Pause und Wiederholung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Max

Beitragvon Max » 16.10.2009, 22:06

Pause und Wiederholung

Der Wasserhahn in der Küche leckt. Ich habe mir einen Stuhl geholt, sitze und halte Wache.

Das Wasser der Kindheit
war ein Fluss
Ihm hast du dein Bangen erzählt
dass dir der Stern abhanden kommt
oder niemand ihn sieht

Schritt um Schritt
begingst Du
die Wege an seinen Ufern
an den salzlosen Tagen
zwischen Verlust und Verlust


Aufgefordert, zwischen den Qualen des Tantalus, des Prometheus oder des Sisyphos zu wählen, würde er sich stets dafür entscheiden, unablässig den Felsblock jenen Berg
hinaufzuwälzen.


Jeder Tropfen beginnt damit, dass sich in dem kleinen Sieb am Auslauf des Hahns etwas zu viel Wasser sammelt, das in einem Zusammenspiel von Schwerkraft und Oberflächenspannung den Wasserspiegel leicht über die Grenzen des Siebes hinaus wölbt.

Eins zwei drei vier Eckstein
alles muss versteckt sein
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben
eine alte Frau kocht Rüben
eine alte Frau kocht Speck
und du bist weg

Doch du bleibst
und zählst

Du hast immer auf dich gezählt
Manchmal auf Ihn
doch der hohle Klang der Zahlen
wundet


Wie sehr muss man jemanden lieben, um seinen letzten Wunsch zu respektieren? Die Gattin des Sisyphos ließ seinen Leichnam unbestattet auf den Marktplatz werfen.

Das Wasser läuft langsam zur gegenüberliegenden Seite des Siebs, die etwas tiefer liegt.

Ave Maria
voll der Gnade
der Herr ist mit dir
du bist gebenedeit

Das Wort ist dir geblieben

gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes
Jesus


Gezählt hast du auch auf Frauen
Eine gute Frau
war immer auch eine gute Idee

die auch Zweifel nährte

Mit der ersten Frau
kam dir auch der Gott abhanden


Dort sammelt sich das Wasser, die Ausbuchtung wird runder, der kleine Wasserball allmählich fetter, bis die Gravitation über die Adhäsionskräfte obsiegt und sich der Tropfen löst.

Manchmal das Flehen
wenn sich der Wunsch in wunde Knie drückte
durchgescheuert der Glaube

Und doch

Zunächst scheinbar in der Form eines Ellipsoiden (wobei ich nicht weiß, ob ich meinen Augen trauen kann), verformt
sich der Tropfen während des kurzen Fluges beinahe zu perfekter Kugelform und trifft dann mit einem mehrstimmigen „plopp“ im Becken auf (ich habe den Abfluss verstöpselt und die Küchentür geschlossen, um das Klangbild zu verbessern).


Und wieder hast Du erzählt

der du für uns Blut geschwitzt hast

Zu spät fand er diesen Satz bei Camus: Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben.
Am Kopf des Wasserhahns beginnt sich der nächste Tropfen zu bilden. Ich stehe auf und betrachte die Kreise im Wasser des Spülbeckens. Mehr ist vom letzten Tropfen nicht geblieben. Das Wasser erinnert sich in Kreisen.

Wer lange genug in den Fluss schaut
erkennt den Grund

Wie damals von der Kettenbrücke

I could jump
I’m sure you would be crazy enough


Es gäbe noch mehr
doch jedes Erzählen ist auch ein Preisgeben
und preisgeben
kann man sich nur einmal


So bleibe ich und belausche das Wasser, Plopp um Plopp. Sehe, wie ein Tropfen um den anderen sich in dem anschwellenden See im Spülbecken verliert. Ab und an gurgelt der Überlauf. Und das gibt mir ein beruhigendes Gefühl, nichts wird überlaufen – alles geht seinen geplanten Gang.

Du erzählst dem Fluss deine Ängste
dass du alt wirst
schon bald

Und vielleicht hast Du kein Bett mehr
wie die Alte
deine Alte

Vielleicht hat der Herrgott
auf mich vergessen


(Und wieder zähle ich
die Runzeln ihrer Haut
durch die an den Händen
blau die Adern hervortreten
die Finger
beinahe ohne Abdruck)

Der Herrgott erinnerte sich
spät
als sonst keiner mehr an sie dachte

„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Zuletzt geändert von Max am 22.10.2009, 22:04, insgesamt 2-mal geändert.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 16.10.2009, 23:18

Lieber Max,

Das ist von dir?!?! Ich bin so begeistert, ich kanns garnicht ausdrücken, wie sehr!

Bumm.

Herzlich,
ELsa
Schreiben ist atmen

Herby

Beitragvon Herby » 17.10.2009, 00:06

Lieber Max,

diese Collage (ist das der richtige Ausdruck? :12: Egal, ich nenne den Text jetzt für mich mal so) ist ebenso faszinierend wie inspirierend. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich an meinem Urteil auch dann nichts ändert, wenn ich herausgefunden habe und verbalisieren kann, was mich an ihm irritiert ("stört" wäre entschieden zu hart).

Das war jedenfalls zu später Stunde ein Leseerlebnis der besonderen Art!

Lieben Gruß,
Herby

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 17.10.2009, 00:43

Lieber Max,

das ist ein ganz besonderer Text! Du kannst dir sicher vorstellen, dass mir besonders die minutiösen Beschreibungen des sich sammelnden und tropfenden Wassers gefallen. Hier bleibt die Zeit fast stehen, in der Betrachtung dieses Phänomens! Und dann wird in Gedanken wieder weit in der Zeit zurückgegriffen, in die Kindheit. Unwillkürlich stelle ich mir den Mann vor, der da vor dem tropfenden Wasserhahn sitzt und "Wache" hält. Was bewacht er? Die kranke, vielleicht sterbende Mutter? Sitzt er dabei in der Küche seiner Kindheit? Andererseits spricht er offenbar nicht zur Mutter, sondern zu sich selbst ("gezählt hast du auch auf Frauen") über seine Vergangenheit. Vielleicht ist diese Wache also einfach ein nicht Schlafen können.

Ein vielschichtiger, berührender Text, der auch wirkt, ohne dass ich alles genau verstehe. Dennoch bin ich sehr gespannt, was vielleicht in der Diskussion darüber noch zum Vorschein kommt ...

lg
fenestra

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.10.2009, 01:00

Hi Max,

seinerzeit hat mich die Komposition von "Vergewisserung" begeistert. Auch diese Komposition finde ich außerordentlich gelungen, einerseits durch die genaue Beschreibung des sich formenden Tropfens und andererseits durch die unterschiedlich verorteten Reflexionen des LIs, die du hier alle miteinander verwebst und man sie dennoch auch getrennt voneinander lesen kann.
Chapeau!

Saludos
Mucki
P.S:
Hier:
Vielleicht hat der Herrgott
auf mich vergessen

muss es "auch" statt "auf" heißen

aram
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Beitragvon aram » 17.10.2009, 02:57

Hier: zitat: Vielleicht hat der Herrgott
auf mich vergessen
muss es "auch" statt "auf" heißen[/quote]
- muss es?


lieber max,

ein schön zu lesender text,

in der form der gegeneinander montierten ebenen erinnert er mich an einige texte lisas, doch die 'emotion' ist 'max'!


gegen ende vermittelt sich mir etwas insgesamt resignatives, ich vermute, das hat damit zu tun, dass ich den text da eher gleichförmig empfinde, trotz der unterschiedlichen 'schnitte' - wie das beschriebene tropfen.... oder liegt es am letzten zitat, das kommentarhaft abschließend wirkt? (oder soll es genau so sein?)


details:

Vor die Wahl gestellt, zwischen den Qualen des Tantalus, des Prometheus oder des Sisyphos würde er sich stets dafür entscheiden,(...)

- vor die wahl gestellt zwischen den qualen - fehlt da nicht noch was, z.b. infinitivgruppe? bzw.wenn nicht, warum komma/ dativ für 'qualen'? (die 'wahl der qual' - hätte er zu wählen zwischen den qualen des t., des p. oder des s., würde er... / in der wahl zwischen den qualen des... )

dass sich in dem kleinen Sieb am Ende des Hahns - diese passagen leben von genauer beschreibung, was ich mag - an der zitierten stelle aber stocke ich; ist 'ende des hahns' eine gute bezeichnung? wenn sich "wasserhahn" nicht auf die ganze armatur beziehen soll, sondern nur auf einen ihrer teile, verstünde ich darunter das absperrventil - das kleine sieb an der auslauföffnung? am auslauf? (in österr. gibts ugs. das passende wort 'pipe')

Sisyphos kam in die Unterwelt. - dieser nachsatz schwächt nach meinem gefühl. (streichung?)

So entsteht eine kleine Delle, die sich zum gegenüber liegenden Rand der Öffnung hin bewegt (der Wasserhahn ist leicht abgeschrägt, die tiefere Seite liegt mir gegenüber).
a- nochmal das gleiche bezeichnungsproblem.
b- 'liegt mir gegenüber' finde ich etwas unbeholfen, klingt, als 'befände' sich der beschreibende an der 'höheren seite'
(abgesehen davon, dass es kurz davor bereits 'zum gegenüber liegenden rand' heißt)
c- 'die tiefere seite'? (das längere ende?)

(bitte nimm diese anmerkungen nur als fragen - die sprache noch dazu eines lyrischen textes soll keinesfalls 'korrekt' sein)

In dem kurzen Flug verbeult er sich zu einem Ellipsoiden
- hm, sah ich noch nie - ellipsoid nur vorm lösen das tropfens, 'im flug' verbeult er sich nicht weiter, geht gegen kugelrund und 'pulsiert' (beispiel)

(ich fände den text stärker, wenn er nach 'abdruck' oder 'spät' endete - cam. 'wir m. uns s. als g. m. vorstellen' ist zwar schön - vielleicht an anderer stelle?) [lustig - mit ähnl. gedanken endet einer meiner ersten texte - 'weich weit gefallen / dorthin, wo ich war /sisyphus, du kannst neu beginnnen!']

gattung- erzählgedichte?


erstes fazit ersten lesens - ein klar erzählender text, den ich mir nur eine kleinigkeit straffer, in der ruhe gespannter (wie die oberfläche eines wassertropfens) wünschte, um ihn ausgezeichnet zu finden.


liebe nachtgrüße!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.10.2009, 12:08

Hi aram,
Gabriella hat geschrieben:Hier: Vielleicht hat der Herrgott
auf mich vergessen
muss es "auch" statt "auf" heißen

aram hat geschrieben:- muss es?

Ja, "auf mich vergessen" macht doch wohl wenig Sinn, hm?

Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.10.2009, 12:11

Liebe Mucki,

ich glaube aram hat im Forum schon mehrfach erwähnt, dass "auf mich vergessen" etwa im Österreichischen ein ganz gängiger Gebrauch ist. Ich weiß, dass Max unter Sprachströmungseinflüssen aufgewachsen ist, die dies auch verwendeten. Und ich kenne diesen Ausdruck auch. Ich betrachte ihn zwar "touristisch", könnte ihn also nie selbst verwenden, aber das bedauere ich, weil ich finde, dass es wirklich ein kräftiger, vielsagender Ausdruck ist.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 17.10.2009, 12:15

Huch, da sind ja schon fünf Antworten!

Ich hatte den Text eigentlich eingestellt, weil mir das "freie Leben" etwas notleidend erschien ;-). (Pfui, das ist Bänkerdeutsch).

Im einzelnen:

- Liebe Elsa,

herzlichen Text, ja, der Text ist von mir ;-) .. also nicht alles: Das Ave Maria ist zB bekanntlich von schubert *grins*

-Lieber Herby,

auch Dir ein Dankeschön. Ja, ich glaube auch, dass der Text irritierend sein kann. Ich kann auch nicht sagen, dass ich noch ganz hinter ihm stehe, er ist vor anderthalb Jahren entstanden und dann habe ich ihn beiseite gelegt. Ich habe gestern Nacht nur vier, fünf Sätze geändert. Sonst ist er so geblieben.

- Liebe Fenestra,

Du hast einige Elemente des Textes gut herausgelesen. Ja, es ist gewissermaßen der Text einer Nachtwache. Und auch die sterbende Mutter ist beinahe getroffen (es ist eine Großmutter). Der Text hat aber noch mehr Elemente - vornehmlich eben Erinnerungen, wie Du richtig siehst - die ich derzeit nicht so gerne auflösen mag. Danke!

Liebe Mucki,

herzlichen Dank auch für Deinen Kommentar.
Tatsächlich ist der Satz, den Du nachfragst ein Zitat aus dem Sudetendeutschen, wo man "auf jemanden vergisst" (im Österreichischen doch auch, Aram, Elsa, oder?)

Lieber Aram,

danke für Deine sehrgründliche Lektüre!

a) Zu der Wahl ... ja, das werde ich ändern

b) genau, Auslauf! ... man merkt, dass ich kein Installateur bin

c)stimmt, daran habe ich gestern gewerkelt, der Satz ist drin geblieben, kommt aber weg ...

d) Du hast Recht, die Szene hat aber das Problem, dass ich mich erst wieder in die Vorstellung finden muss ... ich weiß nicht mehr so genau, was ich eigentlich beschreiben wollte ;-)

e) hm, du hast recht, im Flug sind die Kräfte im Gleichgewicht ...

Den camus kann ich höchstens verschieben ... er war mal sowas wie die Keimzelle, sie zu löschen, täte mir weh.

Ich korrigiere das heute Nachmittag mal, so gut ich kann.

Liebe Grüße
Max
Zuletzt geändert von Max am 17.10.2009, 12:26, insgesamt 1-mal geändert.

aram
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Beitragvon aram » 17.10.2009, 12:19

:richtig: .-)


EDIT schmunzel, diese antwort bezieht sich noch nicht auf dich max, momentchen noch bitte...

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 17.10.2009, 12:21

Lisa hat geschrieben:Liebe Mucki,

ich glaube aram hat im Forum schon mehrfach erwähnt, dass "auf mich vergessen" etwa im Österreichischen ein ganz gängiger Gebrauch ist. Ich weiß, dass Max unter Sprachströmungseinflüssen aufgewachsen ist, die dies auch verwendeten. Und ich kenne diesen Ausdruck auch. Ich betrachte ihn zwar "touristisch", könnte ihn also nie selbst verwenden, aber das bedauere ich, weil ich finde, dass es wirklich ein kräftiger, vielsagender Ausdruck ist.

liebe Grüße,
Lisa


Ich finde den Ausdruck ganz normal und korrekt :-)

Wiener Grüße
ELsa
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Max

Beitragvon Max » 17.10.2009, 12:27

Ich auch ;-) ...

max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.10.2009, 12:27

Man lernt doch nie aus. ,-)
Aber was bedeutet es denn nun konkret? Ich kann damit leider nichts anfangen, es schmeißt mich raus, weil ich es immer als Tippfehler lese. ,-)

Idsteiner Grüße
Mucki

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Beitragvon Elsa » 17.10.2009, 12:32

Liebe Mucki,

das ist so wie "du kannst auf mich zählen"

Irgendwie :-)
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