Zimmerökologie

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 03.10.2009, 18:55

Als verantwortungsbewußter moderner Bürger weiß ich, daß die Rettung des Planeten nichts ist, was man Gipfeln und Konferenzen überlassen darf. Jeder muß nach Kräften seinen ganz persönlichen Beitrag leisten. Umweltschutz beginnt auch nicht erst vor der eigenen Haustür, sondern bereits dahinter.
Als ich mir kürzlich über Nacht ein Ferienzimmer nahm, war ich entsprechend hocherfreut, darin eine artenreiche Lebensgemeinschaft fertig vorzufinden; über dem Bett kreiste eine Willkommensfliege, neben dem Waschbecken hatte es sich ein Grashüpfer bequem gemacht und in jeder Ecke - und das Zimmer hatte für seine Größe wirklich ganz erstaunlich viele Ecken - fand sich ein kunstvolles Spinnennetz. Jedes davon war von einem wahren Prachtexemplar von Arachnoid bewohnt, mit denen ich sogleich flüchtige Bekanntschaft schloß; da war eine große dicke mit braun-gelber Zeichnung, eine zierliche schwarze, die sich zu einem kleinen Knubbel zusammengefaltet hatte, mehrere Durchschnittsspinnen, die sich einer näheren Charakterisierung durch ihre bemerkenswerte Eigenschaftslosigkeit entzogen und ein spindeldürrer Weberknecht, dem ein Bein fehlte. Was sie wohl fraßen?
Ich legte mich ins Bett und schlief bald ein, was sich als hervorragender Weg herausstellte, diese Frage zu klären. Bereits nach einer halben Stunde weckte mich ein penetrantes Summen neben meinem rechten Ohr, und eine juckende Schwellung an meinem Arm legte nahe, woher es stammte. Als ich das Licht einschaltete, fand ich Wände und Decke auf einen Blick mit nicht weniger als 7 Mücken besetzt, griff mir mein Bettlektüre und stand auf, um ihnen den Garaus zu machen.
Die erste erlegte ich mühelos, die Jagdlust trieb mich zur nächsten, als mich erste Zweifel überkamen. Tat ich das richtige? Schließlich entzog ich meinen acht- und siebenbeinigen Zimmergenossen gerade ihre Nahrungsgrundlage, was auf Dauer ihre Zahl verminderte und letztlich zu einem drastischen Anstieg des Mückenbefalls führen konnte, dem mit derart hemdsärmeligen Methoden nicht mehr beizukommen war. Ich war offenbar keinen Deut besser als ein Landwirt, der Schädling wie Nützling kurzsichtig durch ein Insektizid vernichtete. Beschämt hielt ich inne. Zwang mich mein Gewissen nun tatsächlich, die Stiche im Dienste des größeren Wohles hinzunehmen? Nein. Nach kurzem Überlegen ging ich dazu über, die erschlagenen Mücken von der Wand zu lösen und sie der großen Dicken ins Netz zu legen.
Bald wurde ich erneut unsicher. Was war mit dem schwarzen Knubbel, dem invaliden Weberknecht und all den anderen? Wenn ich sie verhungern ließ, war nicht viel gewonnen. Also rupfte ich nun jede Mücke auseinander, wobei mir die Pinzette und die Lupe, die ich glücklicherweise immer bei mir habe, gute Dienste leisteten, und verteilte sie auf die Netze; dem Weberknecht heftete ich sie mit Reißzwecken an die Wand. Der Grashüpfer hingegen leistete zum ökologischen Gleichgewicht anscheinend keinen nennenswerten Beitrag. Schlimmstenfalls beanspruchte er sogar Netz- und Magenkapazität, die den Mücken hätten zukommen sollen! Kurzentschlossen setzte ich ihn vor die Tür.
War das nun richtig? Eigentlich waren die Netze doch sehr ungleich groß und hatten an der Bekämpfung der Mückenplage entsprechend sehr unterschiedlichen Anteil. Außerdem war der Aufwand für ein großes Netz sicherlich größer und forderte entsprechend mehr Energie - das durfte man doch nicht ignorieren! Ich kramte also meinen Zollstock und meinen Taschenrechner heraus, berechnete die Netzflächen (wobei ich mir drei weitere Stiche zuzog) und teilte fortan die Beute dementsprechend auf. Das erwies sich zwar als schwierig - versuchen Sie mal, 13/120 von einer zerquetschten Mücke abzuschneiden! - und dauerte mehrere Stunden, war aber die einzige wirklich nachhaltige und gerechte Lösung.
Andererseits - verdarb das nicht auf lange Sicht gewissermaßen die Arbeitsmoral? Jeder weiß schließlich, daß man wilden Tieren durchaus keinen Gefallen tut, wenn man sie füttert! Am Ende wissen sie selbst nicht mehr an Nahrung zu kommen, verhungern, und die vermeintliche Tierliebe entpuppt sich als heimtückischer Mordanschlag. Erheblich für den Jagderfolg war schließlich nicht allein die Größe des Netzes, sondern auch seine Position, seine Maschenweite, die Stabilität der Fäden und sicherlich noch weitere Feinheiten, die einem Unkundigen nur entgehen konnten. Überhaupt berechtigte mich meine Verteidigungsabsicht nur zur Tötung der im Angriff befindlichen Mücken und keineswegs derer, die nur da saßen und darauf warteten, in das eine oder andere Netz zu fliegen. All die Mühe umsonst! Verärgert räumte ich mein Sezierbesteck beiseite.
Das Verfahren, mit dem ich nach einigem Hin und Her meinen Frieden fand, ging etwa so: Ich legte mich bei eingeschalteter Lampe ins Bett und wartete, bis eine Mücke sich auf mich setzte. Dann erschlug ich sie, schaltete den Zimmerventilator auf die höchste Stufe und warf das zermatschte Insekt in den Luftwirbel, der das Flugverhalten lebender Mücken nach meiner Hoffnung gut genug abbildete.
Geschlafen habe ich in dieser Nacht natürlich nicht mehr. Am nächsten Morgen war ich von Stichen übersät und fühlte die Anzeichen einer nahenden Erkältung. Aber ich habe mich nach Kräften bemüht und das meine getan, und darauf kommt es an.
Die Spinnen schienen übrigens bis zu meiner Abfahrt von meinen Bemühungen nichts bemerkt zu haben. Sie saßen regungslos in ihren Netzen, inmitten der ihnen zugemessenen Mückenanteile, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 05.10.2009, 14:48, insgesamt 10-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.10.2009, 14:42

Wunderbar, Merlin!
dem Weberknecht heftete ich sie mit Reißzwecken an die Wand.


:totlach:

Hier:
Den Grashüpfer hingegen leistete zum ökologischen Gleichgewicht anscheinend keinen nennenswerten Beitrag. schlimmstenfalls beanspruchte er sogar Netz- und Magenkapazität, die den Mücken hätten zukommen sollen! Kurzentschlossen setzte ich ihn vor die Tür.

muss es "Der Grashüpfer" heißen. Und "Schlimmstenfalls" beanspruchte ...

Das ist wirklich urkomisch, ich könnte mich wegömmeln, ha,ha.

Lachende Grüße
Mucki
P.S. Den Absatz vor dem Text, der deine Zweifel ausdrückt, kannste getrost entfernen, Merlin. ;-)

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 05.10.2009, 14:46

Ist erledigt. :-)

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.10.2009, 15:48

mehrere Durchschnittsspinnen, die sich einer näheren Charakterisierung durch ihre bemerkenswerte Eigenschaftslosigkeit entzogen und ein spindeldürrer Weberknecht, dem ein Bein fehlte.


Das ist meine Lieblingsstelle.

Der Text ist köstlich, Merlin. Ich habe ihn gerade noch einmal mitt genuss und breitem Grinsen gelesen!

Liebe Grüße

leonie

Rala

Beitragvon Rala » 05.10.2009, 16:07

Oh, wie schön! Den les ich der nächsten Mücke vor, die es wagt, meinen Schlaf zu stören ... Danke!

Ssssssss....
Rala

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 06.10.2009, 00:13

dem Weberknecht heftete ich sie mit Reißzwecken an die Wand.


Das ist wirklich köstlich!

Und dass du unsere Ratschläge so genau umsetzt, ist fast so eine Kleinarbeit, wie Mücken zer- und verteilen! Aber das gibt dem Text den letzten Schliff (oder sollte ich in diesem Fall sagen: das literarische Gleichgewicht ... ?).

lg
fenestra

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.11.2009, 22:32

Lieber Mnem,

endlich dazu gekommen, diesen Text zu lesen, muss ich wirklich sagen: Das ist wirklich witzig gemacht, vor allem, weil es immer haarsträubender wird und trotzdem seine Anwendung auf die Realität nicht verliert - ich möchte sagen, dass hat fast (auf etwas andere Weise) loriotische Raffinesse).

Einziger Kritikpunkt: Am Anfang (hörte etwa bei "Die erste erlegte ich mühelos" auf) kam ich etwas schwer in die Sprache rein, er wirkte auf mich tendentiell gewollt lustig-komplex, ich kann nicht genau sagen, warum sich das dann nach und nach auflöse, am Ende war ich jedenfalls ganz in dem Ton drin.

Und Flora: Ich habe noch nie einen so perfekt gesetzten smiley gesehen, wie deinen hinter dem Satz, das Zusammenspiel ist genial :mrgreen:

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.11.2009, 11:52

Hallo Lisa,
dein Instinkt erstaunt mich immer wieder. Den gleichen Eindruck habe ich auch, zwar nicht beim ganzen Abschnitt, aber an einigen Stellen, besonders bei "hocherfreut" und der "Willkommensfliege". Es ist wohl so - jedenfalls entspricht das meinem Empfinden beim Schreiben - dass ich mich aus meinem sonst oft ziemlich technisch-steifem Stil erst herausarbeiten muss, um zu einem natürlich und locker fließenden Ausdruck zu kommen. Vielleicht sollte ich künftig meine Texte einfach länger machen und dann den Anfang abschneiden :-).
Liebe Grüße
Merlin


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