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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 29.10.2009, 21:15

blättern

im grünen
als unsere atemzüge
einander ergänzten
lauschten wir ihrem wechsel
da gaben die lungen
ihr geheimnis preis: leben!

in seinen hauch schrieben wir
baupläne feine adern
in denen der alltag wuchs
und sommer pulsierte
sandte seinen saft
der schwerkraft entgegen: trinkt!

wir besoffen uns bis
das rot von unseren lippen
troff: blutrot. dann
kappte kühle die kanäle
vergilbtes fiel knitternd
durch alle ritzen: vorbei!

ich lege den stift beiseite
schieb in den schredder
was werden wollte
berg mich ins rascheln
blätterhaufen
welkes papier


Erstfassung:

Blättern

im grünen
als unsere atemzüge
einander ergänzten
lauschten wir ihrem wechsel
da gaben die lungen
ihr geheimnis preis: leben!

in seinen hauch schrieben wir
baupläne feine adern
in denen der alltag wuchs
und sommer pulsierte
sandte seinen saft
der schwerkraft entgegen: trinkt!

wir besoffen uns bis uns
das rot von den lippen
troff: blutrot. dann
kappte kühle die kanäle
vergilbtes fiel knitternd
durch alle ritzen: vorbei!

ins rascheln berg ich mich
lege den stift beiseite
schieb in den aktenvernichter
was werden wollte
ein blätterhaufen
welkes papier
Zuletzt geändert von leonie am 04.11.2009, 21:32, insgesamt 2-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 31.10.2009, 21:23

Liebe Leonie,

das ist für mich ein streckenweise sehr kräftiges Liebesgesdicht. Dabei kommt die Kraft vor allem durch eine Vielzahl sehr origineller Bilder, die ich schätze, weil sie sich aus genauer Beobachtug ergeben und aus kräftigen Alliterationen.

Probleme habe ich mir dem Possesivpronomen in

in seinen hauch schrieben wir


Worauf bezieht es sich?

Liebe grüße
Max

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 31.10.2009, 21:28

Hallo Leonie,

das ist ein Gedicht, für das ich Zeit brauchte, es immer wieder anschauen und wieder weglegen musste. Ich glaube, das liegt daran, dass die Stimme für mich immer vom Leisen ins Laute wächst und etwas in mir sich dagegen sträubt. Vielleicht so, ich nehme das Aufscheinende, die Bilder an, gehe mit und stehe dann vor dem Vorschreibenden. Ja, es sind wahrscheinlich die Stellen, an denen du den Text mit einem Ausrufezeichen festnagelst, an denen ich dann zurücktrete und mich distanziere. Deshalb würde ich mir den Text da offener wünschen, damit etwas in mir in Bewegung kommen kann und weiter mitgehen.

Zu den Feinheiten: :-)

Der Hauch ist für mich im Vergleich zum Lungenbild zu schwach. Könnte es nicht auch die (Atem)Wolke sein, oder der „Dunst“, dass man auch schon ein Gefühl für die herannahende Kälte bekommt? Das „seinen“ kann ich hier nicht recht zuordnen, der Lebenshauch? Da bricht für mich dann die Bildebene ab, weil ich ihn gerne dem Atmen zuordnen würde.

Das Wort „Aktenvernichter“ kommt mir hier fremd vor. Wäre der Schredder nicht auch zusammen mit dem „schieb“ klanglich eine schönere Alternative? Wobei... ich weiß, da kannst du sicherlich nicht mitgehen, ich würde die letzte Strophe streichen wollen, nicht, weil sie mir nichts sagen würde, oder sprachlich nicht gut umgesetzt wäre, sie ist ja sehr klar... sondern weil ich das Ende gerne mit dem wunderbaren „ins rascheln berg ich mich“ lesen würde, das einen dann aus der rückwärtigen Betrachtung so überraschend und treffend, berührend ins Jetzt holt und mir so ein bisschen durch die klare Sprache „vernichtet“ wird. .-)

Für mich auch ein lautmalerischer Text. Besonders gefällt mir „kappte kühle die kanäle“, weil da gleich ein Bild in mir entsteht. Aber auch der besoffenmachende sommer. (Das „blutrot“ ist mir wieder zu viel.)

Wenn ich das alles in den Text reinnehme, sähe er so aus: :-)

blättern

im grünen
als unsere atemzüge
einander ergänzten
lauschten wir ihrem wechsel
da gaben die lungen
ihr geheimnis preis

in die wolken zeichneten? wir
baupläne, feine adern
in (aus?) denen der alltag wuchs
und sommer pulsierte(!)
sandte seinen saft
der schwerkraft entgegen
wir besoffen uns bis uns
das rot von den lippen troff

dann kappte kühle die kanäle

vergilbtes fiel knitternd
durch alle ritzen

ins rascheln berg ich mich



Vielleicht ist eine Anregung für dich dabei. Bei der Zeilensetzung habe ich schon öfter festgestellt, dass du da mehr einer Ordnung innerhalb der Strophen folgst und eine Ausgewogenheit, oder Gleichheit suchst. Hat das für dich einen bestimmten Grund, oder entsteht das automatisch so?
Ich habe jetzt einfach mal nach meinem Gefühl und meinem Lesen gesetzt, wäre interessant, wie das auf dich wirkt.

liebe Grüße
Flora

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leonie
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Beitragvon leonie » 31.10.2009, 23:22

Lieber Max,

danke für Deine Worte. Ich freue mich drüber. Den Bezug habe ich absichtlich offen gelassen...Du darfst wählen :-) .

Liebe Flora,

das ist interessant, ich habe selber überlegt, ob die "Nägel" rein oder raus sollen.
Ich finde, es geht Kraft verloren, wenn ich sie rausnehme. Es sollte eine gewisse Härte rein. Ja, und eine Steigerung vom Leisen zum Lauten, aber nicht nur in den Strophen, sondern auch im Text insgesamt.
Deshalb geht es mit dem Hauch los. Und das "blutrot", ja, das ist viel, klar, aber es soll auch viel werden und eine Ambivalenz hineinkommen.

Der Schreddder ist eine Idee, darüber muss ich nochmal nachdenken (ich hatte Reißwolf als Alternative, gefiel mir aber nicht), am Aktenvernichter finde ich die Sachlichkeit gut.
Und ich könnte mir vorstellen, den "bergen"-Satz weiter nach hinten zu stellen.

So vielleicht:

ich lege den stift beiseite
schieb in den schredder
was werden wollte
berg mich ins rascheln
ein blätterhaufen
welkes papier


Das mit der Form ist eine interessante Frage, ich habe das früher ja gar nicht berücksichtigt, nähere mich jetzt aber doch an.
Ich schreibe und dann baue ich um und ändere und zur Zeit habe ich oft den Eindruck: So stimmt es, wenn auch eine gewisse Form da ist.

In Deinem Vorschlag geht mir das Kraftvolle verloren. Ich warte einfach nochmal ab, ob weiter Rückmeldungen kommen und schlafe schonmal drüber.

Der ganze Text entstand übrigens aus dem Wort "Blätter", der Idee, das herbstliche mit dem Papier lose zu verbinden zu einem Text und dann kam ein Liebesgedicht heraus...Ein etwas assoziativer Zugang , eher ein Versuch. (Zwischenzeitlich war ich nah dran, es wieder verschwinden zu lassen).

Liebe Grüße

leonie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.11.2009, 09:48

Hallo Leo,

Ich finde, es geht Kraft verloren, wenn ich sie rausnehme. Es sollte eine gewisse Härte rein. Ja, und eine Steigerung vom Leisen zum Lauten, aber nicht nur in den Strophen, sondern auch im Text insgesamt.
Deshalb geht es mit dem Hauch los. Und das "blutrot", ja, das ist viel, klar, aber es soll auch viel werden und eine Ambivalenz hineinkommen.

Dann passt ja meine Wahrnehmung, (auch wenn ich es mal wieder anders lesen wollte, was dann ja aber auch interessant ist, weil ich mich ja dann daran reibe und so auch etwas in Bewegung kommt, der Text etwas mit mir macht), sehr gut zu deiner Intention, dann muss es natürlich so bleiben. Nett, dass das immer wieder passiert, wenn ich deine Texte bespreche. :-)

(Zwischenzeitlich war ich nah dran, es wieder verschwinden zu lassen).
*lach* dann muss ich nächstes Mal wohl auch schnell eine Nachricht posten, dass da noch was kommt. Wäre wirklich Schade gewesen.

ich lege den stift beiseite
schieb in den schredder
was werden wollte
berg mich ins rascheln
ein blätterhaufen
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Ja, das wäre dann für mich eine interessante Alternative.

liebe Grüße
Flora

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 01.11.2009, 10:07

Liebe leo,

ich finde es sehr stark, erinnert mich inhaltlich ein bisschen an mein: 7 wilde tage hab ich dir geschenkt, obwohl deines viel ästhetischer und lyrisch eleganter ist.

Ich mag sehr gern solche Erinnerungen in der Liebe, die auch das Wilde beinhalten, die Laster, den Rausch.

Liebe Grüße
ELsie
Schreiben ist atmen

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.11.2009, 14:45

Liebe Flora,

ich denke, ich ändere die letzte Strophe. Beim anderen bin ich mir noch nicht sicher...


Liebe Elsa,

danke Dir, ich freu mich.


Lieeb Grüße

leonie

DonKju

Beitragvon DonKju » 02.11.2009, 11:04

Hallo Leonie,

das ist ein sehr schöner Text, den ich aber so lese und daher eigentlich auch so setzen würde :

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im grünen
als unsere atemzüge einander ergänzten
lauschten wir ihrem wechsel
da gaben die lungen ihr geheimnis preis:
leben!

in seinen hauch schrieben wir baupläne
feine adern, in denen der alltag wuchs
und sommer pulsierte
der sandte seinen saft der schwerkraft entgegen:
trinkt!

wir besoffen uns
bis uns das rot von den lippen troff:
blutrot.
dann kappte kühle die kanäle
vergilbtes fiel knitternd durch alle ritzen:
vorbei!

ich lege den stift beiseite
schieb in den schredder, was werden wollte
berg mich ins rascheln
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Aber das ist natürlich lediglich meine Leseweise, die ja nicht mit Deiner oder anderen übereinstimmen muss ...

Liebe Grüße dazu vom Hannes

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.11.2009, 08:10

Liebe leonie,

das ist ein sehr schöner Text, in den ich hineinfinden und mich an den Bildern berauschen kann. Die leise Wehmut steckt hier zwischen den Zeilen, in dem, was quasi der Schredder übriglässt ...

Ich denke trotzdem über einige Feinheiten noch nach:

das fängt schon beim Titel an, du schreibst ihn groß, obwohl dann im Folgenden grundsätzlich Kleinschreibung vorliegt. Das erscheint mir inkonsequent.

Das doppelte "uns": wir besoffen uns bis uns ... klingt ungelenk, das könntest du eleganter machen.
"wir besoffen uns// bis das rot von unseren lippen troff" (eine Möglichkeit).

Das "pulsierte" - Du hast in der Umgebung dieses Wortes eine so schöne Vokalharmonie (a- und o dominiert), die durch das i - in diesem Wort m M nach hart durchbrochen wird.
Probier es doch mal mit "pulste", lies es mal laut ...

Das hab ich sehr gern gelesen und mich daran erfreut.

LG

scarlett

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leonie
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Beitragvon leonie » 04.11.2009, 11:39

Lieber Bilbo, liebe scarlett,

danke Euch beiden für die Ideen. Ich muss mich in Ruhe nochmal damit beschäftigen und melde mich dann nochmal.

Ich freue mich auf jeden Fall schonmal, dass der Text bei Euch beiden ankommt!!!

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon leonie » 04.11.2009, 21:31

Lieber Bilbo,

ich habe das jetzt ausprobiert, aber ich merke, dass für mich dem Text die "Melodie" und das Tempo verloren geht, wenn er anders gesetzt ist. Bei einem Umbruch überlege ich noch...

Liebe scarlett,

ja, DU hast recht, ich werden den Titel auch klein setzen und auch das doppelte "uns" ändern.
Bei dem "pulsierte" bin ich noch unschlüssig, mir scheint es eine Spur stärker zu klopfen als "pulste", ich behalte das aber im Hinterkopf, Du weißt ja, die Endversionen brauchen bei mir oft Jahre...

Liebe Grüße

leonie


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