am bahnsteig

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leonie
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Beitragvon leonie » 24.10.2009, 16:32

am bahnsteig

jenseits der weißen linie
vertaktet sich die zeit
scheint längst bereist
was kommt
schwelfleckiges erinnern
das lichtereck schüttert
dich bis ins mark


Erstversion:

am bahnsteig jenseits der weißen linie
taktet die uhr sekündlich dein leben
trifft dich das lichterdreieck
kommender züge ins mark
wie wenn dein warten
längst schon bereist
hinter dir läge ein
bleibender fleck
unter der haut
Zuletzt geändert von leonie am 25.10.2009, 10:56, insgesamt 1-mal geändert.

Louisa

Beitragvon Louisa » 24.10.2009, 19:48

Hallo Leonie!

Ich habe als ich das gelesen habe sehr an ein anderes Gedicht aus dem Expressionismus denken müssen. Ich weiß allerdings weder Autor, noch Titel - es ging darin um die ersten Eisenbahnen und das bezauberte Schaudern darüber sie ankommen und abfahren zu sehen wie Getüme aus einer anderen Galaxie. Ich wollte es dir aus dem Netz heraussuchen, aber nachdem ich eine halbe Stunde erfolglos gesucht hatte ist der Rechner abgestürzt, weshalb ich mich jetzt wieder deinem Gedicht zuwende ;-)

Ich gehe in meinem Kommentar einmal Zeile für Zeile durch, wenn es dir angenehm ist. Das Thema des Gedichtes finde ich schon einmal reizend. (Haha, ich bin ein bisschen übermüdet, deshalb fallen mir gerade manche Worte nicht ein und ich wollte immer schreiben "reizbar" :smile: ... egal :spin2: )

Zeile1: finde ich ganz gelungen, obgleich ich den Titel so lassen würde und das Gedicht dann gleich mit: jenseits der weißen linie" beginnen würde...(vielleicht) - kannst du dir ja überlegen. Ich finde dann fährt man besser in den 'Zug des Gedichtes' ein ;-)

Zeile2: hat mir am wenigsten gefallen, weil sich das meiner ansicht nach ziemlich doppelt. Das Takten ist ein schönes Wort, was alleine ohne Uhr und 'sekündlich' auskommen würde... Im Begriff der Uhr und der vergehenden Takte liegt ja schon die verrinnende Lebenszeit, denke ich. Deshalb ist auch das 'leben' an dieser Stelle für mich eine Dopplung/Erklärung der anderen Bilder. Vielleicht könnte man schreiben: "vertaktet die zeit" oder sowas - mm...das ist auch nicht gut, ich meine nur, dass ich mich für einen dieser Begriffe (Sekunden, Takte(n), Uhr, Leben) entscheiden und sie nicht alle hintereinander bringen würde. Sonst verblassen sie sich gegenseitig.

Zeile3: "treffen" ist so freundlich. Wieso nicht "schlägt" oder "rammt sich" ? Mochte ich ansonsten sehr.

Zeile4: Ja, die bezieht sich auf die 3. deshalb siehe oben.

zeile5: Ich glaube (auch nach meinem letzten Gedicht-Unfall) dass der Konjuktiv nicht sehr schön klingt in Gedichten. Es kann natürlich auch Ausnahmen geben, aber ich plädiere doch eher für:
"dein warten ist schon bereist/ hinter dir liegt ein bleibender fleck/...."

Zeile6: Schön finde ich das Wort "bereist" im Zusammenhang mit dem Warten.

Zeile7: wie gesagt, ich fände besser: "hinter dir liegt/ ein bleibender fleck"

Zeile8: den fleck finde ich ganz gut, aber ich verstehe nicht wieso er in

Zeile9: unter der Haut liegt, wenn er doch "hinter dir" sein soll. Das ist für mich ein Bruch im Bild - Deshalb würde ich mir da an deiner stelle wieder eines von beiden Aussuchen oder mit der Haut noch etwas anderes machen. Du könntest aber auch direkt nach "fleck" abschließen. das würde mir am besten gefallen... Ich glaube es wäre am eingänglichsten.

So. Am schönsten fand ich das bereiste Warten und das gefährlich sich nähernde Lichterdreieck. Ich hoffe du kannst damit etwas anfangen.

Schönen Abend!
l

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2009, 20:37

Hallo leonie,

ein klein wenig würde ich hier verdichten, da ich glaube, dass deine Zeilen dann ausdrucksstärker wären:

Meine Idee wäre:

am bahnsteig jenseits der weißen linie
taktet die uhr dein leben
trifft dich das lichterdreieck
kommender züge ins mark
als wenn dein warten
(das "wie" klingt nicht schön)
längst schon bereist
hinter dir läge
ein alter fleck
auf deiner haut


Dies wäre meine Anregung.

Saludos
Mucki

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leonie
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Beitragvon leonie » 25.10.2009, 10:58

Liebe louisa,

danke für Deinen ausführlichen Kommentar, den ich sehr hilfreich finde. Ich habe daraufhin mir den gesamten Text noch einmal vorgenommen und versucht zu verdichten, wie Du, liebe Mucki, ja auch vorgeschlagen hattest.

Dabei kam mir in den Sinn, dass der Spannungsbogen sich vielleicht noch einmal verändern lässt, wenn ich die lichtdreiecke ans Ende gestellt werden, sozusagen ans Ende der Wartezeit.

Was meint Ihr?

Danke Euch beiden und liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.10.2009, 11:30

Hallo leonie,

ja, die zweite Version finde ich sehr viel spannender. Durch das Lichtereck am Schluss wird dein Gedicht sehr lebendig, rüttelt so richtig an der Zeit, da du das LI von den Erinnerungen wieder zurückholst in die Gegenwart. Gefällt mir gut. Nur hier:
das lichtereck schüttert

würde ich "erschüttert" schreiben.

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 25.10.2009, 16:09

Liebe Leonie,

allererster Eindruck: Die zweite Version ist deutlich dichter, deutlich poetischer und lässt noch genügend viel Freiraum. Daher würde ich unbedingt diese Version bevorzugen.

Bei dem "schüttern" habe ich auch den Eindruck, dass es für mich zu künstlich wirkt, "erschüttern" klänge mir natürlicher.

Liebe Grüße
Max

Louisa

Beitragvon Louisa » 25.10.2009, 16:29

Hallo Leonie!

Finde ich auch super jetzt!

Was bedeutet: "schwelfleckiges" - das kann ich gar nicht aussprechen :smile:

- und bei ERschüttern schließe ich mich Max an ;-)

sonst klasse geworden!!!

Liebe Grüße,
l

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Beitragvon leonie » 25.10.2009, 17:33

Hallo, Ihr drei,

danke für Eure Rückmeldungen. Schüttern sollte eigentlich an "Schütteln" anklingen, so ein Zwischending. Meint Ihr wirklich, ich sollte mich da lieber entscheiden? Hm, ich weiß nicht so recht (woran man ja mal wieder merkt, dass ich im Entscheiden sowieso keine Leuchte bin...)

Louisa, schwelfleckig lieber in schwelend ändern?

Ich sinne noch nach, auf jeden Fall freue ich mich, dass Euch diese version grundsätzlich auch besser gefällt als die alte....


Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 25.10.2009, 17:37

Hallo!

Wenn schüttern schütteln meinen sollte - wieso nimmst du dann nich schütteln :smile: ?

Ja, "schwelend" fände ich besser... Ist jedenfalls viel schöner so!

LG,
l

Max

Beitragvon Max » 25.10.2009, 18:18

"schwelfleckiges" finde ich ganz gut, weil es mir irgendwo zwischen "schwelend" und "schweflig" hängt.

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.10.2009, 19:15

und mir gefällt "schwelfleckiges" gut, weil es mich einerseits an schwelen und durch das "fleck" an sowas wie Flashs denken lässt, und das passt. ;-)

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Beitragvon leonie » 25.10.2009, 20:31

Liebe louisa,

ich meinte weder schütteln noch erschüttern, deshalb kam es zu "schüttern". Ich fand, da gibt es viele Konnotationsmöglichkeiten.

Lieber Max, liebe Mucki,

ich glaube, ich lasse das "schwelfleckig" drin.

Danke Euch dreien und liebe Grüße

leonie


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