Klöckeln

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Max

Beitragvon Max » 27.07.2009, 21:30

Hab's gerade noch geschafft :-)


2. Version auf Grund von Scarletts, Floras und Renées Anmerkungen, danke!


Klöckeln

Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. Unter dem Fenster hat sich eine kleine Lache gebildet. Auch das Dach leckt an zwei Stellen. Das Wetter hat sich im Tal gefangen. Es kommt nicht über den nächsten Berg. Nun schwappt es zwischen den Hügeln hin und her, wie Wasser, das man in einem tiefen Eimer bewegt.

Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte unsichtbar einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

Das Messer hat schon seinem Vater gehört. Auch er hat Kerben geschnitzt. Als der Bruder geboren wurde, sein Ältester, kaufte der Vater ein Kantholz. Zu jedem Geburtstag rief er die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer und nahm Maß. Jede Kerbe wurde mit einem Namen und einer Zahl versehen: Max 5 Jahre, Georg 7 Jahre. Stets war der Bruder im gleichen Alter ein wenig größer gewesen als er, erst in den letzten zwei Jahren bis zum achtzehnten Geburtstag spurtete er nach, schoss auf, so dass die Brüder nun exakt gleich groß sind. Nach dem achtzehnten Geburtstag fehlen die Kerben.

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Der Griff aus Hirschhorn, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Nicht tief. Nur ein paar Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt.

Er hat die Stunden gezählt, die Tage, doch hat er vergessen, welcher Tag vor drei Tagen war. Es könnte Dienstag sein oder Mittwoch. Auf jeden Fall ist Spätherbst. Der Regen draußen, das ist Herbstregen. Die Lache unter dem Fenster ist zu einem ansehnlichen See angewachsen. Kleine Seitenarme mäandern in Richtung des Esstisches. Wie lange würde es dauern, bis das Haus unter Wasser steht? Er hat die Geschichte von der Sintflut vor vielen Jahren in der Bibel gelesen. Geglaubt hat er sie nicht. Später hörte er, dass sich die gleiche Geschichte in viel älteren Überlieferungen wiederfindet. Also hat sie vermutlich doch einen wahren Kern. Er stellt sich vor, er müsse die Besatzung einer Arche zusammenstellen. Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut.

Bald kommen sie wieder klöckeln. Er hat den alten Brauch immer gemocht, ist selbst oft genug verkleidet als Zussmandl mit Glocken von Haus zu Haus gezogen, auf die entlegenen Höfe. Es war nicht nur die Freude am Verkleiden, die ihn mitmachen ließ, nicht nur die Geselligkeit. Stets war auch das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand.

Nun nistet in seinem Haus die Stille. Der nächste Hof ist fünfhundert Meter talabwärts. Einen knappen Kilometer höher liegt noch eine Hütte. Wenn er jetzt stürbe, man fände ihn vermutlich erst Tage später. Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen. Wie damals dem Fisch im Aquarium seines Bruders, der tagelang mit kaputter Schwimmblase schief im Becken schwamm und dabei träger und immer träger wurde. Zum Schluss stieß er ein paar Mal mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und tauchte wieder auf den Grund des Beckens hinab. Er hatte seinen Blick nicht abwenden können. Auch als sein Bruder, der den Todeskampf des Fisches nicht sehen wollte, ihn bannen wollte wie eine ansteckende Krankheit, ihn bat wegzuschauen, hatte er weiter ins Aquarium gestarrt. Schließlich hatte sein Bruder geschrien, den Tränen nahe, er solle endlich den Fisch in Ruhe sterben lassen. Da war er gegangen. Am nächsten Tag lag der Fisch tot am Grund.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass er lebt, merkt er nicht. Er atmet ein und er atmet aus. Er fühlt. Er denkt. Ja. Aber er hat geatmet, gefühlt und gedacht, solange er sich erinnern kann. Wäre er tot, würde er es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst dass er älter wird, ist für ihn eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann sie an den Falten ablesen, die sich um seine Augen gebildet haben, oder seinem grau gewordenen Haar. Aber er fühlt sich nicht anders als er sich vor zwanzig Jahren gefühlt hat. Denkt er.

Auch das Haus ist älter geworden. Die große Blutbuche stützte sich, vor ein paar Jahren alt geworden, zu sehr auf das Dach. Das kostete ein paar Schindeln. Ein Sturm raubte weitere. Dort dringt nun Wasser ein. Außerdem ist die Farbe an den Wänden rissig geworden. Sie hätten schon längst einen neuen Anstrich gebraucht. Er seufzt.

Die Arme des Sees unter dem Fenster haben sich unterdessen mit den anderen beiden Pfützen, zusammengeschlossen. Er sollte nun wirklich Eimer holen. Der Wind ist unter die Läden der Fenster gefahren. Vielleicht klopft es auch. Er steht nicht auf, um nachzusehen.




Klöckeln


Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. Unter dem einen Fenster hat sich eine kleine Lache gebildet. Auch das Dach leckt an zwei Stellen. Das Wetter hat sich im Tal gefangen. Es kommt nicht über den nächsten Berg. Nun schwappt es zwischen den Hügeln hin und her, wie Wasser, das man in einem tiefen Eimer bewegt.

Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte unsichtbar einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

Das Messer hat schon seinem Vater gehört. Auch er hat Kerben geschnitzt. Als der ältere Bruder geboren wurde, sein Ältester, kaufte der Vater ein Kantholz. Zu jedem Geburtstag rief er die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer und nahm Maß. Jede Kerbe wurde mit einem Namen und einer Zahl versehen: Max 5 Jahre, Georg 7 Jahre. Stets war der Bruder im gleichen Alter ein wenig größer gewesen als er, erst in den letzten zwei Jahren bis zum achtzehnten Geburtstag spurtete er nach, schoss auf, so dass die Brüder nun exakt gleich groß sind. Nach dem achtzehnten Geburtstag fehlen die Kerben.

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Ein Hirschhorngriff, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Kein tiefer Schnitt, nur leicht geritzt. Nur ein paar dunkelrote Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt.

Er hat die Stunden gezählt, die Tage, doch hat er vergessen, welcher Tag vor drei Tagen war. So fühlt er wie die Zeit vergeht und hat doch kein Gefühl für sie. Es könnte Dienstag sein oder Mittwoch. Auf jeden Fall ist Spätherbst. Der Regen draußen kündet davon. Die Lache unter dem Fenster ist zu einem ansehnlichen See angewachsen. Kleine Seitenarme mäandrieren in Richtung des Esstisches. Wie lange würde es dauern, bis das Haus unter Wasser steht? Er hat die Geschichte von der Sintflut vor vielen Jahren in der Bibel gelesen. Geglaubt hat er sie nicht. Später hörte er, dass sich die gleiche Geschichte in viel älteren Überlieferungen wiederfindet. Also hatte sie vermutlich doch einen wahren Kern. Er stellt sich vor, er müsse die Besatzung einer Arche zusammenstellen. Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut.

Bald kommen sie wieder klöckeln. Er hat den alten Brauch immer gemocht, ist selbst oft genug verkleidet als Zussmandl mit Glocken von Haus zu Haus gezogen, auf die entlegenen Höfe. Es war nicht nur die Freude am Verkleiden, die ihn mitmachen ließ, nicht nur die Geselligkeit. Stets war auch das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand.

Nun nistet auch in seinem Haus die Stille. Der nächste Hof ist fünfhundert Meter talabwärts. Einen knappen Kilometer höher liegt noch eine Hütte. Wenn er jetzt stürbe, man fände ihn vermutlich erst Tage später. Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen. Wie damals dem Fisch im Aquarium seines Bruders, der tagelang mit kaputter Schwimmblase schief im Becken schwamm und dabei träger und immer träger wurde. Zum Schluss stieß er ein paar Mal mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und tauchte wieder auf den Grund des Beckens hinab. Er, damals noch ein Junge, hatte seinen Blick nicht abwenden können. Auch als sein Bruder, der den Todeskampf des Fisches nicht sehen wollte, ihn bannen wollte wie eine ansteckende Krankheit, ihn bat wegzuschauen, hatte er weiter ins Aquarium gestarrt. Schließlich hatte sein Bruder geschrien, den Tränen nahe, er solle endlich den Fisch in Ruhe sterben lassen. Da war er gegangen. Am nächsten Tag, lag der Fisch tot am Grund.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass er lebt, merkt er nicht. Er atmet ein und er atmet aus. Er fühlt. Er denkt. Ja. Aber er hat geatmet, gefühlt und gedacht, solange er sich erinnern kann. Wäre er tot, würde er es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst, dass er älter wird, ist für ihn eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann sie den Falten ansehen, die sich um seine Augen gebildet haben, oder seinem grau gewordenen Haar. Aber er fühlt sich nicht anders als er sich vor zwanzig Jahren gefühlt hat. Denkt er.

Auch das Haus ist älter geworden. Die große Blutbuche stützte sich vor ein paar Jahren alt geworden zu sehr auf das Dach. Das kostete ein paar Schindeln. Ein Sturm raubte ein paar weitere. Hier dringt nun Wasser ein. Außerdem ist die Farbe an den Wänden rissig geworden. Sie hätten schon längst einen neuen Anstrich gebraucht. Er seufzt.

Die Arme des Sees unter dem Fenster haben sich unterdessen mit den beiden Pfützen, die aus der Decke getropft sind, zusammengeschlossen. Er sollte nun wirklich Eimer holen und sie unter die eindringenden Rinnsale stellen. Der Wind ist unter die Läden der Fenster gefahren, so dass es klingt, als ob jemand klopft. Vielleicht klopft es auch wirklich. Er mag nicht zur Tür gehen, um nachzuschauen.
Zuletzt geändert von Max am 05.08.2009, 14:03, insgesamt 2-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 29.07.2009, 21:06

Lieber Max,

beim Lesen deiner Erzählung hatte ich das Gefühl, ein Gemälde zu betrachten, bei dem du, der Autor, den Blick von Detail zu Detail leitest und mit HIntergrundwissen auffüllst.
Titel des Bildes: die geronnene Zeit.

Ich finde es wunderbar, wie du durch diesen Text führst, genau und doch auch so, dass dem Leser/Betrachter genügend Zwischenraum übrigbleibt. Durch die gelungene Verzahnung hat man das Gefühl, dass da ein Gewebe entsteht, unterschiedlich im Garn und doch sich zu einer Einheit fügend.

Das "Klöckeln" musste ich natürlich nachschlagen, wobei ich allerdings bereits nach dem ersten Lesen instinktiv gespürt habe, dass der Schluss - mit dem (An)Klopfen - etwas mit dem Titel zu tun haben muss.

Das Monatsthema mit diesem Text einzufangen, zu gestalten, ist dir m M nach gelungen. Das Gute an diesem stillen Text ist dieses sich selbst Bescheiden, sich Abfinden mit den (rauen) Gegebenheiten in einer Region, die im Winter/Spätherbst sicherlich alles andere als freundlich ist. Und das ohne zu klagen, ohne Schuldzuweisung, ohne Jammer.

So wie die Zeit auf allem und jedem ihre Spuren hinterlässt, bevor sie schließlich vergeht, so sieht sich die Gestalt in deiner Erzählung: Spuren hinterlassend, auch wenn sie irgendwann hinübergeht.

Einige sprachliche Ungenauigkeiten, die mir aufgefallen sind, hab ich im Folgenden markiert.

Ich habe deine Erzählung sehr gern gelesen; sie hat mich sehr nachdenklich gestimmt.

LG,

scarlett

Klöckeln
Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. Unter dem einen Fenster hat sich eine kleine Lache gebildet. Auch das Dach leckt an zwei Stellen. Das Wetter hat sich im Tal gefangen. Es kommt nicht über den nächsten Berg. Nun schwappt es zwischen den Hügeln hin und her, wie Wasser, das man in einem tiefen Eimer bewegt. - einfach wunderbar!

Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen dem Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte - erinnert mich an einen Schulgong! unsichtbar einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

Das Messer hat schon seinem Vater gehört. Auch er hat Kerben geschnitzt. Als der ältere Bruder geboren wurde, sein Ältester, kaufte der Vater ein Kantholz. Zu jedem Geburtstag rief er die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer und nahm Maß. Jede Kerbe wurde mit einem Namen und einer Zahl versehen: Max 5 Jahre, Georg 7 Jahre. Stets war der Bruder im gleichen Alter ein wenig größer gewesen als er, erst in den letzten zwei Jahren bis zum achtzehnten Geburtstag spurtete er nach, schoss auf, so dass die Brüder nun exakt gleich groß sind. Nach dem achtzehnten Geburtstag fehlen die Kerben.

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Ein Hirschhorngriff, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Kein tiefer Schnitt, nur leicht geritzt. Nur ein paar dunkelrote Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt.

Er hat die Stunden gezählt, die Tage, doch hat er vergessen, welcher Tag vor drei Tagen war. So fühlt er wie die Zeit vergeht und hat doch kein Gefühl für sie. Es könnte Dienstag sein oder Mittwoch. Auf jeden Fall ist Spätherbst. Der Regen draußen kündet davon. Die Lache unter dem Fenster ist zu einem ansehnlichen See angewachsen. Kleine Seitenarme mäandrieren- warum nicht mäandern??? in Richtung des Esstisches. Wie lange würde es dauern, bis das Haus unter Wasser steht? Er hat die Geschichte von der Sintflut vor vielen Jahren in der Bibel gelesen. Geglaubt hat er sie nicht. Später hörte er, dass sich die gleiche Geschichte in viel älteren Überlieferungen wiederfindet. Also hatte sie vermutlich doch einen wahren Kern. Er stellt sich vor, er müsse die Besatzung einer Arche zusammenstellen. Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut.

Bald kommen sie wieder klöckeln. Er hat den alten Brauch immer gemocht, ist selbst oft genug verkleidet als Zussmandl mit Glocken von Haus zu Haus gezogen, auf die entlegenen Höfe. Es war nicht nur die Freude am Verkleiden, die ihn mitmachen ließ, nicht nur die Geselligkeit. Stets war auch das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand.

Nun nistet auch in seinem Haus die Stille. Der nächste Hof ist fünfhundert Meter talabwärts. Einen knappen Kilometer höher liegt noch eine Hütte. Wenn er jetzt stürbe, man fände ihn vermutlich erst Tage später. Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen. Wie damals dem Fisch im Aquarium seines Bruders, der tagelang mit kaputter Schwimmblase schief im Becken schwamm und dabei träger und immer träger wurde. Zum Schluss stieß er ein paar Mal mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und tauchte wieder auf den Grund des Beckens hinab. Er, damals noch ein Junge, hatte seinen Blick nicht abwenden können. Auch als sein Bruder, der den Todeskampf des Fisches nicht sehen wollte, ihn bannen wollte wie eine ansteckende Krankheit, ihn bat wegzuschauen, hatte er weiter ins Aquarium gestarrt. Schließlich hatte sein Bruder geschrien, den Tränen nahe, er solle endlich den Fisch in Ruhe sterben lassen. Da war er gegangen. Am nächsten Tag, - Komma weg lag der Fisch tot am Grund.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass er lebt, merkt er nicht. Er atmet ein und er atmet aus. Er fühlt. Er denkt. Ja. Aber er hat geatmet, gefühlt und gedacht, solange er sich erinnern kann. Wäre er tot, würde er es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst, - Komma weg dass er älter wird, ist für ihn eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann sie den Falten ansehen - eher: an den Falten ablesen, die sich um seine Augen gebildet haben, oder seinem grau gewordenen Haar. Aber er fühlt sich nicht anders als er sich vor zwanzig Jahren gefühlt hat. Denkt er.

Auch das Haus ist älter geworden. Die große Blutbuche stütze sich vor ein paar Jahren alt geworden zu sehr auf das Dach. Das kostete ein paar Schindeln. Ein Sturm raubte ein paar weitere. Hier dringt nun Wasser ein. Außerdem ist die Farbe an den Wänden rissig geworden. Sie hätten schon längst einen neuen Anstrich gebraucht. Er seufzt.

Die Arme des Sees unter dem Fenster haben sich unterdessen mit den beiden Pfützen, die aus der Decke getropft sind, zusammengeschlossen. Er sollte nun wirklich Eimer holen und sie unter die eindringenden Rinnsale stellen. Der Wind ist unter die Läden der Fenster gefahren, so dass es klingt, als ob jemand klopft klopfe. Vielleicht klopft es auch wirklich. Er mag nicht zur Tür gehen, um nachzuschauen.

Max

Beitragvon Max » 29.07.2009, 22:03

Liebe Scarlett,

hab Dank für diese sehr genaue Lektüre. Mit den Anmerkungen hast du sehr recht ... die Ungenauigkeiten stammen daher, dass der Text i.w. hier in einer ittagspause entstanden ist. Ich werde se, sobald es geht reparieren.
Bei einem solchen Kommentar freue ich mich jedesmal im Salon zu sein
Max

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 29.07.2009, 22:32

Hallo Max,

ich mag deinen Erzählton hier und auch die Geschichte sehr gern. Die Stimmung ist gleich da, sie fängt einen ein, nimmt mit hinein in eine eigene Stille, die sie um einen webt, in der man dann den Regen hören kann und den Wind und die Zeit und man spürt, da steht etwas im Raum, das man nicht sieht, nur erahnt. Sie erzählt sich nicht aus.
Nur ein paar Kleinigkeiten... Und etwas Größeres... Ich hätte ihn nicht Max genannt, das irritiert mich. ;-)
Ich bin mal im Text.
(scarletts Komm. habe ich gerade erst entdeckt, wenn sich etwas überschneidet, überlies es einfach.)

Klöckeln
*lach* ich las erst „Klöppeln“ und dachte, oh, was wird das für eine zarte Geschichte? Klöckeln kannte ich nicht, habe aber inzwischen nachgelesen, und der Text gibt ja auch selbst genügend Aufschluss darüber.

Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie
nach Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er wie? Da fehlt mir klanglich etwas. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. Unter dem einem Fenster hat sich eine kleine Lache gebildet. Auch das Dach leckt an zwei Stellen. Das Wetter hat sich im Tal gefangen. Es kommt nicht über den nächsten Berg. Nun schwappt es zwischen den Hügeln hin und her, wie Wasser, das man in einem tiefen Eimer bewegt. Schön!

Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte unsichtb
ar unhörbar? einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Verstehe ich nicht, gongt sie dann nicht? Eine Kuckucksuhr? Ruft sie dann nicht eher? Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

Das Messer hat schon seinem Vater gehört. Auch er hat Kerben geschnitzt. Als der ältere Bruder geboren wurde, sein Ältester, kaufte der Vater ein Kantholz. Zu jedem Geburtstag rief er die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer und nahm Maß. Jede Kerbe wurde mit einem Namen und einer Zahl versehen: Max 5 Jahre, Georg 7 Jahre. Stets war der Bruder im gleichen Alter ein wenig größer gewesen als er, erst in den letzten zwei Jahren bis zum achtzehnten Geburtstag spurtete er nach, schoss auf, so dass die Brüder nun exakt gleich groß sind. Nach dem achtzehnten Geburtstag fehlen die Kerben.

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Ein Hirschhorngriff, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Kein tiefer Schnitt, nur leicht geritzt.
Nicht tief. Nur ein paar dunkelrote Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt.

Er hat die Stunden gezählt, die Tage, doch hat er vergessen, welcher Tag vor drei Tagen war. So fühlt er wie die Zeit vergeht und hat doch kein Gefühl für sie.
Das ist mir zu erklärend und holt mich aus der Stimmung. Es könnte Dienstag sein oder Mittwoch. Auf jeden Fall ist Spätherbst. Der Regen draußen kündet davon. kündet fällt sprachlich für mich heraus, vielleicht einfacher: Das erkennt er am Regen? Die Lache unter dem Fenster ist zu einem ansehnlichen See angewachsen. Kleine Seitenarme mäandrieren mäandern? in Richtung des Esstisches. Wie lange würde es dauern, bis das Haus unter Wasser steht? Er hat die Geschichte von der Sintflut vor vielen Jahren in der Bibel gelesen. Geglaubt hat er sie nicht. Später hörte er, dass sich die gleiche Geschichte in viel älteren Überlieferungen wiederfindet. Also hatte hat? sie vermutlich doch einen wahren Kern. Er stellt sich vor, er müsse die Besatzung einer Arche zusammenstellen. Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut. Schön trockene Beobachtung, gefällt mir.

Bald kommen sie wieder klöckeln. Er hat den alten Brauch immer gemocht, ist selbst oft genug verkleidet als Zussmandl mit Glocken von Haus zu Haus gezogen, auf die entlegenen Höfe. Es war nicht nur die Freude am Verkleiden, die ihn mitmachen ließ, nicht nur die Geselligkeit. Stets war auch das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt.
Machen das Priester? Klingt ein bisschen nach Hokuspokus. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand. Das trifft es für mich viel besser.

Nun nistet auch
warum auch? in seinem Haus die Stille. Der nächste Hof ist fünfhundert Meter talabwärts. Einen knappen Kilometer höher liegt noch eine Hütte. Wenn er jetzt stürbe, man fände ihn vermutlich erst Tage später. Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen. Das ist klasse! Wie damals dem Fisch im Aquarium seines Bruders, der tagelang mit kaputter Schwimmblase schief im Becken schwamm und dabei träger und immer träger wurde. Zum Schluss stieß er ein paar Mal mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und tauchte wieder auf den Grund des Beckens hinab. Er, damals noch ein Junge, hatte seinen Blick nicht abwenden können. Auch als Georg sein Bruder, der den Todeskampf des Fisches nicht sehen wollte, ihn bannen wollte wie eine ansteckende Krankheit, ihn bat wegzuschauen, hatte er weiter ins Aquarium gestarrt. Schließlich hatte sein Bruder geschrieen, den Tränen nahe, er solle endlich den Fisch in Ruhe sterben lassen. Da war er gegangen. Am nächsten Tag, lag der Fisch tot am Grund.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass er lebt, merkt er nicht. Er atmet ein und er atmet aus. Er fühlt. Er denkt. Ja. Aber er hat geatmet, gefühlt und gedacht, solange er sich erinnern kann. Wäre er tot, würde er es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst, dass er älter wird, ist für ihn eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann sie den Falten ansehen, die sich um seine Augen gebildet haben, oder seinem grau gewordenen Haar. Aber er fühlt sich nicht anders als er sich vor zwanzig Jahren gefühlt hat. Denkt er.
Diesen ganzen Absatz finde ich zu erklärend und unlogisch, und auch in der Beobachtung zu sehr Klischee (Falten/graue Haare). Er fällt für mich aus der Geschichte heraus und kann mit der Fischepisode und der Stimmung nicht mithalten, ist mir zu geschwätzig für die Stille. .-) Ich würde ihn am liebsten komplett streichen und dafür vielleicht einen etwas größeren Absatz machen, dann wäre der Gedankensprung vom Fisch zur Blutbuche für mich auch sehr authentisch, die Falten würden spürbar.

Auch das Haus ist älter geworden. Die große Blutbuche stütze sich vor ein paar Jahren alt geworden zu sehr auf das Dach. Das kostete ein paar Schindeln. Ein Sturm raubte ein paar weitere. Hier
Dort dringt nundas Wasser ein. Außerdem ist die Farbe an den Wänden rissig geworden. Sie hätten schon längst einen neuen Anstrich gebraucht. Er seufzt.

Die Arme des Sees unter dem Fenster haben sich unterdessen mit de
n anderen beiden Pfützen, die aus der Decke getropft sind, Pfützen, die aus der Decke tropfen, klingt komisch zusammengeschlossen. Er sollte nun wirklich Eimer holen und sie unter die eindringenden Rinnsale stellen. „eindringende Rinnsale“ klingt auch seltsam? Der Wind ist unter die Läden der Fenster gefahren., so dass es klingt, als ob jemand klopft. Vielleicht klopft es.auch wirklich. Er mag nicht zur Tür gehen, um nachzuschauen. „Er mag nicht“ erscheint mir hier irgendwie nicht treffend... Ich würde es glaube ich lieber offener und ohne scheinbare Begründung lesen... Vielleicht etwas wie:
Er (schnitzt eine weitere Kerbe), geht nicht mehr zur Tür, um nachzuschauen.
Oder: 69. Er steht nicht auf, um nachzusehen.


Ein feiner Text (auch wenn du nichts änderst .-)), dem ich gerne zugehört habe.

liebe Grüße
Flora

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.07.2009, 23:43

Hallo Max,

ein schönes Stück Prosa, sehr passend zum Monatsthema. Dies ist ein Text, den ich mehr höre als lese, denn du trägst mich als Leser in dieses Plätschern des Regens hinein und in diese ganz eigene reflektierende, stille Stimmung.
Die Anmerkungen von Monika und Flora unterstreiche ich, ergänzende sind mir jetzt nicht aufgefallen.
Diesen Text würde ich sehr gern von dir gelesen hören. ,-)

Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 30.07.2009, 13:18

Lieber Max,

das ist ein wunderbarer Text, ich las ihn heute zum 3. Mal mit Freude.

Das passt perfekt zum Monatsthema. Die Anmerkungen von Monika und Flora finde ich auch passend.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

Herby

Beitragvon Herby » 30.07.2009, 21:47

Lieber Max,

da ist dir ein Text gelungen, der in seiner Feinheit und Stille seiner Zeichnung nachhallt und im Gedächtnis bleibt. In Abwandlung deines Satzes an scarlett kann ich nur sagen: bei solchen Texten freue ich mich, im Salon zu sein!

Herzlichen Gruß und Dank für diesen Lesegenuss,
Herby

Max

Beitragvon Max » 30.07.2009, 21:56

Liebe Flora, Gabi, Elsa und Herby,

herzlichen Dank für Eure Kommentare. Ich werde mich ganz bestimmt Eurer Ä'nderungsvorschläge annehmen - gerade ist es allerdings schwierig, da ich in Berlin bin und anscheinend in einem alten Stasibunker untergekommen ... selbst mit webstick habe ich hier kein Netz, nur ein oft zusammenbrechendes offenes WLAN erlaubt mir den Zugang.

Nur soviel gerade: Flora, der Absatz, den Su so gar nicht leiden kannst, muss bleiben (tja, ich hänge wie immer an meinen Sätzen bzw. vertdieige in diesem Fall mal eine erste Fassung ;-) ) Eher würde ich die ganze Geschichtee rausnehmen als nur diesen Absatz: Er enthält die Sätze, wie mir am wichtigsten sind ...

Liebe Grüße
Max

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 30.07.2009, 21:59

Lieber Max,

dein Text hat mich sehr berührt. Ich finde es allerdings schwer nach den ausführlichen Kommentaren noch Neues zu sagen. Ich machs mal auf die umständliche Art :

fett = Stellen, die mir besonders gefallen haben
kursiv = eventuelle Kritik

Klöckeln sehr schöner Titel, der neugierig macht

Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. unklar ?


Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte unsichtbar einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

sehr schöne Stelle : alles ist angekündigt, dicht, genau, ohne Pathos ...

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Ein Hirschhorngriff, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Kein tiefer Schnitt, nur leicht geritzt. Nur ein paar dunkelrote Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt. idem

Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut. idem

das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand.

Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden?

so dass es klingt, als ob jemand klopft. Vielleicht klopft es auch wirklich. Er mag nicht zur Tür gehen, um nachzuschauen.

Alle fett gedruckten Passagen haben mich besonders stark beeindruckt, nur ein Satz (kursiv) ist mir wirklich unklar geblieben. Natürlich ist der mehr erzählerische Teil, den ich ausgespart habe notwendig und am rechten Platz. Ich habe nur versucht, herauszufiltern, was mich besonders beeindruckt hat.

Einzige allgemeine Kritik (nach langem Suchen) das Thema selbst, es scheint so sehr regional verankert. Es ist verankert in Bindungen = und drückt sie stark und überzeugend aus.

Bewundernd
lG
Renée

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 31.07.2009, 07:55

Hallo Max,

Nur soviel gerade: Flora, der Absatz, den Su so gar nicht leiden kannst, muss bleiben (tja, ich hänge wie immer an meinen Sätzen bzw. vertdieige in diesem Fall mal eine erste Fassung ) Eher würde ich die ganze Geschichtee rausnehmen als nur diesen Absatz: Er enthält die Sätze, wie mir am wichtigsten sind ...

Das hatte ich fast befürchtet. ;-) Wollte es trotzdem angemerkt haben. :pfeifen:
"So gar nicht leiden" stimmt ja auch nicht, nur eben nicht als Teil der Geschichte.

Liebe Grüße
Flora

Max

Beitragvon Max » 31.07.2009, 09:51

Hallo Flora,

*grins* .. wir sind da eben perfekt aufeinander abegstimmt.
Es käme mir ohne diese Passage vor, als wolltest Du aus Winnetou die Indianer streichen. Der Grund für die "erklärenden" Passagen (wobei die Kombination aus erklärend und unlogisch ja echt kein Kompliment ist ;-) ) liegtr vermutlich darin begründet, dass sich meine Erzählperspektive zwischen auktorial (die prinzipielle Haltung) und personal (das geht gar nicht anders, wenn es nur eine Person gibt, die ganz allein da sitzt .-) ) bewegt. Die erklärenden Passagen sind die Gednaken des Mannes.

Liebe Renee,

herzlichen Dank für das dicke (und in diesem Fall fette ;-) ) Lob ...

Ich geh nachher noch auf Eure kommentare ein. Ich habenur in 4 Moniten einen Vortrag ... schnell dort hin .. 9.55 Uhr :-)

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 02.08.2009, 11:56

Hallo,

ich habe es gerade trotz widriger Umstände ;-) (ein ständig verschwindendes Netz) geschafft, eine neue Version einzustellen. Viele der Anmerlungen - gerade von Flora, aber auch von Scarlett und Renée - habe ich aufnehmen können, danke.
Bei anderem hatte ich das Gefühl, dass ich meinen Text lieber mochte, deshalb ist er stehen geblieben ;-) .. gerade bei der längeren passaeg, Flora, hatte ich das ja schon angekündigt. Die brauche ich für meine 'Botschaft' ;-). Bei den Scheiben, Renée, scheint es Unklarheiten zu geben, nur weiß ich nicht welche. Die Uhr, Flora, steht im anderen Zimmer, daher kann man sie nur hören, nicht sehen. Sie schlug jede Viertel Stunde einmal und dann zu jeder vollen Stunde die (Uhr)zeit ... solche Uhren gibt es doch :-).

Die regionale Verankerung, Renée, zumindest des Klöckelns an sich ist wohl richtig. Allerdings stamme ich selbst nicht aus der Gegend und kann meinen Text trotzdem verstehen *grins*. Was mich im Nachhinein eher stört, dass es mich beim dritten lesen an Frischs Holozän erinnert hat.

Und schließlich: Ja, es ist natürlich 'mäandern' *schäm*

Liebe Grüße und herzlichen dank für das gründliche Lesen,
ich denke der Text hat gewonnen
Max

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Beitragvon Ylvi » 02.08.2009, 20:24

Hallo Max,
Die erklärenden Passagen sind die Gednaken des Mannes.


nur noch eine kleine Anmerkung, ich finde das perspektivisch schwierig, ich habe es nicht als seine Gedanken gelesen, für mich bleibt es durchgängig in der Außenperspektive. Jemand (der allwissende in ihn hineinblickende Autor/Erzähler) denkt über diesen Mann und seine Situation nach, und schreibt mir in diesen erklärenden Passagen seine eigenen Gedanken vor.
(Und ich denke doch selbst auch ganz gerne über deine Geschichten nach. :-) )
Als Gedanken des Mannes könnte ich diesen Absatz besser in seiner ihm eigenen Logik ;-) annehmen. Ich würde ihn dann jedoch in die „Ich-Perspektive“ setzen, um das auch sichtbar zu machen. Das würde dann so aussehen:

Woran werde ich merken, dass ich sterbe? Werde ich es überhaupt merken oder wird nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass ich lebe, merke ich nicht. Ich atme ein und atme aus. Ich fühle. Ich denke. Ja. Aber ich habe geatmet, gefühlt und gedacht, solange ich mich erinnern kann. Wäre ich tot, würde ich es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst dass ich älter werde, ist für mich eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann es an den Falten ablesen, die sich um meine Augen gebildet haben, oder meinem grau gewordenen Haar. Aber ich fühle mich nicht anders als ich mich vor zwanzig Jahren gefühlt habe. Denkt er.

liebe Grüße
Flora

Max

Beitragvon Max » 03.08.2009, 12:22

Liebe Flora,

ich verstehe, was Du meinst. Ich habe allerdingsganz bewusste versucht, das Kommentierende sehr sparsam einzusetzen (eigentlich nur einmal), weil es für mich ein Zeichen der mit der Stille einherkomenden Vereinsamung ist, dass Innen- und Außenperspektive verschmelzen. Gerade daher kann ich mich mit einer Ich- oder einer Er-Perspektive anfreunden, aber gar nicht mit beiden.

Liebe Grüße
Max


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