zwieschatten

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
carl
Beiträge: 850
Registriert: 31.03.2006
Geschlecht:

Beitragvon carl » 10.08.2009, 10:29

Von unsern schatten warf
Das licht einen nach osten
– als jets umsonst
Ihren kurs bestimmten
Auf blauem löschblatt abend –

Umsonst. Denn von dort wuchs
Im roten spiegel der andere.

Da hatten wir zwei
Den ganzen grat entlang
Zwischen abend und morgen.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 10.08.2009, 11:24

Lieber carl,

danke fürs Einstellen! :smile:

Was ich an diesem Text mag, sind die Doppeldeutigkeit und Doppelbezüge vieler Worte. Es passt zum Gedicht, finde ich.

Es ist (im Gegensatz zu Lydies Text), für mich ganz eindeutig ein Liebesgedicht.
Ein geheimnisvolles, ein Schattengedicht. Die Liebenden stehlen sich aus Raum, Zeit und Licht, die Naturgesetze gelten für sie nicht mehr. (Das scheint die Liebe möglich zu machen, ich erinnere mich an einen anderen Text von Dir, in dem es bezogen auf die Zeit auch so war). Ihnen wächst (ein Prozess, der zweite Schatten wird nicht „geworfen“, s.u.) ein zweiter Schatten zu. Wie das genau geschieht, auch das bleibt geheimnisvoll und der Phantasie des Lesers überlassen. Weil der andere im Spiegel wächst, habe ich zunächst an den Vollmond gedacht, der manchmal einen Rotton hat. Der Titel „Zwieschatten“ (statt „Zwielicht“) könnte es vermuten lassen, ebenso der nach Osten fallende Schatten, der durch die Abendsonne im Westen geworfen wird. Der Mond wäre dann der Gegenpol, der Spiegel (so ist es ja auch, er leiht sich das Licht ja nur von der Sonne) auf der andern Seite. Er erscheint langsam, deshalb der Prozess.
Es könnte aber durchaus auch ganz anders sein.
So wird das Geheimnis durchgehalten, was zwischen den beiden geschieht, ist für die anderen unerreichbar, nur eine Ahnung.

Damit komme ich zum Wort „umsonst“, das zwei Bedeutungen hat. Die Jets versuchen vergeblich, Richtung und Ziel vorzugeben. Nicht nur für sich, auch vielleicht für die Liebenden, denn auch „ihren“ kann auf beides bezogen sein. Damit werden die „Jets“ zur Metapher für das, was gegen die Liebe sprechen könnte und ihr das Leben schwer macht.
Aber die Anstrengungen der Jets laufen ins Leere, denn der „ blaue löschblatt abend“ löst sie auf, so wie sich Kondensstreifen der Flugzeuge auflösen (besonders in Hochdruckgebieten, glaube ich).

Umsonst also. Für die Liebenden bedeutet dieses „umsonst“ aber gerade nicht „vergeblich“, sondern: geschenkt. Es wird etwas Ungeheuerliches möglich. In diesem geschenkten Schattenraum. Und wer würde bezweifeln, das das ein Geschenk ist?

Bei Lydies Text liegt für mich der Schwerpunkt eindeutig auf der Behutsamkeit im Umgang mit den Worten. Eine Gratwanderung.
Hier ist die Gefühlsebene für mich mehrschichtiger. Geheimnis, Zärtlichkeit, Erstaunen...
Und der Grat das Geschenk zwischen Abend und Morgen...
Das Gedicht ist eine Assoziationsfundgrube, wunderbare, unverbrauchte Bilder, die innere Räume öffnen.

Soviel erst mal. Dass ich das gern gelesen habe, brauche ich vermutlich nicht mehr zu erwähnen...

Liebe Grüße

leonie

carl
Beiträge: 850
Registriert: 31.03.2006
Geschlecht:

Beitragvon carl » 10.08.2009, 12:35

toll leonie! ich bin wirklich beeindruckt! danke!

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 10.08.2009, 17:09

Bitte, gerne! Es war mir ein Vergnügen.
Und endlich habe ich scheinbar einmal die richtigen Worte gefunden, um auszudrücken, was ich sagen wollte...Das fällt mir oft schwer.
(Naja, vielleicht verstehst Du, dass ich so einen Sermon nicht so gerne unter Lydies Text posten wollte...)

Stell ruhig mal wieder was ein, meine Spiegelneuronen freuen sich :-).

Liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 11.08.2009, 13:03

Okay, ich komme jetzt zum zweiten Teil (ich hoffe, ich darf nochmal: :-) )

Ich fange diesmal an mit dem blauem löschblatt: Meistens sind Löschblätter gelb, rosa oder grün, so kann man die Erwähnung der Farbe blau als begründet ansehen. Andererseits ist der Himmel (fast) immer blau, so könnte man meinen, es sei überflüssig, sie zu erwähnen.

Die Jets sind aber nicht spezifiziert. Es könnten Passagierflugzeuge sein. Gemeint sind aber wohl eher Kampfjets, die, wie schon erwähnt, der Liebe das Leben schwer machen wollen.
Und deshalb wird für mich auch die Farbe „blau“ hier zur Metapher: Für die Freiheit, die Leichtigkeit und den Schutzraum der Liebenden, den geschenkten Himmel.

„Wir zwei“: ebenfalls doppelt beziehbar: Auf die Schatten. Aber auch auf die Liebenden: Wir zwei hatten (einander) den ganzen Grat. Gekonnt gemacht.

Schön, dass das Geschenk als solches in seiner Kostbarkeit abgenommen und nicht gleich wieder abgewertet wird, nach dem Motto „nur eine Nacht“: Nein, den ganzen Grat zwischen Abend und Morgen. Eine kleine, unvergessliche Ewigkeit.

Die Vorsicht, das Geheimnis dieses Textes lässt mich den Beginn einer Liebesbeziehung vermuten, die vielleicht sogar auf diese eine Nacht begrenzt ist. Aber eben trotzdem den Status Ewigkeit erreicht.

Was Dir, carl, hier gelungen ist, ist m. E. hinter den Bildern metaphorische Tiefenebenen zu schaffen, einen poetischen Mehrwert, der kaum erschöpfend zu erfassen ist. Dann kann man einen Text immer wieder lesen und findet doch noch Neues/Anderes darin (Insofern schließe ich weitere Kommentar-Teile nicht aus).
Das begeistert mich (nicht umsonst ist Hilde Domin, die das m.E. meisterhaft beherrscht meine Lieblingsdichterin), deshalb die vielen Worte.

Liebe Grüße

leonie
:-)

jondoy
Beiträge: 1692
Registriert: 28.02.2008

Beitragvon jondoy » 11.08.2009, 18:18

hey leonie!

fein. und schwungvoll erklärt ;-) .

gruß,
stefan

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 11.08.2009, 18:58

Hey Stefan,

ist ja nur meine Lesart, es gibt halt manchmal Texte, die einen irgendwie "erwischen"...Seufz.

Das Lob gebührt carl.

liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 11.08.2009, 22:19

Lieber Carl, liebe Leonie,

ich wollte eigentlich etwas Längeres zu diesem Text schreiben, dann aber habe ich deinen Kommentar gelesen, leonie, und nun weiß ich nicht mehr so recht, was ich dem hinzufügen könnte, außer, dass auch ich den text gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
Max

carl
Beiträge: 850
Registriert: 31.03.2006
Geschlecht:

Beitragvon carl » 27.09.2009, 15:19

liebe Leoneie,

ich danke dir für deine tolle beschreibung! du hast alles erfasst, was mich bei der der entstehung des textes bewegt hat (bis auf die kampfjets. es waren gewöhnliche passagierfugzeuge. aber das gibt ja auch eine passende deutung.)
der klare himmel (hochdruckgebiet, bei dem sich die kondenz-streifen sofort auflösen)
der sonnenuntergang bei gleichzeitigem vollmond-aufgang
die doppeldeutigkeit von "umsonst" und "zwei"
die geschenkte nacht, begrenzt und doch unendlich.
ich freue mich sehr, dass du das gedicht so genau und einfühlsam liest!

es gibt noch einen zusätzlichen aspekt. aber nur zur ergänzung:
zwieschatten. twilight zone.
es ist eine eigentümliche erfahrung zwei schatten zu haben. man muss das wohl mal erleben.
anders, als die mehrfach-schatten etwa in flutlichtanlagen. die sind gleich.
die schatten von sonne und mond haben völlig verschiedene qualitäten.
der himmel im westen ist türkis (bei ganz klarem wetter eben nicht rot) der himmel im osten violett.
es sind zwei unterschiedliche bewusstseinszustände, zwei mächte, die miteinander um die vorherrschaft ringen. die nicht einfach auszusöhnen sind. wie tag- und nachtbewusstsein. wie zwei verschiedene aspekte einer person.
wenn man es nicht so liest: da hatten wir beiden die nacht für uns (was auf jeden fall so gelesen werden soll)
sondern die kehrseite: da mussten wir die balance halten zwischen zwei widersprechenden kräften in uns. und es gab keine möglichkeit, sich zu orientieren, auch nicht an dem, was man tut (die jets).
und damit die gefahr, die nacht nicht zu überstehen.
"steinschlag. stille."
diese zeile in Lydies gedicht Geröll wird m.e. unterschätzt.
der grat zwischen himmel & hölle ist aber die parallele.

liebe grüße, Carl


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 20 Gäste