen, die es offenbar bewohnten. Das Netz war alt, es hing in Fetzen, zwischen zerrissenen Fäden klafften Lücken und Löcher – doch die Spinnen webten nicht. Nur aus der Nähe erkannte man den Grund: Sie hatten sich in ihrem eigenen Gespinst unentrinnbar verfangen.
Eine der Türen öffnete sich, heraus kam eine krumme Alte, die sich auf einen Gehstock stützte.
"Herr Schutzmann! Herr Schutzmann!" krähte sie schon von weitem und humpelte gebeugt auf ihn zu. Konit hielt inne, um sie zu erwarten. Als sie ihn erreichte, krallte sie sich an seinen Ärmel wie um ihn daran zu hindern, fort zu laufen.
"Sie müssen ihn finden, Herr Schutzmann. Keiner hier glaubt mir! Aber Sie glauben mir, nicht wahr, Herr Schutzmann. Er ist so ein braver Junge. Er kann nicht weit sein. Bitte bringen Sie ihn mir wieder."
Konit verstand kein Wort.
Da öffnete sich eine weitere Tür. Ein untersetzter kahler Mann trat heraus, ging auf die Frau zu und begann, beruhigend auf sie einzureden.
Konit erkannte ihn sofort. Es war der Taxifahrer, der ihn vom Bahnhof abgeholt hatte. Den überraschten Ausdruck, der Anstalten machte, von seinem Gesicht Besitz zu ergreifen, schluckte er herunter. Verwunderung bedeutete Kontrollverlust. Sie war ein Zeichen von Schwäche. Und Schwäche konnte man sich nicht leisten in einem Beruf wie seinem. Im übrigen mochte es andere Gründe geben, warum man einem gerade angekommenen Ermittler davon abriet, sich seinem Wohnbezirk zu nähern. Schließlich wandte sich der Mann ihm zu.
"Sie spricht von ihrem Sohn. Seit Tagen spricht sie von nichts anderem als ihrem Sohn, der verschwunden sein soll. Die Sache ist nur, daß niemand sich an ihn erinnern kann. Sie spricht Kinder an, die seine Spielkameraden gewesen sein sollen und sie mit großen, leeren Augen ansehen. Sie erzählte unserem alten Torim, er habe ihm mit Prügel gedroht, als er Äpfel von ihm gestohlen habe. Selbst die Polizei hat sie kontaktiert. Nichts. Wir würden das alle für eine verständliche Verrücktheit einer einsamen alten Frau halten, hätte sie nicht so plötzlich damit angefangen und hätte hier nicht fast jeder etwas, woran er sich als einziger erinnert. Ich zum Beispiel bin mir ziemlich sicher, daß es hier vorgestern noch ein Haus mit der Nummer 78 gegeben hat, wo jetzt drei prächtig gewachsene Eichbäume stehen. Wahrscheinlich geht es vielen so, nur wagen sich wenige mit der Sprache heraus, aus Angst, für verrückt gehalten zu werden.
Im übrigen spricht man hier ohnehin nicht viel miteinander."
Konit dankte höflich für die Meldung und versprach, sich gleich zu melden, wenn sich Hinweise auf den Verbleib von Sohn und Haus ergäben. Dann trat er eilig den Rückweg an. Hier gab es allenfalls für einen Psychiater etwas zu entdecken. Partsa war, was er erwartet hatte: Eine preisgünstige Freiluftalternative zu einem städtischen Irrenhaus.



Hier geht es weiter mit Teil VI:
viewtopic.php?f=1&t=10342&p=137169#p137169
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 23.01.2010, 16:28, insgesamt 6-mal geändert.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 02.01.2010, 22:17

Hallo Merlin!

Liest sich gut - weiter zum nächsten Teil :-)

Ein weniges:

Erwiderte er betonte knapp,
in Schreibtisch
Konit ließ sich auf den einen, bot dem Kommissar den anderen an,
wonach sie zu suchen hätten.
wird der Natur unserer Endlichkeit nicht gemäß.
daß von seinem, der solch ein Bild vom Leben pflegte


Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 03.01.2010, 10:50

Hallo Merlin,

ich wollte nur kurz sagen, dass ich auch mitlese. :-)
(Kleine Bitte: Könntest du die vielen Sternchen weglassen? Sie können wohl nicht umgebrochen werden und dadurch wird der Text zu breit, ich muss dann immer hin- und herscrollen.)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 03.01.2010, 12:14

Hallo Flora,
oh, das freut mich! :-)
Die Sternchen ersetze ich dann in Zukunft durch Leerzeilen.
Liebe Grüße
Merlin

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 05.01.2010, 12:00

Oh, und Ferdi, danke für die Korrekturen!


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