vom verlorenen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 09.03.2009, 14:20

 

vom verlorenen


sich etwas vorwerfen
es könnte eine schublade sein
oder gleich das ganze haus am meer
man wurde unvorsichtig
vergaß sie zu schließen
verließ sich

einer griff in sie hinein
nicht nur
im vorübergehen
nahm er sich etwas heraus
ihr gegenüber
versprach sich
etwas davon fiel
auf den fußboden
sie betrachtete alles
ungläubig
umging es
fragte nur
ob einzelgänger jemals einsam sind
aber das v öffnete seinen schnabel nicht
vielleicht aus angst auseinanderzufallen
weil es keinen körper gab
der es zusammenhielt

kehren wir es unter den teppich
zu den übrigen flausen

__________________________________
jetzt ist er entweiht
denkst du dir
augen verändern ihren ausdruck
auf einer fotografie
gütiger!

dann zimmert man sich halt ein dach
mit einem glockenstuhl
klopft sich dabei auf die finger
zehn gründe und für jeden ein gebot
zum weinen
zum niederschreiben
zum niederknien

sie flucht
verzeihung
zum fenster hinaus
draußen lässt sie den winter regnen
er steht ohne schirm
im schwarzen sonntagsanzug
auf dem friedhof
während er wartet
und denkt und atmet
so verzweifelt schön aussieht
(das hat sie ihm angedichtet
das ist ihre art)

in wirklichkeit
bleibt er bis auf die knochen trocken
weil er die gräber für gärten hält
es reicht ihr nicht mehr
für schnee

in der küche trinkt sie derweil
die hundertste tasse tee
mit zitrone

und es dauert sie
das wetter
die schublade
das verlorene


 

ecb

Beitragvon ecb » 09.03.2009, 18:21

liebe smile,
der erzählton gefällt mir sehr, zusammen mit den sinnbildern und den andeutungen umgangssprachlicher wendungen, die in etwas anderes übergehen und weitere lesarten ermöglichen, aufmerksamkeit hervorrufen, sowie auch einer gewissen ambivalenz der aussage rechnung tragen.

das habe ich sehr gern gelesen!
lg eva

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.03.2009, 22:46

Hallo smile,

ein wunderbares Gedicht hast du geschrieben. Es enthält viel Wehmut, die auf mich, als Leser, übergreift. Es berührt. Gelungen ist für mich vor allem die Komposition, wie du die Emotionen des LIs ineinander fließen lässt. Mal nüchtern, mal verzweifelt, mal wütend, mal resignierend und wie du den Kreis am Ende zum Anfang schließt.
Sehr gerne gelesen und mich darin versenken lassen! Das würde ich sehr gerne von dir in der Hörbar vertont hören.

Saludos
Mucki

jondoy
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Beitragvon jondoy » 10.03.2009, 07:47

Hallo smile,

aus reisetechnishen Gründen bin ich diese Woche nur diesen einen Moment gestohlenermaßen blitzeschnell online,

zu dem Text will ich was sagen, weil das in dieser echten Forum nach dem ersten Moment geht,

wirklich schöne Bilder und eine berührende Stimmung, eine leise ausgesprochene Musik,
viele Feinheiten in den Tönen, und rund, ich mag diesen Grundton.

Eine gute Woche allen hier,
Stefan

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.03.2009, 19:53

Hallo ihr Drei,

ich freue mich sehr über eure Leseeindrücke! :blumen:

@Mucki:
Das würde ich sehr gerne von dir in der Hörbar vertont hören.

:icon_redface: Ich weiß nicht, ich habe lange nichts mehr aufgenommen, irgendwie kann ich mich an meine (Lese)stimme nicht gewöhnen.

(o.T.: Falls du hier liest Klara, dich würde ich so gerne mal wieder hören mit einem neuen Lied oder einer Lesung!)

@Stefan: Schön, dass du hier in deinem gestohlenen Moment vorbeigeschaut hast. („Danke“ soll ich ja nicht sagen. ;-) )

liebe Grüße
smile

jondoy
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Beitragvon jondoy » 15.03.2009, 23:13

Hallo smile,

trotz einer gewissen Ausgebranntheit in mir nach anstrengenden Tagen (Wochen, Monaten, Jahren?) möchte ich jetzt nach meiner Rückkehr in Ruhe ein paar eingehende Zeilen über diesen Text schreiben,

als erstes etwas über deine Sprache, wenn ich diesen Text lese, denk ich vor allem über deine Sprache nach, etwas auszudrücken, ich weiss nicht, ob ich schon von einem gewissen Stil sprechen sollte, es gelingt mir selten, einen Text richtig zu lesen, irgendwie ihn auf mich wirken zu lassen, weil doch alles Leben so hektisch ist, und wer findet da noch die Zeit, ich mein das wortwörtlich, Zeit finden, nicht in Form von Suchen sondern von finden, wobei mir das jetzt Gelegenheit gibt, den Weg zum Text zurückzufinden, schließlich reden wir ....vom verlorenen,

deine Sprache, hier nach meinem Empfinden nach exemplarisch ausgeprägt, ist sehr geheimnisvoll, jedenfalls für mich, weil ich oft nicht weiss, was sich hinter diesen Worten verbirgt,

der erste Teil liest sich für mich jedenfalls sehr spannende, ja, er gefällt mir, er spricht von allem und von nichts, also irgendwie vom verlorenen, was immer das gewesen sein mag,

kehren wir es unter den teppich
zu den übrigen flausen
, wenigstens dass versteh ich genau vom ersten Teil,

was an dem Text für mich so seltsam ist, oft stört es mich, wenn ich einen Text nicht verstehe, eigentlich fast immer, ich möchte im allgemeinen wissen, wofür die Bilder stehen, die der/diejenige dafür gefunden hat, was sich hinter seinem Text verbirgt, und wenn ich mir keine Antworten erschließen kann, lässst mich der Text meistens unbefriedigt zurück, hier bei dem ist es anders, da macht es mir gar nichts aus, dass ich ihn nicht verstehe, jedenfalls mir nicht vorstellen kann, wovon dieser Text spricht, und der Grund, warum mich das bei diesem Text nicht stört, wohl ist, dass er mir in weiten Stücken wie Musik vorkommt, die Bilder sind teilweise so poetisch und `intelligent`, dass es für mich einfach Genuss ist, das zu lesen, ich hab eine russische Seele (bild ich mir ein * lach*, wo ich doch keine Ahnung habe, wie ein Russe `fühlt` und außerdem unterschlag ich damit die ungeheure Vielfalt der russischen Gemüter),

im zweite Teil wird die Sprache `handfester`, da wird das Empfinden des lyrischen Ichs meinem Gefühl nach konkreter (`realer` hmm), agressiver, revolutionärer, also für mich handfester, doch je mehr sie flucht, werden die Sprachbilder umso poetischer, dass ich als Leser hin- und hergerissen bin zwischen diesem „agressiven Temperament“ und der zunehmenden, während des weiteren Lesens nicht mehr zu ignorierenden Poesie, das ist schon eine Art von Sprache, zu der ich einen Hang habe, irgendwie steigen in mir eh zu diesem Zeitpunkt schon unbewusst Bilder von einer Explosion am Ende in den Kopf, obgleich ich das `reale` Ende des Textes, die erzählte Form ja noch gar nicht kenne, das heisst übersetzt, meine Gedanken gehen eigene Wege, ganz typisch bei mir, mir fällt es oft schwer, beim Text (vielleicht genauer) bei der Aussage des Textes) zu bleiben, meine Phantasie kann ich nicht im Zaum halten,
wenn ich dann das reale Ende des Textes lese, würde ich fast sagen, die Handbremse ist noch zu sehr angezogen, das ist immer schwierig, auf dem Boden des Fallens zu bleiben, und sich nicht im Realen zu verheddern, am Ende wird es meiner Phantasie nach ein Stück zu vernünftig, ich hätte geschrieben, in der küche trinkt sie derweil die hundertste tasse tee mit würmern, ich weiss nicht, warum mir zitrone an der Stelle zu brav wirkt, ich kann das aber leicht dahersagen, weil ich ja nicht die Intension kenne, nicht wirklich einen Schimmer davon habe, aus welcher Lage heraus das Lyrische Ich das, was es da schreibt, reflektiert,
auf mich wirkt es wie ein ziemlich beobachtender Zustand, wie sie ja selbst sagt,
etwas davon fiel auf
den fußboden,
sie betrachtete alles
ungläubig
.

ja, diese Zeilen setz ich mal völlig unreflektiert so rein. so als `spontan-nachbetrachtung`.

Gruß,
Stefan


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