Der Fremde

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Falschmünzer

Beitragvon Falschmünzer » 04.06.2006, 01:21

Der Fremde

Du hattest pechschwarzes Haar,
deine Zunge war die einer Schlange,
doch nicht so spitz, eher glatt
und sanft, gewunden -

Ich schlang mich um dich.
Du warst in mir und über mir
und überall:

Ein begrünter Baum
in endlosen Alleen,
zu schützen mich
bei Regen und bei Sturm,

Gepflanzt in meiner
weißen Brust.

pandora

Beitragvon pandora » 04.06.2006, 10:52

hallo falschmünzer und willkommen.

ich mag dein einstiegswerk, aber ein paar widersprüche lassen mich stutzig werden. vielleicht kannst du sie erklären.
da ist also in strophe eins dieser titelgebende fremde, schlangenzüngig und gefährlich-reizvoll. verführerisch.
in strophe zwei schlingt sich das lyrICH um diese sündigen und wird von ihm "eingenommen". warum schlingt sich nicht der fremde um oder in das lyrICH? würde das nicht das bild von der schlange besser weitertransportieren?
dann plötzlich ein komplett anderes bild, das bild eines baumes. (erneut assoziiere ich den sündenfall. apfelbaum.)
der baum schützt das lyrICH. wie wird die schlange zum baum?
"gepflanzt in meiner brust" greift den okkupationsgedanken wieder auf, im positiven sinne, das verstehe ich.

p.

Gast

Beitragvon Gast » 04.06.2006, 12:19

Hallo und Willkommen im Blauen Salon,

deinen Einstiegstext habe ich gern gelesen.

Wenn du an den von pandora aufgezeigten Schwächen arbeitest, wird es ganz sicher ein gutes Gedicht, bei diesem Ansatz.

also kreatives Schaffen und keine "Falschmünzerei" ;-)

Liebe Grüße
Gerda

Falschmünzer

Beitragvon Falschmünzer » 04.06.2006, 15:07

Herzlichen Dank für die Reaktionen!
Ich glaube, im Grunde habt ihr das Gedicht so ähnlich
aufgenommen, wie ich es selbst empfunden habe.

Zu pandoras "Kritikpunkten" kann ich nur erwidern,
dass ich genau dies als den Reiz meines Textes empfinde.
Die Paradoxität habe ich als bewusstes künstlerisches Mittel
gewählt. Daher kann oder muss der Textverlauf keinen logischen
Grundsätzen folgen, wie man es z.B. aus dem Surrealismus kennt.

Offensichtlich handelt das Gedicht ja vom Ineinander-Aufgehen,
also der Auflösung des Subjekts.
Gerade deshalb lasse ich also den Sprecher des Textes in den
Angesprochenen "übergehen", er wird mit ihm identisch,
"Der Fremde" wird zum Teil des Selbst. Die Achse des Gedichts
drückt das für mich deutlich aus: "Du warst in mir und über mir
und überall." Das Symbol der Schlange habe ich dabei gar nicht
bewusst als Bezug zur Genesis benutzt - daher finde ich es umso
interessanter, wenn es so gelesen wird. Die Schlange verdeutlicht
für mich das "Hineinwinden" in den Anderen.
Ganz anders könnte man die Strophen auch mit zwei Sprechern
lesen: so wäre die zweite Strophe quasi die Antwort des "Fremden".

Der Baum in der dritten Strophe könnte nun die Manifestation dieser
Einheit sein - der Sprecher schützt sich selbst, indem er durch den
"Fremden" geschützt wird - was an sich natürlich paradox ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 04.06.2006, 16:17

Hallo Falschmünzer, nett dich kennenzulernen!!!!!!!!

Im Surrealismus wurde aus nicht gängigen logischen Zusammenhängen Einheit hergestellt. Würde diese Einheit in deinem Gedicht erkennbar sein, müsstest du nicht so viel an Erklärung aufbringen.
Ich stimme meinen Vorrednerinen zu.

Laß mehr von dir lesen und hören

moshe.c

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.06.2006, 18:03

Hallo zusammen,

ich erkenne die Widersprüche gar nicht, von denen Ihr schreibt! :-s

Das lyrische Ich ist eine Frau, der ein fremder Mann begegnet. Die erste Strophe spricht in meiner Lesart eher von sexuellen Reizen (Schlange im Paradies, etc.); vielleicht auch von Beredsamkeit, was aber zum Bereich der Verführung oder des Verliebens gehört.

Dann folgt ein typischer Topos weiblicher Sexualität: das Umschlingen und Aufnehmen.

Am Ende steht ein wunderschönes Bild, in dem der Fremde ein starker Baum ist, dessen Wurzeln aber durch das lyrische Ich gefestigt sind.

Ich finde nicht, dass dieses Gedicht Schwächen hat. Es ist gelungen!

Beste Grüße

Paul Ost

Louisa

Beitragvon Louisa » 04.06.2006, 18:05

Hallo Falschmünzer,
mir gefallen die neuen Bilder in Deinen Zeilen...Ich lese das in der Perspektive einer Frau (schon wegen Deinen "biologischen Angaben")...deshalb ist es interessant, dass der Mann mit einer Schlange verglichen wird.

-Auch das Endbild finde ich sehr gelungen, obwohl es ein ganz neues Feld ist.

Ich würde auch gerne mehr von Dir lesen!

Liebe Grüße, louisa

Falschmünzer

Beitragvon Falschmünzer » 05.06.2006, 16:12

Herzlichen Dank euch allen!

Es freut mich, dass das Gedicht Anklang findet.
Es wird auch offensichtlich, wie unterschiedlich
Reaktionen auf (meine) Lyrik ausfallen können.
Vielleicht kommt es daher, dass der Text recht
assoziativ geschrieben ist (und nicht explizit
"surrealistisch"). Ich habe beim Schreiben übrigens
kein bestimmtes Geschlechterverhältnis im Sinn
gehabt - es ist nahezu unwichtig, ob der "Fremde"
nun männlich oder weiblich ist, denke ich.

Weitere Gedanken zum Gedicht sind stets willkommen!

Einen weiteren Text werde ich einstellen, ja.

steyk

Beitragvon steyk » 05.06.2006, 16:23

Hallo Flaschmünzer,
herzlich Willkommen. Dein Einstiegswerk hat mir durchaus gefallen, wenn auch hier und dort ein paar Kleinigkeiten geändert werden müßten. Aber dazu haben sich ja schon andere geäußert.
Du hast natürlich Recht, wenn du schreibst, daß es unwichtig ist um welche Geschlechter er in deinem Text geht. Ich habe es beim lesen auch so empfunden, daß man die Figuren so einsetzen kann, wie man es sich im Moment des lesens aus seiner Warte vorstellt. Liebe findet eben nicht nur zwischen Frau und Mann statt.
Gut !
Gruß aus Berlin
Stefan / steyk

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 06.06.2006, 01:17

Interessant...

eine Sache stört mich schon. Schlangenzungen sind nicht spitz sondern gespalten.

Bei Strophe zwei geht es mir wie pandora, Surrealismus hin oder her.


MfG

Jürgen

Gast

Beitragvon Gast » 06.06.2006, 11:34

Hallo Falschmünzer, was hier am Text verwirrt ist eben jene Schlangenzunge.
Wem wir eine "Spitze Zunge" zugedacht?
Einem weiblichen Wesen. Niemand würde auf den Gedanken kommen und einem Mann eine spitze Zunge, oder auch eine "Rede mit gespaltener Zunge" zurechnen...
Nach dieser Fehlinterpretation meinerseits, oder durch diese Fehlleitung musste ich zwangsläufig im Gedicht stolpern...
Ich denke, wenn ich Gedichte lese immer auf unterschiedlichen Ebenen., eben auch auch auf der sonnbildlichen.
Natürlich ist das Bild des wachsenden Baum ein sehr starkes... aber der Einstieg ist so wie der dasteht eben nicht geschlechtsunspezifisch, wie du es behauptest.
Der einzige der augenscheinlich kein problem hatte ist wohl Paul.
Vielöleicht erklärt dies die Missverständnisse.

Liebe Grüße
Gerda

Falschmünzer

Beitragvon Falschmünzer » 06.06.2006, 12:00

Danke für deinen Kommentar!
Ich kann nur soviel sagen, dass ich die "Schlange"
beim Schreiben nicht negativ konnotiert habe,
auch wenn das auf andere so wirken mag, da jeder
schließlich einen anderen Lesehorizont besitzt.
Für mich ist das Gedicht die Verherrlichung eines
Körpers und der sich anschließende Wunsch nach
Vereinigung - auf welcher Ebene und mit welchen
Bezügen auch immer, das bleibt dem Leser des
Gedichts überlassen.
Auflösung der eigenen Persönlichkeit hat u.A.
eine Vermischung der Identitäten und textintern
der Figuren zur Folge, wobei ich dem Geschlecht
keine sonderliche Rolle zuordne.
Die Schlange als Verführer/in Evas kann meines
Wissens nach genauso gut männlich oder
gar geschlechtslos sein ...

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Beitragvon Lisa » 10.06.2006, 17:57

Hallo Falschmünzer,

(ein besonderer nick!). Dein Text zeugt von Bilderstärke!

mir selbst gefällt der text und ich meine auch ich und du und die verlaufenen Wechsel zu erkennen. Vielleicht könnte man die Irritationen, auf die pandoras und herbys Kommentare hinweisen vermeiden, indem man - vielleicht in einer unabhängigen zweiten Version - das gedicht NICHT aus der ich-Perspektive schreibt, sondern neutraler...so wäre der Leser keiner Perspektiv-Logik unterworfen...

Liebe Grüße,
Lisa


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