Erfahrung IV

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 07.02.2009, 11:36

Erfahrung IV


Die Puppe stirbt
es weint das Kind
weil Puppen doch
unsterblich sind

Max

Beitragvon Max » 07.02.2009, 16:56

Lieber Sam,

das Gedicht hinterlässt bei mir den bleibenden Eindruck eines Paradoxons. Man möchte die Stelle finden, an der man beschwindelt wird und findet doch keine.
Gefällt mir!

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.02.2009, 20:25

Hi Sam,

sehr schön. Jetzt kommen die wirklichen Life-Erfahrungen zum Tragen. *schmunzel*
Dein Vierzeiler liest sich wunderbar und ist so wahr, für das Kind und ebenso für den Erwachsenen, der es miterlebt.

Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 09.02.2009, 18:02

Hallo Max,

herzlichen Dank! Ja, ein Paradoxon ist es, wenn man das "doch" als entgegengesetztes Adverb liest. Man kann es aber auch als sogenannten "Abtönungspartikel" lesen. Wieso stirbt die Puppe - Puppen sind doch unsterblich.
Beide Lesarten sind möglich, zeigen zwei verschiedene Wege, ohne aber aus dem Rahmen zu führen, in dem ich hoffe, dass der Leser für sich das Gedicht versteht.

Hallo Mucki,

wirkliche Life-Erfahrung - ja, wenn es auch weniger die aktuellen sind. Als Kind muss sich ja immer wieder mal von Dingen verabschieden, die man für "unsterblich" hielt. Und das Kind, das in jedem Erwachsenen mehr oder weniger verborgen weiterlebt, macht diese Erfahrung weiterhin. Zumindest, solange man mit "Puppen" spielt, die man für "unsterblich" hält.

Auch dir vielen Dank!

Liebe Grüße

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.02.2009, 22:27

Lieber Sam,

ich finde diesen kurzen Text auch gelungen - Max hat den faszinierenden Paradoxoncharakter schon beschrieben, genau das gefällt mir auch ausgezeichnet (und man kann auch dein "noch" mitlesen dabei)! Was auch der Grund dafür ist, dass mein allererstes Gefühl ("Gelungener Text, aber warum muss er sich reimen?") sich zu großen Teilen revidiert, weil die Form ja der inhaltlichen unterstützend verläuft.
Weiterhin gefällt mir in diesem Zusammenhang das Aufgreifen des klassischen Paares Puppe-Mensch, bei dem kurzen Text sprechen viele andere Texte mit und unterstützen so den Inhalt.

Kennst du das Kinderalbum von Tschaikowsky? da gibt es auch eine Dreierkreis, ganz ähnlich:

[...] die neue Puppe - die kranke Puppe - das Begräbnis der Puppe - die neue Puppe [...]

(bei youtube kann man kurz hineinhören, aber nicht so gut umgesetzt..)

Das ist natürlich eine Varianz und nicht dasselbe, aber ich musste sofort daran denken..

Ich finde anthropologische Gedanken stehen Kurzlyrik immer gut .-)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 10.02.2009, 12:40

Hallo Lisa,

vielen Dank für deinen Kommentar! Und auch den Hinweis auf Tschaikowsky. Das Kinderalbum kannte ich bisher nicht. Habe schon mal ein wenig gegoogelt und getubet. Allerdings noch nicht genug...


Ich finde anthropologische Gedanken stehen Kurzlyrik immer gut


Stimmt. Überhaupt stehen Gedanken der Lyrik immer gut... ;-)


Liebe Grüße

Sam

Max

Beitragvon Max » 10.02.2009, 13:16

Lieber Sam,

Man kann es aber auch als sogenannten "Abtönungspartikel" lesen.



stimmt - das ist ein schöner Gedanke, auf den ich beim Lesen gar nicht gekommen bin.

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 11.02.2009, 10:23

Hallo Max,

ich denke, es kommt darauf an, wie man das "doch" liest, betont oder eben unbetont. Das sowas dann "Abtönungspartikel" heißt, wusste ich auch nicht. Das hat mir unser neuer Wahrig erklärt... ;-)

Dank dir nochmal!

Liebe Grüße

Sam

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Beitragvon leonie » 11.02.2009, 11:42

Ich kenne nur Abtönfarbe oer Tönungshaarwäsche :-), wieder was gelernt an diesem kleinen, feinen Text...

Danke sehr, Sam und Max!

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 11.02.2009, 19:21

Bitte, liebe Leonie, gerne geschehen :-)

Freut mich, dass das Textlein dir gefällt!

Liebe Grüße

Sam

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Beitragvon Lisa » 14.02.2009, 19:18

Dies ist wohl ein Abtönungskommentar...

Ich glaube, mir hat mal ein Linguistikprofessor in einem Grundkursseminar erzählt, dass diese Abtönungspartikel lange Zeit als unnötig wenn nicht sogar als Indikator eines schlechtes Sprachstils galten -- bis Untersuchungen in neuerer Zeit gezeigt haben wie wichtig unverzichtbar und vor allem wie unauslöschbar diese kleinen Partikel sind - ich mag sie sehr..in dieser Art Worten und Relativierungen, Zurücknahmen Unschärfen oder gar Widersprüchlichkeiten liegt für mich die eigentliche Möglichkeit sich untereinander zu verstehen - weil man sich nämlich nicht verstehen kann, das Zugeben davon aber dann wieder doch die Magie erzeugt, dass man sich doch erheben kann..!

liebe Grüße,
Lisa
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Sam

Beitragvon Sam » 18.02.2009, 12:48

Hallo Lisa,

ich stimme dir zu. Diese Partikel sind in der Alltagssprache unverzichtbar und, eben weil sie so schöne Nuancen setzen können, auch in der Literatur. Wie bei Allem, kommt es wohl auf das Maß an.
Gestern las ich jedenfalls einen Essay von Thomas Mann, und mal drauf achtend, habe ich schon in den ersten drei Absätzen mindestens ein halbes Dutzend jener Abtönungen gefunden.

Also: Es lebe der Abtönungspartikel! :-)

Liebe Grüße und herzlichen Dank

Sam


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