Erfahrung V

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 18.02.2009, 20:21

Erfahrung V


Ich gehe jeden Weg
dreimal entlang
viermal entlang

Eine Elle Weisheit
zwei Ellen Glück

Drei Dinge gibt es
die mich brechen
und vier
die meine Heilung sind

Glaube
Liebe
Hoffnung
Der Ruf aus dem Stundenglas

Gehe jeden Weg
dreimal entlang
viermal entlang

Zwei Ellen Weisheit
und eine Elle Glück

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 18.02.2009, 22:38

Lieber Sam,

das lese ich gerade und denke gleich an Nikos Eintrag unter den Zitaten. Ist es davon inspiriert?
Ich merke, dass ich sofort in den Worten war, sie mitgegangen bin, mitgefühlt habe. Der Weg ist nicht nur beschrieben, sondern nimmt einen mit, mich jedenfalls.
"brechen" und "heilen", das "Heilen" überwiegt das "Brechen" um einen Aspekt. Wie hoffnungsvoll und optimistisch.
Die Kombination der drei "Begriffe" mit dem Stundenglas finde ich stark, es deutet für mich auf die Begrenzung, der wir unterliegen.
Stark auch die Umkehrung am Schluss: Ein Lebenslernprozess, scheint mir, einer der erfordert, dass man sich wiederholt, um am Ende anzukommen: in Weisheit und Glück.

Gefällt mir sehr.

Liebe Grüße
leonie

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2009, 10:02

Hallo Leonie,

das mit Nikos Eintrag ist ein witziger Zufall. Ich hatte ihn nicht gelesen. Aber ja, ich beziehe mich in dem Gedicht auf dieses Bibelzitat. Aber auch noch anderes in dem Text greift auf dieses Buch zurück.
Es freut mich sehr, dass dir das Gedicht gefällt.

Interessant ist für mich, dass du es hoffnungsvoll und optimistisch liest. Wenn ich versuche es als "Leser" zu betrachten (was natürlich nie so ganz funktioniert), klingt es, neben einem gewissen Pathos, eher ein wenig resigniert. Oder verzweifelt, ob der Diskrepanz des Wegmaßes, welches das Stundenglas vorgibt und das Lyrich in Wahrheit anlegt.
Aber diese Widersprüchlichkeit ist ja gewollt, sowie die unterschiedlichen Lesarten - ohne, dass es willkürlich wird.

Hab herzlichen Dank!

Liebe Grüße

Sam

Max

Beitragvon Max » 19.02.2009, 11:54

Lieber Sam,

das gedicht hinterlässt einen guten Eindruck bei mir, einen beruhigenden auch. Als würde es resümmieren, dass bei allen irrwegen auch ein weg bleibt.
Die Zahlensymbolik ist mir (als altem Mathematiker) noch nicht ganz klar. Der weg wird dreimal viermal gegangen, dann folgt eine Aufzählung bis vier .. oh, jetzt verstehe ich es .. ich nehm's zurück :-).


Die wackeligste Stelle (vielleict erklärt sie sich mir ja auch beim schreiben :-) ) für mich ist das Pauluszitat in der Mitte, vielleicht weil ich es gleich als solches erkenne und ich das vierte dieser Dinge nicht gleich erkenne (außerdem ist - warum auch immer - drei bei einer Aufzählung ,magischer als vier).

Hab ich sehr gerne gelesen
Liebe Grüße
Max

Nicole

Beitragvon Nicole » 19.02.2009, 12:24

Liebster Sam,

ich mag diese fünfte Erfahrung. Die Wiederholung des Wegs, dreimal - viermal. Und die schlußendliche Erkenntnis, das es zwei Ellen Weisheit braucht und eine Elle Glück.
Es klingt reif, ich erahne zwar, wo Du die Resignation siehst, finde das Gedicht insgesamt aber doch sehr versöhnlich.
Du hast da wundervoll wohlklingende Zeilen geschaffen, es liest sich für mich flüssig, perlend, es schwingt...

Nicole

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2009, 12:40

Hallo Max,

herzlichen Dank für deinen Kommentar!

Was die Aufzählung drei...vier betrifft, so ist es eine Anlehnung an die Worte Agurs, zur lesen im 30. Kapitel des Buches der Sprüche. Dort findet man des öfteren diese Art der Aufzählung. Z.B.:
"Drei Dinge sind es, die nicht satt werden und vier, die nicht gesagt haben:Genug!"
Allerdings sind diese Aufzählung steigernd, nicht widersprüchlich, wie in meinem Gedicht. Sinn jener Sprüche ist es Weisheit zu erlangen. Dies stellt sich als kontinuierlicher Weg dar.
Paulus nimmt diesen Gedanken wieder auf, in jenem Zitat, das Niko eingestellt hat. Der Weg vom Kind zum Mann. An dessen Ende stehen Glaube Liebe Hoffnung.
Der Ruf auf dem Stundenglas stellt einen gewollten Bruch da. Die Realtivierung des Spirituellen, Religiösen, Emotionalen und auch Theoretischen durch die Tatsache, dass unsere Zeit begrenzt ist.

Soweit mein gedanklicher Rahmen, den ich bezüglich der Zahlen und auch dem Pauluszitat im Sinn hatte.

Liebe Grüße

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2009, 12:53

Liebste Nicole,

versöhnlich ist es ja irgendwie auch. Und wenn man am eigenen Leib (und Seele) erfährt, dass jenes Zitat von Niko...die größte aber von diesen ist die Liebe... wirklich wahr ist, dann kann man auch mit jenem Riss leben, jener Widersprüchlichkeit, die leicht zur Resignation führen kann - aber eben nicht unbedingt muss.

Ich danke dir von ganzem Herzen!

Sam

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.02.2009, 17:47

Hallo Sam!

Für mich steht hier eine Erfahrung des Lebens im Mittelpunkt: Man hat die Möglichkeit im Laufe der Jahrzehnte seine Wege öfters zu durchlaufen, bzw. zu betrachten, und so in seiner Zeitspanne zu reifen. Das ist uns gegeben und steht als eine Chance im Raum.

Was mich wundert ist, daß das Lernen aus Erfahrung von anderen Menschen hier keine Rolle spielt.

Dem Pauluszitat stehe ich zwangsläufig kritisch gegenüber, denn aus meiner Perspektive ist es nicht emanzipatorisch, ein Eckstein der christlichen Kirchen, die uns Menschen als Schäfchen sehen wollen. Liegt darin die Heilung, dem ein Brechen zuvor gehen muß?

Unter Zitate stelle ich etwas mit einer anderen Perspektive ein.

MlG

Moshe

Niko

Beitragvon Niko » 19.02.2009, 19:17

hi sam!
du solltest mehr lyrik schreiben. hab ich, glaub ich, schon mal geschrieben! auch wenn ich hier am ende ein klitzekleines tuckelchen erhobenen weisheitsfinger sehe, so gefällt mir das genze sehr! du könntest den erhobenen zeigefinger absägen, indem du einfach das wort "gehe" entfallen ließest, respektive ein "gehen an selbiger strophe anhingest. (sorry....hab heute mein schwall-deutsch ausgepackt).
guckst du hier:

Erfahrung V


Ich gehe jeden Weg
dreimal entlang
viermal entlang

Eine Elle Weisheit
zwei Ellen Glück

Drei Dinge gibt es
die mich brechen
und vier
die meine Heilung sind

Glaube
Liebe
Hoffnung
Der Ruf aus dem Stundenglas

jeden Weg
dreimal entlang
viermal entlang
gehen

Zwei Ellen Weisheit
und eine Elle Glück

das ende empfinde ich als etwas abrupt. aber ich weiß noch nicht, ob mich das letztendlich stört. aber der zeigefinger dann doch. ja.
mehr davon! das ist wirklich gutes zeugs, mein lieber!

herzlichste grüße: Niko

Max

Beitragvon Max » 19.02.2009, 19:43

Lieber Sam,

danke für Deine Erläuterung - das hilft mir sehr, um den Text noch besser zu verstehen. Einer meiner Lieblingstexte von Dir!

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 23.02.2009, 16:37

Hallo Ihr Lieben,

Danke für eure Kommentare! Ich gehe mal so nacheinander ein bisschen auf eure Bemerkungen ein.

@moshe

Was mich wundert ist, daß das Lernen aus Erfahrung von anderen Menschen hier keine Rolle spielt.


Das liegt wohl daran, dass diese kurzen Zeilen immer nur gewisse Apekte eines Themas beleuchten. Außerdem sind Glaube, Liebe , Hoffnung und auch der Ruf aus dem Stundeglas eher summarische Begriffe, die vieles beinhalten können - auch das Lernen aus den Erfahrungen anderer.

Dem Pauluszitat stehe ich zwangsläufig kritisch gegenüber, denn aus meiner Perspektive ist es nicht emanzipatorisch, ein Eckstein der christlichen Kirchen, die uns Menschen als Schäfchen sehen wollen. Liegt darin die Heilung, dem ein Brechen zuvor gehen muß?


Zunächst muss man verstehen, dass in dem Gedicht nicht festgelegt ist, welche Dinge nun brechen und welche heilen. Auch mache ich einen großen Unterschied zwischen der Bibel und dem, was die chsristlichen Kirchen daraus machen. Die Bibel ist für mich, was meine Arbeit als Schriftsteller angeht, ein Buch der Weltliteratur und zählt für mich zum kulturellen Kontext, in dem ich aufgewachsen und verwurzelt bin. Mir geht es nicht um Doktrinen sonderm um thematische Verarbeitung. Hinweisschilder zur sogenannten Weisheit gibt es wesentlich mehr, als wirklich Wege dorthin führen. Welche von diesen wirklich gangbar sind, muss jeder für sich entscheiden. Aber das ist ja nicht der eigentliche Gegenstand des Gedichts. Es geht um die inneren Widersprüche.
Weisheit ist die Brücke zwischen Wissen und Tun. Hier geht es um jemanden, der zwar die Baumaterialien für diese Brücke zur Verfügung hat, sie aber nicht wirklich zu bauen weiß.


Unter Zitate stelle ich etwas mit einer anderen Perspektive ein.


Habe ich gelesen. Berührungspunkte gibt es da schon, vor allem was das Ende deines Zitates angeht - der Schiedsspruch sozusagen. Und da gefällt mir sehr der Unterschied zwischen "untersuche" sein Tun, das ja eher rückwärtsgewandt ist, und jenem "erwäge" sein Tun, welches ein dem Handeln vorangehendes Nachsinnen impliziert. In dieser Unterscheidung lebt auch mein Gedicht. Der Anfang ist eher ein Untersuchen (welches Maß lege ich an? Zwei Eine Elle Weisheit - zwei Ellen Glück). Der Ruf aus dem Stundenglas fordert aber zum Erwägen auf: Zwei Ellen Weisheit - eine Elle Glück.

Hab herzlichen Dank für deinen Kommentar!


@niko


du solltest mehr lyrik schreiben


Ach, so wenig Lyrik schreibe ich gar nicht. Nur, dass das Meiste in die Tonne wandert ;-)

auch wenn ich hier am ende ein klitzekleines tuckelchen erhobenen weisheitsfinger sehe... du könntest den erhobenen zeigefinger absägen, indem du einfach das wort "gehe" entfallen ließest, respektive ein "gehen an selbiger strophe anhingest.


Ja, das mit dem erhobenen Zeigefinger war mir schon bewusst, bzw. ich erahnte die Gefahr, dass man es so sehen könnte. Nun ist es aber ja der Ruf aus dem Stundenglas, der das LyrI ermahnt: Gehe jeden Weg....zwei Ellen Weisheit etc.
Es selbst sagt von sich aber, dass es ein anderes Maß nimmt: Eine Elle Weisheit. Diese Kluft zwischen Wissen und Tun (siehe Kommentar zu Moshe) ist ja u.A. Thema des Gedichts. Der erhobene Zeigefinger wird zwar gezeigt, aber nicht dem Leser gegenüber, sondern dem LyrI. Von daher dachte ich eigentlich, diese Klippe umschifft zu haben.

Vielen Dank für deine Meinung und auch hierfür:
das ist wirklich gutes zeugs, mein lieber!



@Max

Danke auch dir, dass du das Gedicht bis hierhin begleitet hast! Freut mich, wenn meine Erklärungen dir weitergeholfen haben, und der Text zum "Liebling" geworden ist.



Euch allen liebe Grüße

Sam

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 27.02.2009, 17:54

Lieber Sam!

Den Zusammenhang zwischen deinem Text und meinem Zitat sehe ich jetzt sehr gut. Und dieser ist für mich das 'Geheimnis' deines Textes, bzw. macht die Anziehung aus.

Etwas irritiert mich an deiner Antwort:

"Auch mache ich einen großen Unterschied zwischen der Bibel und was die christlichen Kirchen daraus machen."

Haben die christlichen Kirchen nicht die Bibel/n gemacht?
Wer sonst?

Sodann noch eine Frage:
Wann kommt Erfahrung I? Planst du hier einen Zyklus?

MlG

Moshe

Nicole

Beitragvon Nicole » 27.02.2009, 18:01

Hi Moshe,

ich denke, es ist bereits ein "Zyklus"... zumindest gibt es im Salon inzwischen Erfahrung - Erfahrung V.
Start:
http://www.blauersalon.net/online-literaturforum/viewtopic.php?t=6198

Gruß, Nicole

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 27.02.2009, 18:18

Danke Nicole!

Das habe ich glatt übersehen, da ich immer nach der 'I' Ausschau hielt.

MlG

Moshe


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 3 Gäste