Kleine Dinge (ehemals Gedanken)

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 11.01.2009, 17:40

Zweite Version:

Sie fallen mir direkt ins Auge, sofort wenn ich dein Zimmer betrete: All die Details, diese unauffälligen und untrüglichen Hinweise auf ein Leben, obwohl doch alles so unpersönlich scheint. Ich sehe genauer hin.
Die Neugier lenkt meinen Blick auf deinen Schreibtisch. Ich erkenne Formeln und Symbole auf den ordentlich gestapelten Papieren - sie sind mir unverständlich, doch sie beschäftigen mich: Was mögen sie dir erzählen? Was erkennst du in ihnen?
Da sich mir kein Sinn erschließt, hebe ich den Blick wieder. Er bleibt an der Lampe haften, die am Rande des Tisches hängt, als stürze sie bald ab. Doch sie hält und ich lächle. Jedes Mal, wenn ich eintrete, sehe ich zuerst dorthin. Jedes Mal lächle ich.
Links neben der Lampe liegen zwei Anstecker. Die Aufschriften „Das hat mir keiner gesagt!“ und „Daran kann ich mich nicht erinnern!“ scheinen nicht recht zu dem wohl geordneten Geist passen zu wollen, der in diesem Zimmer überall spürbar ist. Auch das Blech bildet einen Kontrast zu der sonst hölzernen Einrichtung. Und doch sind diese Anstecker Teil des Ganzen, ebenso sehr wie das blaue Röhrchen Seifenwasser im Regal, das mit gelben Teddybären bedruckt ist, und der Micky-Maus-Bezug des Bettes. Unter dem Kissen schaut ein Taschentuch hervor, neben dem Kopfende steht ein Stuhl. Darauf liegt ein gelber Ball und lächelt mich an mit seinem Smiley-Gesicht.
Die Philosophiebücher fallen mir erst später auf, zurückhaltend und bescheiden stehen sie dem einzigen Fenster gegenüber. Auf der Fensterbank liegt ein Schild, von dessen Schriftzug ich nur das rot markierte Wort „Grenze“ erkennen kann.
All das erfasst mein Blick. Diese kleinen Dinge, die doch so viel über dich verraten. Wenn man sie zu deuten weiß.
Und ich sehe in ihnen den Raum deiner Gedanken, versuche auch den Zugang zu deinem Inneren einen Spalt zu öffnen, um zu begreifen, was du in dir verbirgst. Aber diese Tür bleibt mir verschlossen. Ich begnüge mich mit der Beobachtung, versuche jede Kleinigkeit in mich aufzunehmen. Doch letzten Endes bleibt mir nur die Sicht durch das Schlüsselloch – diese allerdings mit deiner Erlaubnis.
Und ich blicke hindurch. Der erwartete Glanz eines Genies blendet mich nicht. Stattdessen flimmert er auffallend schwach durch jene kleine Öffnung und entschwindet bei jedem Versuch ihn zu fassen. Was mag sich dort drinnen verbergen?
Aber nein, ich will den Schlüssel zu diesem Ort nicht. Wie gut, dass du ihn mir gar nicht erst anbietest, ich könnte doch nicht ablehnen. Die Ahnung des Großen ist vielleicht wertvoller als das Große selbst: Lichtflecken deiner Vergangenheit enthüllen wie Puzzleteilchen ein Bild der Gegenwart. Die Wirklichkeit könnte mich enttäuschen. Da lobe ich mir meine Phantasie, meine Ideen von versteckten Winkeln und kleinen Geheimnissen, die dein Erscheinen in mir weckt. Die Neugier ist notwendig.
Der Raum deiner Gedanken wird mir verschlossen bleiben. Und ich werde weiterhin am Rande deiner Existenz warten, in der Hoffnung einen weiteren Blick zu erhaschen, noch einen Hinweis, eine Ahnung des Ganzen. Auch in Zukunft, wenn andere sich unerlaubt bemühen durch das Schlüsselloch Einsicht in deine Welt zu erlangen, werde ich dort stehen, an der Tür, dankbar für diese Distanz zwischen uns, denn sie erlaubt mir dir nahe zu sein.



Erste Version:
Sie fallen mir direkt ins Auge, sofort wenn ich dein Zimmer betrete: All diese Details, diese kleinen, unbedeutenden Dinge, die doch so viel über dich verraten. Wenn man sie zu deuten weiß.
Und ich sehe in ihnen den Raum deiner Gedanken, versuche hoffnungsvoll die Tür einen Spalt zu öffnen, um zu sehen was du in dir verbirgst. Doch letzten Endes bleibt mir nur das Schlüsselloch – dieses allerdings mit deiner Erlaubnis.
Der seltsam schwache Schein eines Genies ergießt sich durch diese kleine Öffnung und erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Welche Schätze mögen sich dort drinnen verbergen?
Aber nein, ich will den Schlüssel nicht. Wie gut, dass du ihn mir gar nicht erst anbietest, ich könnte doch nicht ablehnen. Ist die Ahnung des Großen nicht vollkommener als das Große selbst? Ist dein Abstand zu mir nicht wertvoller als die Nähe zu dir, die ich genießen darf? Ich könnte enttäuscht werden. Da lobe ich mir meine Phantasie, meine Idee des Genialen, die dein Erscheinen in mir weckt. Die Neugier ist notwendig.
Der Raum deiner Gedanken wird mir verschlossen bleiben. Und ich werde weiterhin am Rande deiner Existenz warten, in der Hoffnung einen Blick zu erhaschen, nur einen Hinweis, eine Ahnung. Auch in Zukunft, wenn andere sich unerlaubt bemühen durch das Schlüsselloch Einsicht in deine Welt zu erlangen, werde ich dort stehen, an der Tür, dankbar für diese Distanz zwischen uns, denn sie erlaubt mir dir nahe zu sein.
Zuletzt geändert von Lyrillies am 16.01.2009, 16:18, insgesamt 1-mal geändert.

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 18.01.2009, 13:08

Hallo Gabriella,
das finde ich sehr interessant! Mir fiel es nämlich sehr schwer diese Dinge zu beschreiben. Das Problem dabei ist, dass das beschriebene Zimmer auf den ersten Blick insgesamt sehr unpersönlich scheinen soll. Erst wenn man genauer hinsieht bemerkt man in eben diesen alltäglichen, nichtssagenden Dingen gewisse Gegensätze und Unstimmigkeiten die darauf hindeuten, dass dieser Raum zu jemandem gehört, der vieles verbirgt.
Das darzustellen fand ich schwierig. Und wenn ein Zimmer im Insgesamteindruck unpersönlich und kalt wirken soll, dann kann ich da eben keine skurrilen Dinge reinstellen. Ich hatte gehofft das die hier und da angedeuteten Gegensätze ausreichend erklären, warum das alles den Erzähler bei genauerem Hinsehen so sehr fasziniert. Wie gesagt bin ich aber selbst stellenweise unzufrieden.
Na mal sehen was noch daraus wird.

Max

Beitragvon Max » 18.01.2009, 19:19

Liebe Ellyrillies,

ich habe schon mit einigem Interesse die Entwiclklung Deines Textes hier verfolgt.

Ich finde schon, dass Dein Text durch die Details gewinnt und mir gefällt die zweite Version über einige Passagen deutlich besser die erste. (Insofern kann ich dem letzten Kommentar Muckis auch nicht so recht zustimmen - was bedeutet 'das Geheimnisvolle', es geht ja nicht um einen Mysterytext ;-) ).

Du hast oben selbst bemerkt, dass dem Text an einigen Stellen die Distanz fehlt .. mein erster Gedanke war: Ja :-). Wobei ich unter 'Distanz' am ehesten das beschreiben der Dinge, so wie sie sind, verstehe. Die Gedanken der Erzählerin sollten m.E. vor allem in der Beschreibung der Dinge klar werden, nicht durch einen direkten Kommentar, das erhöht die Plastizität des Textes ... denke ich ;-)

Liebe Grüße
Max

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 18.01.2009, 21:00

Hallo Ellie,

ich bin hier schon öfter vorbeigekommen und wusste nicht recht, wie ich kommentieren soll, also mache ich jetzt mal etwas ganz freches, ich hoffe das ist o.k. für dich. .-) Ich reduziere deinen Text auf das, was sie sieht, was im Augenblick ist und nehme das raus, was du für den Leser (und dich selbst) erklärst, bereits aufbereitet hast. Dadurch entstünde für mich ein Gefühl für die Situation, für ein Dasein, tatsächlich ein Raum, in dem ich dem Blick des LIch folgen kann. Ich denke die Dinge, die du gewählt hast, sind stark genug die Gegensätze, das „Geheimnisvolle“, „Widersprüchliche“ dieses Menschen zu zeigen, ohne, dass du alles kommentieren musst. So würdest du dem Leser ermöglichen eigene Schlüsse zu ziehen (natürlich auch mit dem Risiko verbunden, dass er das Falsche denkt :o) ) und sich selbst Fragen zu stellen, anstatt Antworten serviert zu bekommen (die mir stellenweise auch noch nicht ausgereift erscheinen, oder zumindest für mich die Beziehung und LIch in einem seltsamen, eher unangenehmen Licht erscheinen lassen). Es würde sich eine Spannung aufbauen, die das Widersprüchliche dieser Distanz-Nähe-Betrachtung für mich gut widerspiegeln könnte. Schau einfach mal, wie es dir damit geht, ob es (in deinen Worten natürlich) nicht das einfangen könnte, was du zeigen, (zu) deutlich machen möchtest. Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, in die sich ein poetischer Text entwickeln könnte. Wenn dir die theoretischen Gedanken wichtig sind, würde ich sie vom persönlichen Erleben, dem Bildhaften, der Geschichte trennen und versuchen sie weiter auszuformulieren, weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Auf jeden Fall ein spannendes Thema.

Wenn ich dein Zimmer betrete, sehe ich all diese kleinen, unauffälligen Dinge. Auf deinem Schreibtisch gestapelte Papiere, darauf von dir geschriebene Formeln und Symbole. Unbegreiflich für mich. Die Lampe, die am Rand des Tisches hängt, als stürze sie bald ab. Doch sie hält und ich lächle. Jedes Mal.
Da sind die Anstecker mit den Aufschriften „Das hat mir keiner gesagt!“ und „Daran kann ich mich nicht erinnern!“, das blaue Röhrchen Seifenwasser bedruckt mit gelben Teddybären und der Micky-Maus-Bezug des Bettes. Unter dem Kissen schaut ein Taschentuch hervor. Die Philosophiebücher stehen bescheiden im Regal, dem einzigen Fenster gegenüber. Auf der Fensterbank liegt heute ein Schild, von dessen Schriftzug ich nur das rot markierte Wort „Grenze“ erkennen kann.

Und ich nehme ihn wahr, den Raum deiner Gedanken.
Seine Tür bleibt mir verschlossen, mir bleibt nur die Sicht durch das Schlüsselloch - diese allerdings mit deiner Erlaubnis.
Nein, ich will den Schlüssel nicht zu diesem Ort. So bin ich dir nah.


Liebe Grüße
smile

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 21.01.2009, 17:52

Hallo,
nochmals lieben Dank für die ganze Hilfe bei meinem Text!
Leider habe ich wohl erst Samstag wieder Zeit hier hereinzuschauen und zu antworten, wenn ich das nicht schaffe bin ich leider erst ab Februar wieder da...
Ich bemühe mich vorher noch zu antworten.

Bis dahin :)

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 05.02.2009, 18:08

Sooodele,
da bin ich wieder. Ich habe den text jetzt fast zwei Wochen lang völlig ruhen lassen und ihn mir weder angeschaut, noch darüber nachgedacht. Heute las ich ihn erneut und stellte fest, er gefällt mir nicht. Dieser zeitliche Abstand hat mir sehr geholfen und wenn ich den Text jetzt lese finde ich unglaublich viele Stellen, die ausgebessert und umgeschrieben werden müssten.
Eigentlich müsste ich ihn nochmal komplett neu schreiben ;)
Leider habe ich dafür momentan keine Zeit, aber ich behalte das im Kopf.

Also nochmals danke für die Kritiken, ihr habt mir wirklich sehr geholfen!


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste