Judith oder der kleine Schmerz

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 31.05.2006, 00:26

Ich weiß, ich sollte nicht so viel posten, aber dieser kleine Text hier ist eine kleine seelische Vorbereitung auf den Wettstreit mit Louisa! :smile:

Sie stand im Türrahmen ihrer Wohnung, als Paul zum zehnten oder elften Male einen der Umzugskartons die Treppe hinauftrug. Er rief etwas außer Atem aber betont heiter:
„Hallo.“
Sie schaute nur, sagte aber nichts. Ihr Blick war nicht unfreundlich, aber auch nicht einladend. Sie war klein und sehr schlank. Mit einem Arm stützte sie sich am Rahmen ihrer Wohnungstür ab. Ihre Augen lächelten ein wenig, zumindest wirkte es so, denn in den Augenwinkeln hatte sie zarte Krähenfüßchen. Um ihren Mund war ein harter Zug, sie hatte, so schien es, schon einige Male gegen viele Widerstände ihren Willen durchsetzen müssen. Als er die Treppen wieder hinunterlief, war sie in ihrer Wohnung verschwunden.
Einige Tage später fragte er einen seiner neuen Mitbewohner nach ihr.
„Wer ist denn eigentlich das hübsche Mädchen, das unten wohnt?“
„Das ist Judith. Sie gefällt dir wohl, was?“
„Hat sie einen Freund?“
„Bis vor kurzem wohnte der noch bei ihr, aber sie haben sich wohl getrennt. Sie hat aber noch einen Kampfhund.“
„Hat er Schluss gemacht oder sie“, fragte Paul und runzelte die Stirn.
„Ich glaube sie, aber sicher bin ich mir nicht.“
„Oh, dann sollte ich wohl ein wenig vorsichtig sein. Hunde und Besitzer werden sich ja im Laufe der Zeit immer ähnlicher. Außerdem werden siebzig Prozent aller Beziehungen von Frauen beendet.“
„Wo hast du denn den Mist her? Nein, sie ist eigentlich ganz nett. Weißt du was, ich lade sie nächste Woche zu meinem Geburtstag ein. Dann kannst du sie ja mal kennen lernen.“

Judith kam zum Geburtstag und es war Paul, der ihr die Tür öffnete.
„Hallo“, sagte er, „ich bin Paul, dein neuer Nachbar. Ich bin gerade erst eingezogen. Aber du willst sicher zu Martin. Wir sind in der Küche.“
Er ließ sie an sich vorbeilaufen, schloss, als der Duft ihrer Haare ihm in die Nase stieg, für einen kurzen Augenblick die Augen und atmete tief durch.
Sie saß in der Küche mit den anderen Gästen, wollte aber nicht lange bleiben. Sie sei krank, sagte sie, und müsse sich erst einmal erholen. Paul versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber es mochte ihm nicht gelingen. Sein einziger Erfolg war, dass er ihr einen Tee kochen und sogar noch ein wenig Honig hineinträufeln durfte. Sie trank langsam und nachdenklich. Aber wenn sie eine Bemerkung lustig fand, lachte sie auf eine ansteckende Weise. Der harte Zug um ihren Mund war dann verschwunden. Ihr Lachen, dachte Paul, klingt fröhlich und ein wenig verwegen. Mit ihrer rauen Stimme könnte man fast meinen, sie sei ein kleiner Pirat.
Nachdem Judith ihren Tee ausgetrunken hatte, ging sie wieder in ihre Wohnung. Als Paul am Abend in seinem Bett lag, schrieb er den siebenundzwanzigsten Brief an seine Ex-Freundin. Sie hatte ihn mit einem Anderen betrogen und ihn dann verlassen. Weil er es ohne sie in Berlin nicht mehr ausgehalten hatte, war er nach Bochum gezogen, in den Ort, an den er nie hatte zurückkehren wollte. Er träumte nachts von ihr, rief sie manchmal an und sprach auf ihren Anrufbeantworter, ohne je einen Rückruf zu bekommen. Einmal hatte er vor ihrer Wohnung gestanden und auf sie gewartet. Sie war nicht gekommen und nach einer halben Stunde klingelte er an. Ihr Mitbewohner sagte Paul sehr bestimmt, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wolle. Es wäre besser, wenn er gehen würde. Paul ging, doch seine Alpträume blieben. Jetzt legte er jedoch den Brief beiseite und beschloss, ihn nicht abzuschicken. Er dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht möglich sein würde, Judith einmal zu begegnen, wenn sie ihren Hund spazieren führte.
Einige Tage später traf sich Paul mit seiner Freundin aus der Bochumer Studienzeit. Sie hatten sich damals im Streit getrennt, doch zwischendurch immer wieder einmal miteinander gesprochen. Mittlerweile hatte Melanie einen neuen Freund und war mit ihrem Leben zufrieden. Paul saß neben ihr, freute sich darüber, eine vertraute Gesprächspartnerin zu haben und schüttete ihr sein Herz aus. Er erzählte von Mirjam, die ihn verlassen hatte, und Melanie versuchte, ihn ein wenig aufzumuntern.
„Du solltest erst einmal lernen, mit dir selbst zurechtzukommen. Nach unserer Trennung hatte ich fünf Jahre lang keinen festen Freund.“
„Aber dafür jede Menge loser Beziehungen.“
„Ja, aber die waren alle absolute Fehlgriffe“, Melanie zündete sich eine Zigarette an.
Es tat Paul nicht mehr weh, wenn Melanie von ihren Männern erzählte. Er frage sich, ob das bei Mirjam auch jemals so sein würde. Der Gedanke, dass sie gerade in den Armen eines anderen lag, machte ihn krank.
„Vielleicht hat es für dich nicht funktioniert, aber ich glaube, dass eine neue Freundin oder eine flüchtige Affäre für mich jetzt genau das Richtige wäre. Ich habe da auch schon jemanden kennen gelernt…“
„Ach ja“, lachte Melanie, „das geht ja schnell bei Dir.“
„Sie heißt Judith. Sie wohnt in der Wohnung unter mir. Eigentlich weiß ich gar nichts von ihr, außer, dass sie ihren Freund rausgeschmissen hat und dort allein mit einem Kampfhund lebt.“
„Ich finde Kampfhunde furchtbar. Weißt Du noch, wie wir früher immer mit deinem Hund spazieren gegangen sind? Der war wenigstens lustig.“
"Genau. Und wo warst Du, als mein Hund gestorben ist? In Frankreich? Spanien? Brasilien?“
Melanie blinzelte ein wenig betroffen mit ihren langen Wimpern. Als sie sich damals trennten, hatte Paul ihr vorgeworfen, sie hätte so wenig Verantwortungsbewusstsein, dass sie noch nicht einmal einen Goldhamster würden betreuen können.
„Der Hund ist mir egal“, unterbrach Paul das betretene Schweigen, „aber ich würde gerne mal mit den beiden Gassi gehen. Ich glaube, ich werde ein Einstiegsessen in die WG organisieren und sie einladen.“
„Du kannst doch überhaupt nicht kochen.“
„Naja, für eine Fertigpizza wird es gerade noch reichen. Wie hat denn Dein Freund Dich rumgekriegt?“
„Ach, das war schön. Weißt Du, ich wollte damals gar keinen neuen Freund. Wir sind einfach ein paar Mal zusammen ausgegangen. Ich habe mir dabei nichts gedacht. Nach dem dritten oder vierten Abend sagte er mir, dass er sich in mich verliebt habe. Es mache ihm nichts aus, wenn ich anders empfinden würde, aber es sei ihm wichtig, mir das zu sagen. Diese Ehrlichkeit und Offenheit hat mir sehr imponiert. Er war so anders als Du, zum Beispiel.“
„Willst Du damit sagen, dass ich hinterfotzig bin?“
„Komm, Du hast mich oft genug betrogen.“
„Ja, aber nur, weil ich unreif war. Und jetzt habe ich ja meine Quittung dafür bekommen“, Pauls Blick verfinsterte sich, als er an Mirjam dachte, und er steckte sich eine neue Zigarette an.
„Ich kann ihr ja nicht sagen, dass ich mich in sie verliebt habe, ohne auch nur ein einziges Mal ordentlich mit ihr gesprochen zu haben.“
„Du solltest wohl erst mal mit ihr ausgehen und dann schauen, was passiert. Aber pass auf, dass sie sich nicht daran gewöhnt, dass Du nur ein Freund bist, mit dem man ab und zu einen netten Abend verbringt.“
„Ja, ich werde mich bemühen. Aber dieses Tänzeln auf Freiersfüßen habe ich einfach verlernt. Ich frage mich manchmal, womit ich es verdient habe, dass dieser ganze Kram wieder von vorne losgehen muss?“
Paul plante den Abend zwei Wochen im Voraus. Er lud seine Mitbewohner ein, seinen Freund André und dessen Freundin und natürlich Melanie und ihren Freund. Am Abend vor dem geplanten Essen stand er vor Judiths Tür und klingelte. Zuerst hörte er nur ein Poltern und ein Kratzen von Pfoten auf dem Fußboden. Der Hund stürzte zur Wohnungstür und kläffte. Judith rief ihn mit strenger Stimme zurück:
„Fräulein!“
Dann öffnete sie die Tür. An einer Leine hielt sie einen braunen Kampfhund mit einer breiten Schnauze und treuen Kuhaugen. Judith blickte Paul an, als habe er sie gerade bei irgendetwas Wichtigem gestört.
„Hallo Judith. Ich mache morgen ein kleines Einstandsessen, vielleicht hast Du ja Lust auch zu kommen. Es gibt Pizza und Wein.“
„Ich weiß nicht“, Judith stand wieder im Türrahmen, stützte sich mit dem Arm ab und schaute ihn skeptisch an, „wieso eigentlich nicht. Wer kommt denn noch?“
„Meine Mitbewohner, ein paar Freunde und hoffentlich auch ein paar Nachbarn“, log Paul. Er hatte sonst keinen einzigen Nachbarn eingeladen. Schließlich brauchte er ja nur einen Vorwand, um Judith besser kennen zu lernen.
„Na schön, dann werde ich kommen“, meinte Judith und lachte wieder so fröhlich, dass es Paul fast unheimlich zu mute wurde.
„Gut dann sehen wir uns morgen um acht“, verabschiedete er sich schnell und ging mit zitternden Knien die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.
Paul bereitete das Essen sorgfältig vor. Schon eine Stunde bevor die Gäste kamen, hatte er die Zutaten bereitgestellt und die erste Weinflasche entkorkt. Es sollte vor allem sehr viel zu trinken geben, hatte er beschlossen.

„Es ist ja nicht so, dass er nicht nett wäre“, dachte Judith, während sie an der Pizza knabberte, „aber jedes Mal, wenn ich zu ihm hinblicke, dann schaut er mich schon an mit seinen großen blauen Augen. Er trägt heute sogar Kontaktlinsen. Außerdem ist es doch sehr merkwürdig, dass hier kein anderer Nachbar zu sehen ist.“
Die Gäste unterhielten sich angeregt über ihr Studium, ihre Arbeit oder ihre Zukunftspläne. Die Pizza schmeckt nach dem einhelligen Urteil der Gäste gut und auch der Wein war, obwohl er ein wenig Kork zu haben schien, ganz annehmlich. Es wurde viel gelacht und als das Eis zum Nachtisch serviert wurde, gelang es Paul, Judith zu einer Extraportion zu überreden. Dabei schaute er sie so merkwürdig an, als sei es sein Plan, sie gleich nach dem Nachtisch zu vernaschen. Sie rauchte noch eine Zigarette und dachte an ihre Zukunft. In ihrem Leben war kein Platz für einen Freund. Auch wenn sie Pauls umständliche Art mochte, seine komplizierten Ausdrücke für eigentlich ganz offensichtliche Sachverhalte, glaubte sie doch nicht recht, dass es sinnvoll wäre, sich mit ihm einzulassen. Sie dachte an ihren Hund, mit dem sie gleich noch um den Block würde gehen müssen.
„Ich muss gleich los“, sagte sie deshalb mit einem Blick auf die Uhr.
„Schade“, antwortete Paul, „ich hoffe, Du hattest einen schönen Abend.“
Sie ging langsam die Treppe hinunter und überlegte, ob es stimmen könnte, daß Paul einen Narren an ihr gefressen hatte. Er hatte sie den ganzen Abend über so traurig angeschaut und als sie jetzt gegangen war, war sein Blick so sehnsuchtsvoll gewesen, dass es ihr schon fast unheimlich geworden war.

In den nächsten Wochen klingelte Paul bei Judith an. Immer wieder dachte er sich neue Vorwände aus, um sich mit ihr zu treffen. Er lud sie zum Billardspielen ein, ging mit ihr ins Kino oder fragte einfach nur, ob sie vielleicht etwas Milch erübrigen könne. Dann kamen die Weihnachtsferien. Paul war völlig niedergeschlagen, denn er wusste, dass Mirjam im Ruhrgebiet sein würde. Er spürte ihre Nähe, wollte mit ihr reden und hatte zugleich eine Riesenangst, ihr zu begegnen. Seine Mitbewohner waren über die Ferien bei ihren Eltern. Paul selbst hasste Weihnachten zu Hause. Nur am Heiligen Abend verbrachte er ein paar Stunden mit seinen Eltern und seinem Bruder. Aber noch bevor es neuen Uhr war, lieh er sich den Wagen seines Vaters, um in die WG zu fliehen. Dort lief er unruhig von Zimmer zu Zimmer und dachte an Judith, die in letzter Zeit sehr ablehnend gewesen war. Mal setzte er sich in die Küche, um eine Zigarette zu rauchen und einen Tee zu trinken, dann rannte er um den Block, um zu sehen, ob Judith nicht vielleicht gerade mit ihrem Hund unterwegs war. Schließlich ertappte er sich sogar dabei, wie er sich auf den Boden legte und lauschte, was in der Wohnung unter ihm vor sich ging. Judith hatte offensichtlich Besuch. Paul konnte aber nicht genau heraushören, ob es ein Mann oder eine Frau war, oder ob es sich vielleicht sogar um mehrere Menschen handelte. Er gab das Spionieren auf und rief ein paar von seinen neuen Freunden an, um sich mit ihnen zu betrinken.

Es waren vier Wochen vergangen, bis es Paul wieder gelungen war, sich mit Judith zu verabreden. Nun saßen sie im Hinterraum des „Freibads“, einer Bochumer Studentenkneipe, tranken ein wenig und redeten miteinander.
„Kennst du Schreibgespräche?“, fragte Judith unvermittelt, nachdem sie in einer ausufernden Gesprächspause alle Werbebroschüren gemustert hatte, die auf einem Ständer in der Ecke des Raumes standen. Das Klicken der Billardkugeln setzte den Punkt unter das Fragezeichen am Ende ihres Satzes.
„Nein“, antwortete Paul, „wenn ich sprechen will, dann tue ich das üblicherweise, indem ich rede.“
„Aber Schreibgespräche sind total geil“, versetzte Judith. Paul zuckte ein wenig zusammen, bei ihrer Ausdrucksweise.
Als die Kellnerin das nächste Mal wieder am Tisch vorüber ging, fragte Paul sie nach einem Stift und einem Blatt Papier. Ohne zu zögern, brachte sie einen Notizblock und zwei Kugelschreiber. Dabei lächelte sie Judith verschwörerisch zu. Ob Judith auch ohne Paul gelegentlich hier gewesen war? Vielleicht in der Weihnachtswoche?
Der Löwe legt sich müde unter einen Baum und schläft. Er hat keine Lust mehr, auf die Jagd zu gehen. Es ist zu anstrengend. Er möchte lieber schlafen. Paul schrieb hastig und mit einer ungelenken Schrift in Blockbuchstaben. Sie hatten zuvor über Sternzeichen gesprochen. Dann reichte er Judith das Papier.
Vielleicht sollte der Löwe einmal mit den Augen blinzeln, damit er ein wenig von dem mitbekommt, was in der Savanne vor sich geht.
Was könnte denn der Löwe in der Savanne sehen?
Vielleicht eine Löwin, die sich langweilt, und gerne auf Antilopenjagd gehen würde?
Löwinnen jagen doch wohl lieber alleine, oder nicht?
Das stimmt nicht. Sie tun nur so. In Wahrheit freuen sie sich über Gesellschaft.
Aber unsere Löwin ist doch gar nicht einsam. Sie wird doch von einem Kampfdackel beschützt.
Vielleicht ist aber der Kampfdackel gar kein Ersatz für einen ausgewachsenen Löwen?

Paul, der zunächst ein wenig skeptisch gewesen war, bekam nun Spaß an dem Schreibgespräch. Judith machte zahlreiche orthografische Fehler, aber ihre Schrift war leicht zu lesen. Die Buchstaben waren geschwungen und doppelt so groß wie die von Paul.
Erst als der Block schon vollgeschrieben war, hörten sie auf.
„Ich muss jetzt ins Bett. Schließlich will ich morgen arbeiten“, bestimmte Judith.
Paul brachte sie nach Hause. Sie liefen über die Oskar-Hoffmann-Straße und wichen den Schlaglöchern aus, in denen sich das Regenwasser gesammelt hatte.
„Gerne würde ich jetzt ihre kleinen Hände in meine nehmen“, dachte Paul, tat aber nichts. Der Regen zeichnete Muster auf die Straßen. Das Wasser spiegelte das Licht der Straßenlaternen und der Ampeln. Was wohl Mirjam jetzt machte?
Judith stieß die Haustür mit dem Fuß auf und stand auch schon vor ihrer Wohnung. Die Krallen ihrer illegalen Bestie beharkten den Fußboden. Man konnte sie durch das Holz der Tür hecheln und sabbern hören.
„Gute Nacht, Paul.“ Judith war so schnell verschwunden, dass Paul kaum etwas entgegnen konnte. Er stieg die abgetretene grüne Holztreppe hinauf in den ersten Stock und schloss die Wohnungstür auf. Martin kochte sich gerade in der Küche einen Yogi-Tee. Seit er an seiner Examensarbeit schrieb, schien er überhaupt nicht mehr zu schlafen. Dafür kochte er immer aufwendigere Gerichte. Schon seit Jahren war Martin Single. Seine letzte Freundin war nicht nur schön gewesen, sondern auch noch klug und reich. Er konnte sich nun nicht mehr mit normalsterblichen Frauen abgeben. Lieber kochte er für seine Mitbewohner und diskutierte deren Affären.
„Möchtest Du auch einen Tee?“, fragte er.
„Ja, aber ich trinke nur Pfefferminztee“, erwiderte Paul und ging zum Wasserkocher.
„Und? Wie war’s mit Judith“, bohrte Martin weiter.
„Ganz nett. Wir haben ein Schreibgespräch gemacht. Das kannst Du in Zukunft mit Deinen Schülern ausprobieren.“
„Aha. Aber warum bist Du so gereizt?“
Paul ging zum Küchenfenster und schaute an der grauen Hauswand hinunter.
„Ich will aus ihrem Schlafzimmerfenster auf den Hof gucken. Ich muss erfahren, wie die Welt von dort betrachtet aussieht.“

Paul und Judith hatten schon lange auf dem billigen Sofa in ihrem Wohnzimmer gesessen, geredet und geraucht. Sie wollte offensichtlich nicht, dass er ging, denn sie hatte zwischendurch schon die zweite Flasche Wein geöffnet. Doch Paul gingen langsam die Themen aus und der eifersüchtige Hund, der unentwegt durch den Raum taperte, ging ihm gehörig auf die Nerven. Paul hatte schon mit ihm gespielt, indem er ein altes zerbissenes Schiffstau in die Hand genommen hatte. Der Hund hatte sich darin verbissen und dann so wild geschüttelt, dass Paul sich beinahe den Arm ausgerenkt hätte. So brach ein Kampfhund also seinem Opfer das Genick.
„Weißt Du was, Judith. So geht das nicht mehr weiter. Ich gehe jetzt nach oben und hole meine Kondome. Wenn ich zurückkomme und die Tür ist auf, dann gehen wir ins Bett. Ansonsten wünsche ich Dir eine gute Nacht.“ Paul war selbst ein wenig überrascht von dieser spontanen Idee, aber es freute ihn zu sehen, wie Judith die Augen aufriss. Er stand auf und verließ die Wohnung. In seinem WG-Zimmer überkam ihn die Nervosität. Was, wenn sie die Tür zuknallen und dreimal abschließen würde? Was, wenn sie allen Nachbarn erzählen würde, dass er ein notgeiler Idiot sei? Was, wenn sie ihren blöden Hund auf ihn hetzen würde? Nervös kramte er die Packung hervor und steckte sich zwei in rotes Plastik verpackte Kondome in die Hosentasche. Dann ging er wieder die knarrende Holztreppe hinunter. Seine Knie zitterten. Die Tür war auf.

Der regnerische Morgen dämmerte mühselig durch den wolkenverhangenen Himmel über der Bochumer Innenstadt. Unablässig trommelte der Regen seine Rhythmen auf die Dächer der Stadt. Durch das Fenster konnte man nur wenig vom Hinterhof sehen. Den unteren Teil hatte Judith mit einem bunt gemusterten Tuch verhängt. Aber die Wolken sah man von hier ganz deutlich. Judith war so klein. Ganz anders als Mirjam. Sie hatten die Nacht über nicht geschlafen. Ihr Kopf lag auf Pauls Brust. Sie war so klein und leicht, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte, sie auf sich liegen zu haben. Nur das Gewicht des Hundes störte ihn. Selbst beim stärksten Seegang war er nicht von seinem Stammplatz am Fußende des Bettes gewichen. Jetzt, als die Begierde der Nacht verklungen war, schämte sich Paul fast ein wenig vor dem Tier. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, neben Mirjam aufzuwachen.

„Wir lieben uns nicht. Es ist, als würden wir mit angezogener Handbremse an einem Rennen teilnehmen wollen“. Paul drückte seine Zigarette aus und stand auf. Seit drei Monaten hatten er und Judith jetzt diese Affäre, die eigentlich nur aus endlosen Nächten bestand, in denen sie übereinander herfielen wie ausgehungerte Wölfe. Mit Judith zu reden, war eine Qual. Oft verstand sie seine Ausdrucksweise nicht. Sie interessierte sich nicht für Literatur und Musik, nur über das Theater konnten sie gelegentlich sprechen. Aber letztlich sprach sie dann doch wieder nur über die Schauspielerinnen und ihre Kolleginnen in der Maske. Aber die Begierde! Er hatte es nie glauben wollen. Konnte es sein, dass der Sex besser wird, wenn man den Menschen nicht liebt, mit dem man ins Bett geht? Und wie war es möglich, dass die Erinnerung an Mirjam immer lebendiger wurde, je länger sie voneinander getrennt waren?
„Hau ab, Du Idiot“, rief Judith ihm hinterher, als er die Wohnung verließ.

Zwei Tage später brachte ihn eine Bekannte in ihrem Auto nach Hause. Sie war eine Freundin der Familie. Etwa sechzig Jahre alt. Ihre langen grauen Haare hatte sie in einem Zopf zusammengesteckt. Sie war ungeschminkt, aber ihre blauen Augen strahlten trotzdem. Paul erzählte ihr, wie sehr er Mirjam vermisste.
Die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten die Toreinfahrt zum Hinterhof. Zwei Gestalten küssten sich im Hauseingang.
„Aber“, sagte die Bekannte, die Paul zum Abschied noch ein bisschen aufmuntern wollte, „hast Du nicht längst wieder eine neue Freundin?“
Paul zeigte mit gequältem Lächeln auf das Pärchen im Hauseingang. „Ich glaube, das ist schon vorbei.“
„Wie heißt sie denn?“
„Judith. Judith oder der kleine Schmerz“, lachte Paul und stieg aus.
Als er an den beiden vorbeiging, lächelte er freundlich und rief: „Guten Abend.“
Ob Judith ihm nachgeschaut hatte, wusste er nicht. Er stieg die knarrende Treppe hinauf und freute sich darauf, endlich wieder mit Martin einen Yogi-Tee trinken zu können.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 27.10.2006, 21:40, insgesamt 1-mal geändert.

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.05.2006, 15:04

Hallo Paul...

-Nein! Ich kann das wieder gar nicht lesen. Wie kann man denn nur? Wie kann man nur?

Zuerst werden meine Augen mit Formulierungen umworben wie:

Ihre Augen lächelten ein wenig, zumindest wirkte es so, denn in den Augenwinkeln hatte sie zarte Krähenfüßchen. Um ihren Mund war ein harter Zug, sie hatte, so schien es, schon einige Male gegen viele Widerstände ihren Willen durchsetzen müssen.


Er ließ sie an sich vorbeilaufen, schloss, als der Duft ihrer Haare ihm in die Nase stieg


(-da wäre ein vergleich schön gewesen, bzw. eine Metapher.)

-Die Löwengeschichte-


Der Regen zeichnete Muster auf die Straßen. Das Wasser spiegelte das Licht der Straßenlaternen und der Ampeln


Der regnerische Morgen dämmerte mühselig durch den wolkenverhangenen Himmel über der Bochumer Innenstadt


-Ich las auch sehr gerne von den Macken dieser Charaktäre. Den Tee-Freak hätte man noch weiter ausbauen müssen. Er hätte ethnologisches Geschwafel über Graupen und Salbeiblatt-Salat anfangen müssen (Vielleicht in etwa so: "Nee, Du...ich mach mir mal eben nen leckeren Bancha-Tee mit Bio-Milch. Magst Du auch einen, mm?"

ABER DANN: Kommt der "Dichter", der zuweilen eine poetisch angehauchte Sprache hervor schimmern ließ wieder zu seinen direkten, direkten Dialogen...

Falls das wirklich ein Vorgeschmack auf den Wettbewerb sein soll: Ich fand die liebesszenen nicht erotisch (bis auf das leichte auf ihm liegen, vielleicht).

Was ist das denn für eine Person? Besitzt so einen Monsterhund und lässt sich auf solch unkreative Angebote ein...

-da muss aber viel Wein geflossen sein.

Manche Abschnitte haben mir aber, wie gesagt, sehr gut gefallen!

Wir werden ja sehen, Herr Ost...

Liebe Grüße, louisa

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 31.05.2006, 17:28

Liebe Louisa,

hier befleißige ich mich doch der klassischen Methode der Aussparung. Es gibt keine erotischen Szenen, nur das Vorgeplänkel und die Enttäuschung, als die beiden merken, dass sie nicht zusammen passen. Vorsicht mit dem Löwen. Das ist eine Geschichte aus einem Lesebuch für Grundschulkinder, die nur um wenige Details erweitert wurde. Vielleicht sollte die gesamte Geschichte nicht identifizierend gelesen werden?!

Es grüßt

Paul Ost

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 31.05.2006, 18:27

Lieber Paul Ost,
das habe ich wieder ganz gern gelesen. Ich habe nur nicht verstanden, wen es auf Euren Wettstreit vorbereiten soll: Dich oder uns Leser?
Auf jeden Fall ist mir aufgefallen, dass Du an der Glaubwürdigkeit mancher Dialoge noch arbeiten könntest, wenn Du möchtest. Ich glaube, dass gilt auch für die letzte Geschichte, da war mir das auch aufgefallen, aber ich habe vergessen, es zu erwähnen.
Viele Grüße
leonie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 31.05.2006, 18:43

Hallo Leonie,

danke für das Feedback. Du hast sicher Recht. Dialoge sind ziemlich schwierig. Ich bin für konkrete Vorschläge dankbar.

Grüße

Paul Ost

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 31.05.2006, 22:33

Hm, ich weiß auch nicht so genau, wie man es richtig gut macht.
Gut finde ich, dass Du die Dialoge auflockerst durch das, was die Sprechenden tun, wie sie aussehen, etc.. Wichtig ist wohl auch, dass ein Sprechender nicht zuviel Text auf einmal hat.

Aufgefallen ist es mir dieses Unglaubwürdige vor allem bei dem Dialog zwischen Paul und Melanie. Zum Beispiel auf die Frage, wie er sie rumgekriegt hätte: „Das war schön. Weißt du,...“
Das passt für mein Empfinden überhaupt nicht zu dem, wie sie sonst miteinander reden.
Ebenso die guten Ratschläge oder ein Satz wie: „Ich hab das Tänzeln auf Freiersfüßen satt...“
Das fällt aus dem Rest irgendwie raus, finde ich. Aber ich kann es nicht besser erklären.
Vielleicht äußert sich noch jemand anderes dazu.

Gruß

leonie

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 01.06.2006, 08:35

Was mir gleich aufgefallen ist die Seltsamheit der Erzählperspektive. Lange Zeit hat der Erzähler, trotz er-Perspektive nur das Wissen von/um Paul. Auf einmal aber kommt die Perspektive von Melanie ins Spiel (beim zweiten Treffen). Das finde ich einen klaren Bruch und merkwürdig beim Lesen. Meiner Meinung färbt sich das auch auf die Dialoge ab, die mir allerdings selbst, weder besonders negativ noch besonders positiv aufgefallen sind...

Mir sind bei diesem Text eher einige Brüche aufgefallen, die mir zu plötzlich kamen...Z.B. an dieser Stelle:

Von hier:
Selbst beim stärksten Seegang war er nicht von seinem Stammplatz am Fußende des Bettes gewichen. Jetzt, als die Begierde der Nacht verklungen war, schämte sich Paul fast ein wenig vor dem Tier. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, neben Miriam aufzuwachen.


Zu hier:
„Wir lieben uns nicht. Es ist, als würden wir mit angezogener Handbremse an einem Rennen teilnehmen wollen“. Paul drückte seine Zigarette aus und stand auf. Seit drei Monaten hatten er und Judith jetzt diese Affäre


Du springst zwischen zwei Bettszenen ohne Übergang und schon kommt der Bruch, das wirkt auf mich nicht beabsichtigt...


Erotisch/mit Liebe gefüllt sind für mich allein die Stellen, in denen Paul an Miriam denkt, alles andere wird ja gar nicht erzählt (aber das ist ja auch Absicht denke ich).

Der Titel und der Blickwinkel (nämlich eine Geschichte über Miriam, obwohl diese gar nicht vorkommt) gefallen mir sehr...

Liebe Grüße,
Lisa

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 01.06.2006, 16:52

Liebe Lisa,

Du hast Recht mit Deiner Beobachtung, dass Judiths Gedanken ein wenig unvermittelt auftauchen. Vielleicht werde ich das demnächst ändern.

Einige der Brüche sind aber schon beabsichtigt. Die erste Stelle, die Du zitierst, schildert den Morgen danach. Der Hund liegt noch auf dem Bett. Insofern ist das kein großer Bruch. Nur eine kleine Herausforderung an den Leser.

Der zweite Bruch ist natürlich eine Gemeinheit; aber so ist es gewollt. Die Affäre dauert drei Monate und doch lässt sich darüber nichts berichten, außer dass es nicht läuft. Alles andere wollte ich Louisa nicht zumuten. :mrgreen: (Scherz! Es ist nicht wichtig.)

Was mir an Deinem Kommentar gefällt, ist, dass Du erkannt hast, wie unwichtig Judith ist. Sie ist nur der kleine Schmerz, über den zu berichten es sich kaum lohnt.

Der ganze Plan von Paul, die eine Frau zu vergessen, indem er sich eine neue sucht, funktioniert nicht. Und der Blick aus dem anderen Fenster ist auch nicht so berauschend, dass er alles andere verdrängt.

Danke für die aufmerksame Lektüre

Paul Ost

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 01.06.2006, 21:37

Hallo Paul,

ich verstehe deine Texte ja oft falsch, ich weiß, aber vielleicht kann ich diesen einen Punkt einfach nachvoll"fühlen".

Nun wollte ich nicht schon wieder etwas zu einem deiner Texte schreiben, ABER mir ist gerade bei einem CD-Cover ein Zitat in die Hände gefallen, bei dem ich dachte: Das trifft Pauls Texte. Daher noch einmal ich:

"Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht."

(Kafka)

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 01.06.2006, 23:40

Hallo Lisa,

Kafkas Siren. Wie schön! Und wie wahr!

Übrigens freue ich mich, von Dir zu lesen. Oder willst Du es jetzt den Siren gleichtun und mich durch Dein Schweigen zum Wahnsinn treiben? :grin:

Für viele meiner Charaktere gibt es, wie das wohl öfter der Fall ist, reale Vorlagen. So auch für Melanie. Bei der muss ich immer an Kafka denken. An Kafka und sein Frauenbild...

Auf Wiederlesen

Paul Ost

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 02.06.2006, 21:37

Ist Melanie dieselbe, die auch die Spinnenohrringe trägt? Mir kommen die Figuren verwandt vor...

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 02.06.2006, 22:13

Hallo Lisa ,

Melanie würde NIE Spinnenohrringe tragen. Sie trägt lieber so ein schwarzes Samthalsband, was irgendwie distinguiert wirken und an eine "femme fatale" erinnern soll.

Aber es freut mich, dass Du sie in der Geschichte entdeckt hast.

Ich denke, Miriam hat ihre Spinnenohrringe längst abgelegt. Ihr künstlerischer Geschmack ist aufgefeilter geworden.

Es grüßt

Paul Ost


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 5 Gäste