Wenn du nicht da bist, geh ich in die Mausoleen...

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Louisa

Beitragvon Louisa » 06.08.2009, 23:11

Neuste Version:

Wenn du nicht da bist, geh ich in die Mausoleen,
dort wo die Todesfrische unsre Hitze kühlen mag.
Ich werfe auf die Gräber Erde, schwarzer Schnee
fällt auf die vielen schon Beendeten herab.

Wenn du nicht da bist, tret ich vor die Feierhalle
und streichele am Eingang fleischige Kakteen,
die wie zwei alte Wärter vor der Abschiedsfalle
drauf lauern, dass die Lebenden zu Toten gehen.

Wenn du nicht da bist, trage ich dem Steinmetz auf,
dass er Nie wieder tot! auf unsren Stein graviere;
der Friedhof schließt. Ich will erfrischt nach Haus spazieren,
wo ich alsbald auf meiner Leinendecke liege,

die riecht nach Kräutern deiner Sprache und darunter ist
noch immer unser letzter Nachmittag begraben
als wir dort stundenlang im gleichen Takt geatmet haben,
dass unser Leben beinah keinem aufgefallen wär.

Und wenn du da bist, ziehe ich die Decke über uns
damit es dunkel wird, als rieselte der Schnee.
Wir spielen lang du seist mein Kind und ich wär deins,
bis wir dann müde werden und nicht schlafen gehn.




Änderungen:

Vorher lautete es in Strophe 3:

dass unsre Grabinschrift ‚Nie wieder tot!‘ bedeuten soll –


Ursprungsversion:

Wenn du nicht da bist, geh ich in die Mausoleen,
wo die Todesfrische unsre Hitze schnell vergessen macht.
Ich werfe auf die Gräber Erde, schwarzer Schnee
fällt immer wieder auf die Beendeten herab.

Wenn du nicht da bist, tret ich vor die Feierhalle
und streichle am Eingang fleischige Kakteen,
die wie zwei alte Wärter vor der Abschiedsfalle
darauf lauern, dass die Lebenden zu Toten gehen.

Wenn du nicht da bist, trage ich dem Steinmetz auf,
dass er ‚Nie wieder tot!‘ auf unsren Stein gravieren soll–
der Friedhof schließt, sodass ich erfrischt nach Hause
laufe, wo ich auf der Decke liegen werde,

die noch riecht nach den Kräutern deiner Stimme
und in der noch immer unser Nachmittag begraben ist
als wir so gleichmäßig geatmet haben, dass
unser Leben beinah niemand aufgefallen wäre

Und wenn du da bist, ziehe ich die Decke über uns
damit es dunkel wird, als rieselte der Schnee.
Wir spielen du seist mein Kind und ich wär deines,
bis wir müde werden und nicht schlafen gehen.


Zweite Version:

Wenn du nicht da bist, geh ich in die Mausoleen,
dort wo die Todesfrische unsre Hitze kühlen mag.
Ich werfe auf die Gräber Erde, schwarzer Schnee
fällt auf die vielen schon Beendeten herab.

Wenn du nicht da bist, tret ich vor die Feierhalle
und streichele am Eingang fleischige Kakteen,
die wie zwei alte Wärter vor der Abschiedsfalle
drauf lauern, dass die Lebenden zu Toten gehen.

Wenn du nicht da bist, trage ich dem Steinmetz auf,
dass er ‚Nie wieder tot!‘ auf unsren Stein graviere–
der Friedhof schließt. Ich will erfrischt nach Haus spazieren,
wo ich alsbald auf meiner Karo-Decke liege,

die riecht nach Kräutern deiner Sprache und darunter ist
noch immer unser letzter Nachmittag begraben
als wir dort stundenlang im gleichen Takt geatmet haben,
so dass das Leben in uns keinem aufgefallen wär.

Und wenn du da bist, ziehe ich die Decke über uns
damit es dunkel wird, als rieselte der Schnee.
Wir spielen lang du seist mein Kind und ich wär deins,
bis wir dann müde werden und nicht schlafen gehn.
Zuletzt geändert von Louisa am 10.08.2009, 14:00, insgesamt 6-mal geändert.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 09.08.2009, 21:00

Hi, Louisa,

Leinendecke ist wirklich viel besser, als Karo, auch von den Vokalen her und wie sie sich in die restliche Zeile einfügen! Der Bezug zum letzten Hemd ist das I-Tüpfelchen!

Wenn du "unser (beider) Leben" schreiben willst, solltest du dem Jambus zuliebe das "so" streichen:

als wir dort stundenlang im gleichen Takt geatmet haben,
dass unser Leben beinah keinem aufgefallen wär.

Oder auch:

als wir dort stundenlang so sehr im gleichen Takt geatmet,
dass unser Leben beinah keinem aufgefallen wär.

Apropos Takt: Versuch wirklich mal, die betonten Silben im Deutschen zu hören (ist ja doch nicht ganz unwichtig für die Wirkung eines Gedichts). Vielleicht gehts, wenn du dir diesen Text mal als Lied vorsingst?

Die Sache mit den Endreimen fiel mir auch auf, aber bei deiner ganz oben eingestellten Fassung reimt sichs in den letzten drei Strophen ja auch nicht. Durch das gleichmäßige Metrum denkt man fast, der Text ist gereimt, mich würden die fehlenden Reime hier nicht stören (obwohls in den Fingern zuckt, welche einzubauen ... ;) )

Freut mich, dass ich helfen konnte!

lg
fenestra

Louisa

Beitragvon Louisa » 10.08.2009, 14:01

Huhu!

Ja, vielen Dank für den letzten Schliff!

Ich habe auch die Lebens-Zeile nach deinen feinen Vorschlägen repariert. Jetzt ist es wirklich besser, finde ich (insgesamt).

Also vielen Dank für die Mithilfe!!!

l

carl
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Beitragvon carl » 11.08.2009, 18:22

Liebe louisa,

meinen glückwunsch zu deiner ode!
Da a.a.o. viel über oden-strophen nachgedacht wird, denke ich, könnte ich mal diese zeitgemäße adaption auf die kriterien der ode hin untersuchen:

1. „ode“ heißt altdeutsch gesang oder neudeutsch song. Überhaupt haben die typen mit der klampfe (die unserm metier ja den namen gegeben hat) heute und damals viel gemeinsam. Als stars genossen/genießen sie kultische verehrung.
Natürlich hat die ode als musikalische sprache, die sich zum deklamieren eignet, einen schwereren stand als der song, wo die emotionale beglaubigung in der unterlegten melodie liegt und nicht im text.
Nicht will wohllauten der deutsche mund/ aber lieblich am stechenden bart rauschen die küsse. so brachte es mal ein alter sänger auf den punkt.
Und ein neuerer dichter dekretierte, lyrik bedürfe heute des lesers und sei nichts für das hören.
aber gemessen an diesen handicaps erfüllt dein song in klaren liedhaften strophen mit lesbarer metrik und vokalreichen worten alle bedingungen an die musikalität der ode.
Es muss nicht immer alkäisch sein...

2. eine ode hat zwar immer eine klar definierte form, aber sie definiert sich durch das thema. form reicht nicht.
der himmel, die liebe und das grab, das sind die themen, mit der sich die ode befasst.
Das sei für diesen kulturkreis durchgearbeitet, moniert zwar der dichter, aber das haben immer noch alle.
Und in dieser ode ist es ja offensichtlich!
Es gehöre ein pathetischer sprachstil dazu, meint wiki, passend zur würde und größe des inhalts.
Da müssen wir unsern konvetionellen reflexen gemäß erst mal schlucken: igitt.
Aber was heißt pathetisch? Es heißt: leidenschaftlich.
„my love is stronger than the universe“ kann man natürlich nur singen. Und auch nur, wenn man aretha franklin heißt. Wir verbinden in der lyrik mit pathos eine pose. Das ist aber nicht gemeint...
Ein gedicht ohne leidenschaft? Wäre das unser ernst?
Keiner verbietet ja, dass man understatement anbringt um die leidenschaft zu covern.
Hier wird die leidenschaft mit ironie gecovert (wobei diese aussage doppelt gemoppelt ist, weil „ironie“ „unterstellung durch verstellung“ heißt):
Die sängerin kühlt die hitze ihrer beider leidenschaft mit einem stück erfrischenden tod.
Womit sie indirekt sagt, die abwesenheit des geliebten sei der tod!
Und das gleich dreimal.
Ich würde meinen: leidenschaftlicher geht’s nimmer. Auch wenn es angemessen selbstironisch und so süffig daherkommt, dass man die tiefere bedeutung gar nicht erst checkt.
Und natürlich ist heute ein der größe des themas angemessener sprachstil ein anderer als damals. Das hat mit dem schluss zu tun. Aber davon später.
der stil ändert sich den veränderten bedigungen gemäß.
Das thema der ode bleibt.

3. eine ode ist ein drama.
Es treten auf: eine auswahl götter, helden, jungfrauen, dämonen, drachen, magische artefakte.
die handlung umfast: begeisterung, aufbruch, kampf, prüfung, erlösung oder verdammnis.
Selbstverständlich im laufe der kulurgeschichte stark sublimiert. Z.b. auf schicksal oder zufall. Wobei die beiden wörter sprachlich ja dasselbe bedeuten.
Ob als äußeres oder inneres drama inszeniert, ob der protagonist untergeht (tragödie) oder obsiegt (komödie, weil kein sieg endgültig ist und man ihn besser leicht nimmt) spielt dabei keine rolle:
Wichtig ist, das kosmische gesetze persönlich genommen, individualisiert werden!
Deshalb ist fenestras inselode keine ode, weil man zwar die monotone veränderung historisch als rise and fall ganzer kulturen, ja sogar für geologische zeiträume deuten kann, aber es gibt keine entwicklung, keine katharsis: es bleiben distanziert beobachtet gräser. Kein persönliches schicksal.
Aber hier in dieser ode! Das ganze repertoir! Der älteste einweihungs-mythos! Göttlich!
Die heldin bricht auf in die unterwelt. sie muss die wächter überwinden. Hier keine schakale des anubis, kein zerberus, keine sphinx. Aber unverkennbar in ihrer rolle fleischige kakteen, die mit einem streicheln zu besänftigen sind (warum? Siehe schluss).
Dem herrn der toten „nie wieder tod“ ins angesicht zu rufen zeigt die klassische dreistigkeit eines echten helden und kann als sieg gedeutet werden. Rechtzeitig entkommt sie der abschiedsfalle als die tore zufallen und nimmt ihren triumpf mit nach hause.
Wenn schon nicht erlöst, so doch erfrischt.
Nach dem vorigen absatz ist klar, dass diese dinge nicht in zu ernsthaftem ton behauptet werden können.
Aber eine wandlung ist unverkennbar:
ist bisher alles im präsens der immerwährenden gegenwart erzählt (wenn du nicht da bist) gibt es jetzt eine neue zukunft!
"Ich will nach hause gehen... Und wenn du (dann) da bist!"
Was orpheus nicht gelang, hier wird es wirklichkeit: der durch abwesenheit tote geliebte kehrt wieder, nachdem die heldin den cerberus ihrer inneren leere bezwungen hat.
Seufz.

Jetzt muss ich schluss machen. Punkt 4 kommt mogen.

liebe grüße, carl

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 11.08.2009, 20:21

Hallo, Carl,

warum stellst du deine Ausführungen zur Ode nicht in die Schreibwerkstatt (jedenfalls die allgemeingültigen Teile)?

Bei dem, was du zur Themenwahl einer Ode sagst, bin ich nicht deiner Meinung. Nur "Himmel, Liebe und Grab", "Drama"? Dann wäre Hölderlins Ode an Heidelberg keine solche. Das entscheidende Merkmal einer Ode ist, jemanden oder etwas zu lobpreisen, zu würdigen. In direkter Ansprache. Dies könnte auch ein Alltagsgegenstand sein, man könnte eine Ode an seine Hausschuhe richten, an das Bett, an einen Ofen. Auch durch die Themenwahl ist ironische Brechung möglich und auch die Themenwahl ermöglicht eine zeitgemäße Anpassung der Ode.

Louisas Gedicht ist für mich keine Ode, weil es nicht direkt ein Gegenüber preist. Es beschreibt vielmehr die eigene Verhaltensweise bei Abwesenheit des Geliebten. Es ist ein Liebesgedicht, aber nicht schwülstig oder kitschig, weil, wie du ganz treffend bemerkst "die leidenschaft mit ironie gecovert" wird und es "angemessen selbstironisch und so süffig daherkommt".


Hi, Louisa,

es scheint so, als wenn keiner mehr an der "geschliffenen" Version etwas auszusetzen hat! Hat Spaß gemacht!

Viele Grüße
fenestra

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Beitragvon leonie » 11.08.2009, 20:34

Liebe Louisa,

ich bin hier schon oft vorbei gekommen und finde, der Text hat durch den "Schliff" noch einmal sehr gewonnen, weil er formal jetzt konsequenter durchgehalten ist.
Ich finde es immer wieder toll, mit welcher Phantasie Du schreibst und auf was für Ideen Du kommst, die Du dann in eine Beziehung zueinander bringst.

Liebe Grüße

leonie

carl
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Beitragvon carl » 13.08.2009, 11:53

liebe fenestra,

es gibt zwei arten von begriffsbestimmung:

die eine ist die de-finition. man erabeitet kriterien (= unterscheidungsmerkmale) und grenzt (finis) dann ab (de).
das macht man in der wissenschaft.

und dann gibt es die wesens-bestimmung. die fragt nach dem sinn der angelegenheit.
dann gibt es keine klaren grenzen, sondern nur ein spannungsverhältnis zwischen möglichkeit und realisierung.
begriffe sind dann nur hinweisschilder: das schild "münchen>" ist nicht münchen.
man muss münchen kennen um zu wissen wie nah man dran ist.

konkret auf unsern fall:
ich habe louisas gedicht als ode interpretiert um daran wesenszüge der ode zu zeigen (louisa hatte sicher nicht die absicht eine ode zu schreiben: das wäre nur dann wichtig, wenn man glaubt, ein dichter sei der herr seines objekts.)

du nennst ein kriterium: lobpreis.
dann wären ziemlich viele oden hölderlins keine oden.
(ferdi tendiert wohl eher zu einem formalen kriterium: dem versmaß)

aber 1. geht es in "heidelberg" nur vordergründig um lobpreis. (bitte mein hinweis auf sublimation beachten!).
außerdem kommen götter, zauber, ein tragischer held, liebe, schicksalskundige burgen und alternde riesen expressis verbis darin vor.
wenn du interesse hast können wir das anderswo diskutieren.

und 2. umfasst meine definition deine: lobpreis ist eine spezielle form dramatischen handelns.

liebe grüße, carl

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 13.08.2009, 18:29

Hallo Carl,

Ferdi tendiert nirgendswohin ;-) Ferdi ist nämlich angesichts einer Gattungsgeschichte, die mehr als 2500 Jahre zurückreicht und in deren Verlauf der Begriff "Ode" für alles und sein Gegenteil gebraucht wurde (ok, das ist übertrieben - aber nicht viel :-)) schlau genug, sich da nicht wirklich festlegen zu wollen ;-)


Hallo Louisa,

die letzte Version hat was :-) Die Erde habe ich mir übrigens von Anfang an als etwas mitgebrachtes gedacht - oder ist es ein Spontanbesuch?! Dann geht das natürlich nicht ganz so gut :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Beitragvon fenestra » 13.08.2009, 23:31

wenn du interesse hast können wir das anderswo diskutieren


Deshalb meinte ich ja, dass du solche Überlegungen beim nächsten Mal ruhig in die Schreibwerkstatt stellen könntest.

Das Versmaß ist wohl heutzutage kein Kriterium mehr für eine Ode. Andererseits - so weit, wie du es nun fasst, gäbe es ziemlich viele Oden.

Louisa

Beitragvon Louisa » 14.08.2009, 13:46

Ähm :smile: ... ich gehe auf diese spannenden Kommentare später noch ein. Ich bin jetzt endlich fertig mit meiner Hausarbeit und muss vorerst eine Denkpause einlegen :smile: ... Aber ich freue mich, dass euch der Text zu so vielen Gedanken anregt.

Bis später!
l


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