Psalmen an den Bruder

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 12.02.2009, 13:29

Psalmen an den Bruder



1.Psalm: Zu dieser Zeit

Und wenn ich die Luft anhalte bis du Stopp rufst.
Ich bleibe trotzdem der kleine Bruder.
Mutters Entscheidung gilt nur einen Abend
und ich betrüge.
Ich drücke den linken Nasenflügel nicht ganz zu.
Das siehst du nicht.

Es liegt in meiner Natur zu atmen.
In deiner liegt es, lieber mit den Großen zu spielen.
Du redest, wie alle Leute, nur vom schmelzenden Schnee.
Aber jetzt gilt das Gesetz des Schwächeren:

Es ist wahr. Der Schnee verschwindet.
Er taut und sickert in den Boden.
Bald steigt er wieder empor.
Dann regnet es.
Das weiß ich.




2.Psalm: Das Schloss

Wir haben ein Schloss gebaut.
Damit du mit deinen Freunden darin spielen kannst.
An deinem Geburtstag.

Wir haben kein Schloss gebaut.
Wir haben bloß Äste von den Bäumen gerissen.
Hinter dem Beet steht ein Zaun,
dem haben wir die Äste durch die Maschen gezogen.
Das sollte eine Mauer sein.

Direkt nach seiner langen Schicht
-er war so wütend auf dich-
hat Vater alles beseitigt.
Das ist nicht schlimm.

Es war doch nur so lange ein Schloss, wie wir daran bauten.
Deine Freunde hätten es vielleicht nicht erkannt
und ich hätte vielleicht nie darin gespielt.




3.Psalm: Vom Stoffhasen

Ich habe gehört, dass man lügen darf,
wenn man eine Geschichte erzählt.
Das stimmt nicht.

Großmutter hat dir den besseren Hasen geschenkt.
Ich habe ihm die Ohren abgeschnitten.
Ich habe ihm Milch vor die Türe gestellt,
aufgrund des schlechten Gewissens.

Die Geschichte von einem Hasen ohne Ohren,
nicht von einem Stoffhasen, der Milch trinkt.
Das kann ich jetzt verstehen.

Max

Beitragvon Max » 13.02.2009, 22:20

Lieber Last,

diese Geschichten aus der Kindheit sind für mich sehr anrührend.
Da ich ein älterer sogar ein ältester Bruder bin, kenne ich die Perspektive des jüngeren Bruders nur nachträglich aus den Erzählungen meines Bruders. Dein Gedichte sind so intensiv, dass sie für mich auch in meinen Ohren so echt klingen, dass sie in meinen eigenen Erlebnisschatz passen würden.

Zwei kleine Anmerkungen:

Im 2. Psalm gefiele mir in der vierten Strophe statt

Es war doch nur so lange ein Schloss, wie wir daran bauten.


Es war doch nur ein Schloss, so lange wir daran bauten.


besser.

Im dritten Psalm finde ich hier

Ich habe ihm Milch vor die Türe gestellt,
aufgrund des schlechten Gewissens.


die zweite Zeile ziemlich gestelzt (das 'aufgrund' ist vermutlich der Auslöser).

Vielleicht ginge vom Takt her

Ich habe ihm die Ohren abgeschnitten.
Ich habe ihm Milch vor die Türe gestellt,
ich hatte ein schlechten Gewissen.


Ansonsten: sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Max

Last

Beitragvon Last » 14.02.2009, 05:06

Hallo Max,

danke erstmal für deine Rückmeldung, die ich sehr gut finde und wahrscheinlich in beiden Fällen übernehmen werde.
Fernab davon erlaube ich mir eine etwas private Frage, auf die du nicht unbedingt antworten brauchst (ich bin gerade eh so betrunken, dass ich morgen eh nicht mehr weiß, worauf ich eigentlich hinaus wollte): Was hat(ben) denn dein(e) kleiner(en) Bru(ü)der da so erzählt?

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 14.02.2009, 16:12

Lieber Last!

Mir gefallen deine Psalmen auch sehr gut wegen der Direktheit.
Auch ich bin ein ältester Bruder, kann mich an einige Episoden erinnern, in den es zu Konflikten kam, jedoch gab es einen Bruch der Generation zwischen mir und ihnen., so daß es nicht allzuviel Kontakt gab.

Insgesamt freut es mich von dir mal wieder was zu lesen.

MlG

Moshe

Max

Beitragvon Max » 14.02.2009, 17:15

Lieber Last,

so lange ich nicht bei der Antwort auich völlig betrunken bin, geht es ja vielleicht ;-).

Wenn ich die Erzählungen meines Bruders zusammenfassen sollte, so finde ich am bemerkenswertesten zwei Punkte. Zum einen, dass er gewissermaßen mein Gedächtnis ist, es gibt viele Situationen, bei denen unserer Erinnerung beinahe komplementär ist. Zum zweiten ist die Perspektive witzig. Mein Bruder ist 4 Jahre jünger als ich - während ich mich also als beispielsweise 8jährigen als kleiner, unfertiger, unwissender Mensch wahrnehme, bin ich in seiner Erinnerung ein beinahe ebenso allmächtiges und allwissendes Wesen wie unser Vater ...


Liebe Grüße
Max

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.02.2009, 19:04

Lieber Last,

darauf habe ich gewartet - ich habe mich schon gefreut, als ich nur sah, dass du alle drei eingestellt hast! (soll es eigentlich bei den dreien bleiben oder sind noch mehr geplant?)

Du nutzt hier wie immer deine besondere Sprachführung - und obwohl sie doch tendentiell klarer zu entschlüsseln ist als andere Texte (z.B. Im Labor etc.), so arbeiten sie doch genau mit der Spannung, die du immer nutzt: Man versteht sehr viel, aber nicht genug, um das Erzählte 1:1 zu lesen und damit schaffst du es gerade, dass man das tiefere, das Verhältnis lesen kann (das fällt mir übirgens auch erst jetzt konkret auf, dass viele deiner Texte sich mit Verhältnissen uns insbesondere dort noch einmal mit den Gefällen der Verhältnisse beschäftigen) und nicht nur die Handlung. Es ist so, als ob du es so möglich machst, in die Subjektive eines anderen hineinzutauchen, als ob man es selbst wäre. Das schaffst du unter anderem auch, indem du immer in Bezug auf diese eingenommene Perspektive dazwischen pendelst sie als großes, ja Grundrecht und zugleich als Unerhörtheit/Anmaßung zu kennzeichnen. So ganz genau kann ich dabei nicht einmal sagen, wie dir das gelingt (die Titel Psalmen an einen bruder aber verweisen schon daraufhin...einerseits ist er toternst gemeint, andererseits spricht er auch sein Anmaßung mit, so lese ich es wenigstens), aber für solche menschlichen Konstellationen und ganz besonders dann noch einmal in Bezug auf dieses Geschwisterverhältnis, also die Welt, wie sie sich Kindern darstellt, ist das einfach sehr geeignet und geht für mich voll auf.

Das, was ich oben geschrieben habe, potenzieren die Texte noch einmal untereinander. Weil sie das alles je einzeln für sich durchlaufen und weil sie zusammen auch noch einmal wie ein Geschwade wirken, wie ein Gottesdienst und zugleich ein Götzendienst. Ein einziger Psalm alleine würde auch nicht so mächtig wirken, gäbe es nicht die Idee der zusammen gesprochenen Psalme an sich, aus der dann wiederum heraus jeder einzelne Psalm ja zugleich wieder die größte Wahrheit/den größten Anspruch für sich behauptet (das ist noch anders, als im Chor, wo es unter den Stimmen ja auch die Idee des Zusammen gibt, auch dort duellieren die Stimmen ja unter anderem, aber bei den Psalmen ist noch irgendeine Mächtigkeit, sodass sie ihre Kräftigkeit im Zusammen für ihre je einzelne Mächtigkeit benutzen (etwas kanibalisitisch...ich bin sicher, dass ist so, weil es christlich ist .-)). Das finde ich magisch, unheimlich, auch dem mehrdeutigem Zustand eines Kindes und besonders eines großen Bruders entsprechend, der ja selbstgerecht und ausgeliefert zugleich ist. Und in diesem Hin- und Her wird (auch eigene, siehe den Hasentext) Gewalt erzeugt.

Zum ersten Text habe ich ja schon etwas geschrieben. Schön finde ich aber, dass das Mutter_Kinder_Verhältnis nun in der Fortsetzung um ein Vater-Kinder- und ein Kind-Kind-verhältnis ergänzt wird, das rundet den Zyklus ab (wäre es denkbar sogar einen Psalm an den Bruder zu schreiben, in dem nur Vater und Mutter auftreten und die Geschwister bzw. ihr Verhältnis nur durch das Erzählte bzw. die Ich-Perspektive im Fokus stehen? Oder wäre das zu autistisch? Zu egozentrisch? Zu anmaßend?). Weiterhin erzeugst dadurch, dass du diesen Text unter den dreien an erste Stelle stellst und den Hasenbtext an den letzten, zuletzt ein positives Ich, das ist fein komponiert, denn ich allen findet ja der Wechsel/die Frage statt: "Wer ist der Böse? Wer ist das Opfer?" etc.), aber jeder einzelne entscheidet sich am Ende leicht varrierend anders. Dass du also den den anderen eher Schuldzusprechenden an den Anfang und den eher reuenden ans Ende gesetzt hast, erzeugt, dass der Leser sich mit dem lyr. Ich identifizieren mag. Das ist wichtig, denn eigentlich will man es nicht, weil es so beklemmend und eng ist und das Ich so allein scheint bzw. vor so vielen Matrokschamauern steht (erst vor der Mauer: Bruder, dann vor der Mauer Vater/Mutter - Bruder, wobei auch der Bruder ja zum einen vor dieser Mauer steht und dann wieder aber selbst auch mauer ist (mit seinen Freunden gegen den Bruder z.B.. Dann aber wieder zieht das lyr. Ich im ersten Text auch wieder eine Mauer vor den Bruder, aus dem Schutz seiner Mutter und der Gegenwart und so fort...so dass es eine Unzahl von Verschachtelungen untereinander gibt, was ein so isoliertes Zusammen ergibt, dass es beklemmender wirkt, als ein einfaches allein- oder einsam sein.

Meine Güte, um so länger ich mich mit den texten beschäftige, desto mehr Verweise und Facetten fallen mir auf - das kann ich gar nicht alles ausführen. Z.B. stellt der zweite Text einfach nebenbei ganz locker und leicht einen Kafkabezug her, wie ich finde, das Schloss ist natürlich auch anders gemeint (eine feierliche, reiche, stätte, die nicht da ist, wenn man die Verhältnisse anschaut und doch da war, sozusagen in Abwesenheit der Verhältnisse (im Bauen), was ich dann als Liebe bezeichnen würde, die der Bruder jederzeit verleugnen, der Vater zerschlagen (übrigens toll, dass du das (letzlich dann ja so gar nicht) neutrale "beseitigen und eben nicht so etwas wie zerschlagen verwendest, obwohl du vorher von Wut sprichst..das ist das Fuchtbare am Elternverhältnis zu ihren Kindern, wie der Staat zu seinen Bürgern...) - aber die Texte haben trotzdem eine kafkaeske Stimmung und sobald das Wort "Schloss" fällt, wird der Bezug sehr konkret. Und ich finde, das gibt es so noch nicht, dass dieser Ton auf das Kindsein bzw. für das Beschreiben dieses Zustandes genutzt wird - doch es trifft es sehr [...]

Am dritten Text finde ich dann noch einmal besonders gelungen, dass er nicht ein weiteres mal das Verhältnis in einer Variation erzählt, sondern dass er auch auf der Metaebene alle drei Texte versucht zu bewerten - denn sich Erinnern ist eben auch immer ein sich Geschichten erzählen. Er bekennt sich zur Lüge. Tatsächlich und in einer paradoxen Wende, dass eben das doch Gültigkeit hat. Toll.. Ich liebe solche textinternen Reflexionen. [...]

Mir geht die Zeit aus...


Das Geheimnis dieser Texte für mich: Du erzeugst Erinnerungen, die man teilen kann, weil man sie eben nicht teilen kann. Weil du vorführst, dass das Erzählte autistisch ist und bleiben muss, merkt man, dass es einem selbst mit den Erinnerungen auch so geht und kann sich auf "höherer" Ebene über etwas austauschen, mit dem man immer allein ist...in diesem Sinne ist das chamälonartig hierarchiesierte Bruderverhältnis hier auch ein bisschen Darstellung aller Verhältnisse aller (liebenden) Menschen zueinander.

Ich bin wirklich beeindruckt! Und höre an dieser Stelle auf, obwohl ich immer weiter Fortschreiben könnte, wie ein Kommentatorbrummkreisel .-).

Ich werde vielleicht dann und wann hier noch einmal vorbeischauen und auf Details der Texte eingehen, das schaffe ich jetzt einfach nicht mehr.

liebe Grüße,
Lisa

Ps: Ich habe jetzt keine Tippfehler beachtet..auch habe ich manchmal nicht sauber und ausführlich genug geschrieben, sodass man nicht immer versteht, was ich meine...entschuldige bitte..frag einfach nach..
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.02.2009, 00:30

Hallo Last,

deine Zeilen berühren etwas in mir. Es ist einerseits dieses trotzige "Aufstampfen" des Ichs. Und andererseits diese Ehrlichkeit. Sie ist entwaffnend.
Gefällt mir ausgezeichnet und lässt mich, als Älteste von drei Schwestern, direkt darüber nachdenken, was wohl meine jüngeren Schwestern von mir dachten, als wir noch nicht auf drei Kontinente verstreut waren, sondern unsere Kindheit lebten. Deine Zeilen hallen sicher noch lange in mir nach.
Sehr gerne gelesen!

Saludos
Mucki

Last

Beitragvon Last » 15.02.2009, 21:49

Hallo zusammen,

danke erstmal euch allen für die netten Kommentare :-)


Lieber Moshe,

es freut mich besonders, dass du das Wort Direktheit benutzt, das ich unter Vorbehalt auch selbst nutzen würde.



Lieber Max,

das ist ja interessant, was 4 Jahre so ausmachen. Ich bin 3 jahre jünger als mein älterer Bruder und habe mich zumindest immer im direkten Vergleich gefühlt.



Liebe Gabriella,

es freut mich sehr, dass dich die Psalmen berühren können (obwohl es auch religiöse Texte sind). Die Sache mit dem Berühren klappt ja bei mir nicht immer so ganz ;-)



Liebe Lisa,

hui, das ist mal ein Kommentar. Den würde ich am liebsten selbst wieder Stück für Stück interpretieren.

5 Psalmen waren ursprünglich geplant und sind auch geschrieben. Bei 4 und 5 bin ich mir aber noch unsicher, ob sie nicht eher für die Schublade geschrieben wurden ;-)

Franz Kafka war ein großartiger Schriftsteller. Jeder Vergleich mit ihm, der etwas besser auffällt als: "du versuchst dich mit fremden Lorbeeren zu schmücken", ist mir eine Ehre. Sicher fließt auch kafkaeskes Denken sehr stark in mein Schreiben ein, aber ein bisschen "wehren" muss ich mich doch.
Ich bilde mir inzwischen ein, dass ich ein deutlich anderes Verhältnis zur Schuldthematik habe. Zumindest gerät der kleine Bruder nicht unvermittelt in einen Zustand hinein, eher bewirkt er seinen Zustand durch die Grundbedingungen seiner Existenz. Weil er selbst die Reflexion über das ist, was er getan und gedacht hat, rückt aber die die Schuld- und Schicksalsfrage, ob er etwas dafür kann oder es so kommen musste, in unklärbare Regionen vor. Dem kleinen Bruder ist nicht einmal klar, ob er sich nicht selbst überschätzt, indem er solche Fragen überhaupt stellt. Denn er ist auch ein Wichtigtuer und weiß das.
Kennst du die Erzählung "Die Panne" von Friedrich Dürrenmatt? (Wenn nicht kann ich die nur wärmstens empfehlen)

LG
Last

Max

Beitragvon Max » 16.02.2009, 21:43

Lieber Last,

wenn Psalm 4 und 5 auch nur annähern mit den ersten dreien vergleichbar sind, so sähe ich (und hätte ich) gern mal Deine Schublade.

Liebe Grüße
Max

Last

Beitragvon Last » 16.02.2009, 22:49

Hallo Max,

ich weiß noch nicht. Ich hatte zu Begin auch starke Vorbehalte gegen die Psalmen 2 und 3. Das liegt wohl daran, dass in diesen Texten viele Dinge zusammen fließen, die mir wichtig sind. Da darf ruhig sehr selbstkritisch an die Sache herangehen. Momentan steht halt noch im Raum, ob ich nicht -wenn ein entscheidender Gedanke kommen sollte- die beiden letzten Psalmen noch einmal ganz anders schreibe.

Ich habe hier ein anderes Verfahren angewandt als sonst. Man könnte es (auf meinem Niveau) professioneller nennen. Ich war sogar extra in der Bibliothek der germanistischen Fakultät um mehr über Psalmen herauszufinden. Leider scheinen diese nicht so sehr berücksichtigt geworden zu sein in der Literaturwissenschaft.
D.h. erstens waren Psalmen bis ins letzte Jahrhundert fast auschließlich Übertragungen der 150 Psalmen des Alten Testaments (als Oden, Prosa, Lieder, gereimt, etc.); zweitens ist (vielleicht auch wegen dieser sehr verschiedenartigen Umsetzung) nicht viel über die Form eines Psalms bekannt; drittens halten sich die selbstständigen Psalmendichtungen des letzten Jahrhunderts stark in Grenzen, z.B. Brecht hat in seiner Jugend etwa 20 bis 30 geschrieben (über Themen wie Sex und Kakao), Celan einen, den er überraschender Weise "Psalm" getauft hat, Trakl -glaube ich- auch nur einen, der ebenfalls "Psalm" heißt.
Verbunden mit dieser eher vernachlässigten Psalmendichtung steht ein weiterer vernachlässigter Aspekt von Literatur: Die rituelle Seite von Literatur. Darüber habe ich ein einziges Buch in der Bibliothek gefunden. Komisch eigentlich, weil doch die modernere Sprach- und Literaturwissenschaft so sehr auch den performativen Sprachgebrauch betrachtet. Mal schauen, ob ich in der Semiotik Ansätze finde, ich wollte mich eh mit Peirce und vor allem mit Eco auseinandersetzen.
Hand in Hand mit dieser Vernachlässigung einer ganzen Seite von Literatur geht wieder eine gesellschaftliche Vernachlässigung der religiös-spirituellen Seite des Menschen, wie es sich aber damit verhält, da trifft dieser Artikel meine Meinung ganz gut: http://www.taz.de/index.php?id=archivse ... 4/12/a0173

LG
Last

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Beitragvon Lisa » 18.02.2009, 20:52

Lieber Last,

du hast mich neugierig gemacht - welche Bücher hast du denn über Psalmen&Literatur gefunden? Ich dachte bisher überhaupt nicht, dass diese "Gattung" in der Literatur besonderen Niederschlag gefunden hat, Celan und Brecht machen mich aber jetzt sehr neugierig. Und, ich weiß nicht, vielleicht führt das zu weit, aber inwiefern hast du denn die Psalmenstruktur übernommen (bin nicht annähernd Bibelfest)? Und: Ist die Ich-Perspektive nicht untypisch dabei?

Zu Kafka: Ich bin nicht sicher, ob das alles nicht der gleiche Kreislauf ist? Es ist nicht so, dass Kafkas Figuren nur "geraten", finde ich, Kafka erzählt das nur scheinbar so und ich finde, die Figuren reflektieren sehr viel, nur eben nicht "gedacht", sondern der Leser muss die Reflexionen denken und denkt dadurch immer nur: warum tut er das jetzt...wieso "gerät" er so..wodurch es erst gedrückt wird, ich finde, dieses nicht an einen sicheren Punkt gelangen und der Zustand ist schon sehr ähnlich, auch wenn dein lyr. Ich vielleicht dynamischer ist, aufbegehrender und niederfallender beschrieben wird. Na ja..da könnte man Stunden drüber senieren .-)

Der dürren Matte Erzählung merke ich mir, ich kenne sie nämlich nicht!

liebe Grüße,
Lisa

(ich wäre auf 4 und 5 sehr sehr gespannt!)
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon leonie » 18.02.2009, 22:32

Lieber Last,

ich wollte Dir einfach kurz sagen, dass mir Deine Psalmen sehr gefallen! Starke Idee, starke Umsetzung!

Liebe Grüße

leonie

Last

Beitragvon Last » 18.02.2009, 23:29

Hallo Lisa,

du hast ja recht. Psalmen sind sehr stark -ich sage jetzt einmal- "übersehen" worden. Ein Buch, das sich vorrangig Psalmen widmet, habe ich gar nicht gefunden. Es gab halt dieses Buch über die rituelle Seite von Literatur, wenn ich morgen in Aachen bin schaffe ich es vielleicht noch einmal nachzusehen, wie es heißt. (Natürlich gibt es Untersuchungen bibelhebräischer Poesie, da werde ich mich noch einmal näher mit befassen)
Generell habe ich nicht bedeutend mehr herausgefunden, als auch in den Lexika steht. Ein typisches Stilelement in Psalmen ist der Parallelismus membrorum, ein syntaktischer Parallelismus (also eine sich wiederholende syntaktische Struktur, statt einer sich wiederholenden Wortfolge). Darüber hinaus ist es häufig so, dass sich in den (biblischen) Psalmen ein inhaltlicher Umbruch bemerkbar macht, z.B. ein Wechsel von Klage zu Lobpreis.
Die Ich-Form ist für einen Psalm nicht untypisch. Brecht benutzt sie genau so wie das biblische Vorbild. z.B. Psalm 22: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?/ Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort, ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe. [...]" (Ich persönlich finde, dass in den Psalmen des Alten Testaments richtig was abgeht, und empfehle jedem Agnostiker sie mit wachem Auge zu lesen.)

- Celans "Psalm" ist dieser hier: http://www.lyrikline.org/index.php?id=1 ... ed096c845a
- Trakls "Psalm" findest du hier: http://www.literaturnische.de/Trakl/ged.htm
- Brechts Psalmen liegen z.B in der "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 11. Gedichte 1" vor. Die sind, wie ich finde, vor allem dann interessant, wenn man, wie ich, ein Fan der Hauspostille ist.
- Die biblischen Psalmen gibt's z.B. hier: http://www.bibel-online.net/buch/19.psalmen/ (Sind aber in einer richtigen Bibel schöner zu lesen)



Hallo Leonie,

es freut mich sehr, dass dir meine Psalmen gefallen haben :-)



LG
Last

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2009, 11:12

Hallo Last,

inhaltlich gefallen mir deinen Psalmen ausnehmend gut. Lisa hat da ja schon einiges auf den Punkt gebracht. Was und wie du erzählst (dichtest, singst) ist kraftvoll, bildhaft und eindringlich. Mich wundert es nicht, dass die Leser sofort an ihre eigenen Geschwisterbeziehungen denken. Im Grunde finde ich hier alles, was ich von einem guten Gedicht (oder auch Text) erwarte. Ich könnte jetzt eine Menge Stellen zitieren, die mein Leserherz höher schlagen lassen. Aber es sind eben nicht nur die einzelnen Passagen, die Gefühl und Intellekt gleichermaßen ansprechen, sondern die gesamte Komposition. Wieder und wieder lesend verliert das Gedicht nicht, sondern gewinnt. Etwas Besseres kann einem Leser nicht passieren.

Einzig mit der Titulierung als Psalmen habe ich so meine Probleme. Es ist sehr aufschlußreich, zu lesen, wie sehr du dich mit dem Thema beschäftigt hast. Und das Ergebnis deiner bisherigen Recherchen, so wie du sie hier dargestellt hast, zeigen ja ein wenig das Problem auf. Bei dem Wort Psalm denkt man nunmal zuallererst an die Psalmen aus der Bibel. Weitergehend an religiöse Gesänge. Die Verwendung des Begriffes Psalm, in der modernen, säkularen Literatur ist so spärlich, dass man richtiggehend danach suchen muss. Drei hast du ja erwähnt. Viel mehr werden es wahrscheinlich nicht sein.
Ich kenne jetzt nur den von Celan und von Trakl (durch deine Links). Aber diese beiden, wie wohl auch Brecht, werden bei ihrer Titelgebung in erster Linie an die biblischen Psalmen gedacht haben.

Die Frage ist, was macht einen Psalm aus? Du erwähnst gewisse Stilelemente, die bei manchen Psalmen verwendet wurden: sich wiederholende syntaktische Struktur. Oder auch die inhaltliche Umkehr vom Klage- in den Lobgesang. Bei einigen Psalmen wurde außerdem jede Strophe mit dem jeweils nächsten Buchstaben des hebräischen Alphabets begonnen.
Macht so ein Kopieren einer "Psalmenstruktur" aus einem Gedicht aber einen Psalm, so wie es zu einem Sonett würde, wäre der Aufbau entsprechend? Ich glaube nicht. Es sind wohl eher syntaktische und inhaltliche als semiotische Merkmale, die einen Psalm ausmachen. Sie sind, bzw. waren Gesänge, Hinwendungen, Huldigungen, Bekenntnisse in bewusst feierlichem Ton gehalten, großenteils mit dem, was wir heute als sehr pathetisch Bezeichnen würden. Und selbst Celan und auch Trakl verzichten in ihren Psalm nicht auf jenes O, das auch in den biblischen Psalmen zu finden ist.
Ebenso bezeichnend für viele Psalmen ist die Auflösung der Subjektivität durch die Hinwendung an etwas Größeres. Diese Unterordnung verhindert jegliche Form von Ironie und bewirkt eine gewisse psychologische Eindimensionalität, weil der Psalmensänger vor jenem Höheren nichts verbergen kann. Es geht nicht um Abrechnung, sondern um Erhöhung und Erlösung - um Hingabe.

Unter diesen Gesichtspunkten fällt es mir schwer, deine Psalmen wirklich als solche einzuordnen. Sie sind zu subtil, das Ich löst sich in dem angesungene Gegenstand nicht wirklich auf, ihnen fehlt es an jeglicher Feierlichkeit. Am Ende sind sie zu vielschichtig, um wirklich in das Bild (mein Bild!) eines Psalms zu passen. Was dem Lesegenuss, wie oben schon erwähnt, allerdings überhaupt keinen Abbruch tut.

Liebe Grüße

Sam


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