Der Denker

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.08.2009, 12:34

Der Denker

Er suchte ein der Welt gemäßes Sagen
bald merkt er, wie sein Sagen ständig irrt
so türmt sich Zweifel - Fragen über Fragen
bis ihm das Sagen selber fraglich wird.

Ein Leben braucht´s, den Irrtum aufzuklären
zu dem sich jedes Wort beharrlich neigt
und selbst der Eifrigste kann nur die Worte mehren
aus deren jedem neuer Nebel steigt.

Fleisch wird nicht Wort - es seie denn durch Götter
so sehr es auch zum Fleische streben mag
es bleibt Gerippe - Futter für die Spötter
und karge Kost und manch verlor´ner Tag.

Willst suchend du auch lang dabei verweilen
wie du die Worte wendest oder drehst
das Zwischen, Über, Hinter seinen Zeilen
bleibt ungesagt-verborgen. Und verwest.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 11.08.2009, 12:10, insgesamt 2-mal geändert.

carl
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Beitragvon carl » 10.08.2009, 15:46

Er sucht der Welt ein angemess'nes Sagen
bald merkt er, wie sein Sagen ständig irrt
so türmt sich Zweifel - Fragen über Fragen
bis ihm das Sagen selber fraglich wird.

Ein Leben braucht´s, den Irrtum aufzuklären
zu dem sich jedes Wort beharrlich neigt
und selbst der Eifrigste kann nur vermehren
woraus für jeden neuer Nebel steigt.

Fleisch wird nicht Wort - es sei denn durch die Götter
so sehr es auch zum Fleische streben mag
es bleibt Gerippe - Futter für die Spötter
und karge Kost für manch verlor´nen Tag.

Willst auch du suchend lang dabei verweilen
wie du den Wortsinn wendest oder drehst
das Zwischen, Über, Hinter seinen Zeilen
bleibt ungesagt-verborgen. Und verwest.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.08.2009, 16:27

Hallo Carl,
erst einmal danke für deinen Überarbeitungsvorschlag, auf den die Textarbeit ja letztlich vorzugsweise hinausläuft. Andererseits möchte ich aber auch etwas daraus lernen können - kannst du mir mal Tipps geben, warum meine Version in deinen Augen schwächelt bzw. deine stärker ist? Ich finde zwar auch, dass die Ersetzung von "Worte" durch "Wortsinn" den Gedanken deutlich besser fasst und der "Zeitsprung" am Anfang ein Problem ist, beim Rest - und besonders in der zweiten Strophe - wäre ich aber für Erläuterungen dankbar.
Liebe Grüße
Merlin
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 10.08.2009, 16:45, insgesamt 2-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 10.08.2009, 16:28

Hallo Ihr beiden,

hier mag ich - trotz Reim und Metrum ;-) - beide Versionen, wobei mir gerade bei der ersten verbesserung carls version vielleicht doch noch einen Tcik runder läuft. Meine Bewunderung jedenfalls, Merlin, für jeden, der solche Zeilen zusammenbekommt. Reim, Metrum und Inhalt beieinander zu halten, scheint mir beinahe wie ein 3D-Puzzle ;-)

Liebe grüße
Max

carl
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Beitragvon carl » 10.08.2009, 16:44

hallo merlin,

das sind keine bewertungen sondern nur vorschläge.
zum inhaltlichen:
1. strophe 1. zeile: der denker ist für mich kein bestimmter, der damals (vergangenheit) lebte, sondern ein zeitloser typus. der rest des gedichts ist ja auch im präsens.
2. strophe 3. zeile: hier sind es 6 hebungen. in allen andern zeilen sind es 5.
3. strophe 1. zeile: wenn du "es seie denn" vorziehst...
3 strophe 2. zeile: das wort, also es, strebt zum fleisch. oder meinst du tatsächlich "er", den denker?
"willst suchend du auch lang dabei verweilen" betont "lange suchend"
"willst auch du" fragt, ob auch der leser sich der reihe der sucher anschließen will.
die restlichen änderungen sind sowieso reine geschmacksache...

lg, c.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 10.08.2009, 16:50

@Max
Das von einem ausgemachten Reimfresser zu hören freut mich :-).

@Carl
Jetzt sehe ich deine Punkte. "seie" klingt für mich irgendwie harmonischer, ansonsten gebe ich dir Recht - besonders im ersten Punkt. Und natürlich strebt das Wort zum Fleisch, und nicht der Denker, außer vielleicht, wenn er einkaufen geht :-). Danke!

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leonie
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Beitragvon leonie » 11.08.2009, 10:28

Lieber Merlin,

ich bewundere wirklich, wie Du einen solchen Inhalt in eine solche Form gießen kannst. Auch wenn ich keine Reime-Freundin bin, das finde ich wirklich gekonnt und in der neuen Fassung rund.

Liebe Grüße

leonie

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 11.08.2009, 21:28

Hallo, Merlin,

ja, da ist sehr viel Wahres dran an diesem Text! Man verbringt in der Tat sein Leben damit, nach Worten zu suchen und diese dann - nachdem sie missverstanden wurden - mit weiteren Worten zu erklären. Manchmal kann man der Worte schon überdrüssig werden.

Du hast diese Gedanken in eine sehr schöne, klingende Form gebracht. Es sind ja schon ziemlich lange Sätze, die sich da durch die Verse ranken, trotzdem fällt die Lektüre leicht und im Grunde strafst du deinen eigenen Text Lügen, denn aus ihm steigt kein Nebel, sondern er ist sehr klar und deutlich.

Carls Vorschläge finde ich fast alle gut, sie geben hier "Schliff": Mich hatten auch gleich die unterschiedlichen Zeiten der Verben in Z1 und Z2 gestört. Die Form "es seie denn" gibt es doch eigentlich gar nicht, daher würde ich auch hier Carls Vorschlag besser finden.

Die letzte Strophe würde ich aber so lassen, denn Carls Variante ändert doch den Sinn und ich glaube, du hast es anders gemeint.

Insgesamt ist das Gedicht in einer eher traditionellen bis altmodischen Sprache geschrieben, also nicht unbedingt ein "der heutigen Welt gemäßes Sagen", aber wenn ich mir dein Avatar so anschaue, finde ich es wiederum stimmig. ;)

Viele Grüße an den Denker
fenestra

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 12.08.2009, 11:40

Liebe Fenestra,
den etwas altmodischen und zu Länglichkeiten neigenden Stil habe ich offenbar im Blut :-). Die Änderungsvorschläge von Carl finde ich ebenfalls fast alle sinnvoll, aber da er schon selbst eine Altnernativversion eingestellt hat, die ja auch sein und nicht mein Verdienst ist, wollte ich sie nicht noch ins Kopfposting kopieren.

Liebe Leonie,
danke für deinen Kommentar! Es freut mich, dass der Sinn des Gedichtes durch Reim und Metrum nicht verstellt wurde. Da ich die allgemeine Abgeneigtheit Reimen gegenüber aber noch immer nicht recht verstehe: Kannst du mir etwas dazu sagen, warum du dich mit Reimen nicht anfreunden kannst? Oder ist das ein eher intuitiver Eindruck?

Euch beiden viele Grüße
Merlin

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.08.2009, 12:26

Hallo Merlin,

trefflich formuliert und ganz á la Merlin, wie ich es sehr schätze.
den etwas altmodischen und zu Länglichkeiten neigenden Stil habe ich offenbar im Blut :-)

ja, das hast du! Und du ziehst es auch konsequent durch, ob nun in Lyrik- oder Prosaform.

Hallo fenestra,

ließ dir mal die Sophus-Reihe von Merlin durch, hier Teil 3
http://www.blauersalon.net/online-liter ... 307#116307

dann weißte Bescheid. ;-)

Saludos
Mucki

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leonie
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Beitragvon leonie » 12.08.2009, 16:55

Lieber Merlin,

hm, ich finde, das ist nicht leicht zu begründen, warum ich nicht so eine Reime-Freundin bin. Eigentlich bin ich es in erster Linie nicht für die zeitgenössischeren Werke, da mag ich Reime, wenn überhaupt, am ehesten in komischen Texten.
Ich finde, Reime müssen ausgesprochen gekonnt und auch originell "gemacht" sein, damit sie überhaupt noch wirken können.
Leider liest man da gerade unter Laien-Dichtern oft Texte, wo der Inhalt hinter den Reimen zurückbleibt oder sie so eine Art Korsett sind, wo sie phantasielos sind oder der Form geschuldet. Oft ist das dann unfreiwillig komisch.

Dazu kommt, dass ich generell ein Mensch bin, der sich oft gegen "Formen" oder "Formales" wehrt. Ich habe da wenig Zugang.

Umso schöner finde ich es, wenn ich dann einen Text finde, der meine Vorbehalte durchbrechen kann.

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 12.08.2009, 20:34

Lieber Merlin,

wenn auch nicht direkt angesprochen, so kann ich vielleicht auch etwas dazu sagen:

Ich denke, dass es oftmals schlechte Reimgedichte sind, die einem die Freude an den Reimgedichten nehmen. Wenn alles, inklusvie Metrum und Inhalt einem (profanen) Reim untergeorndet wird, so frage ich mich: warum soll ich das noch lesen ...?

Dazu kommt bei mir wohl, dass ich vermute, dass eine Entwicklung auf der Ebene der Reimgedichte nur schwer zu finden ist. So, wie die stak formale Musik nach J.S. Bach immer stärker aufgelöst wurde, habe ich den Verdacht, dass das größere lyrische Potenzial in der freien Form liegt ... aber: Bin ich Germanist ;-)?

Liebe Grüße
max

jondoy
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Beitragvon jondoy » 13.08.2009, 00:37

Hi Merlin,

deinen Text hab ich heut zufällig in einer "have a break" Pause gelesen,
er hat mir gefallen, und dass heisst was,
die form hat es bei mir ziemlich schwer, ich fands nicht leer,
kann eigentlich gar nicht so verstehn, dass du es ein fieses gedicht nennst,
ich empfand es gar nicht so, vielleicht, weil ich da gar nicht an denker, sondern an dichter denke,
es hat mich sogar inspiriert,
weil ich den inhalt - natürlich gleich fehlinterpretiert - nach meinen geschmack drastischer lieben würde,
wenn ich jetzt die ganzen kommentare dazu lese, pack ich meine version natürlich sofort wieder ein *grins*, ich lach oft über mich selbst ; - ),
es wär so in die Richtung gegangen,
schreiben ist ein erdbebengebiet,
man wandert auf den "zwischen den zeilen"
.....
die zwiespalten haben schon manchen spurlos verschluckt green:
ist halt meine interpretöse Lesart des Textes ;-)

Gruß,
Stefan

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 14.08.2009, 13:05

Hallo Jondoy,
das "fies" war auch eher ironisch-augenzwinkernd gemeint - ich habe nichts gegen Reime, aber natürlich auch nur, solange sie, wie Max und Leonie bemerkt haben, nicht zum Selbstzweck werden und sich gegen den Inhalt wenden bzw. ihn bestimmen. Vielleicht machst du aus deine ("drastische") Lesart einfach einen eigenen Text? Ansätze zu einer tragenden Metaphorik ("Erdbebengebiet", "Wanderung", "verschluckender Zwiespalt") hast du ja schon.
In diesem Fall gespannt
Merlin

Hallo Gabriella,
fein, das macht mir Mut, es mal wieder öfter mit Lyrik zu versuchen. Ich habe immer so etwas die Befürchtung, dafür zu schwerfällig zu schreiben, aber vielleicht lässt sich ja auch daraus etwas machen.
Liebe Grüße
Merlin


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