Neuland

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Benutzeravatar
annette
Beiträge: 465
Registriert: 24.11.2006
Geschlecht:

Beitragvon annette » 24.11.2008, 12:17

Neuland

Der Herbst hat seine Spendierhosen an,
mit vollen Händen verteilt er
die letzten Blätter, Nüsse, Äpfel.
Mein Weg führt durch Dörfer, in denen der Kindergarten
neben dem Friedhof liegt.

Die Straße verläuft sich in Wäldchen,
umschlängelt jähe Anhöhen,
und vergisst immer wieder, dass sie zum Horizont will,
wo die Landschaft sich mit Hügelketten schmückt
und Windräder im diesigen Sonnenglast
auf der Schwelle zur romantischen Anmutung stehen.

Schritt ohne Umkehr,
erfüllt von einem Mut, der mich den Freunden fremd macht.

Ich schaue in die Runde,
um mich liegen Felder in Wintererwartung,
übersät mit Krähen.
Dahinter träumen die Berge von blauer Ferne,
von Vagheit und Wagnis.


Zeilen 11 und 12 vorher:
Einer der Schritte ohne Umkehr,
erfüllt vom Mut, der mich den Freunden fremd macht. (Danke an scarlett und smile!)

Und das "e" bei schaue in Zeile 13 verdankt der Text Lisa!
Zuletzt geändert von annette am 28.11.2008, 10:35, insgesamt 1-mal geändert.

jondoy
Beiträge: 1662
Registriert: 28.02.2008

Beitragvon jondoy » 24.11.2008, 12:31

....hinter den 7 Bergen,

ich dachte immer, da wohne ich, ich sag selbst heut noch oft, ich wohne hinter den sieben Bergen, kenn sogar ihre `geographischen` Namen, die auf keiner Karte eingezeichnet sind : - ),

schön, wieder von zu hören : - ).

Was meinst du mit Vagheit? Das frag ich mich.

Die Straße vergisst immer wieder, dass sie zum Horizont will.....und damit sich den Freunden fremd macht....
kenn ich.
Schönes Bild.

Gruß,
Stefan
Zuletzt geändert von jondoy am 25.11.2008, 02:10, insgesamt 3-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 24.11.2008, 20:58

Liebe Annette,

den Bildern deines Gedichtes bin ich sehr gerne gefolgt.
Du zeichnest eine Landschaft, die sich als Seelenlandschaft entpuppt, voller Abschied, aber nicht wehmütig. Zumindest lese ich das so. Ein Spaziergang auch im übertragenen Sinne.

Sehr gut gefällt mir der getragene Ton in diesen Zeilen. Keine Hektik, Beschaulichkeit. Das ist dir sehr gut gelungen.

„Der Kindergarten neben dem Friedhof“ ist für mich die zentrale Stelle der ersten Strophe, die deutlich macht, dass es sich hier nicht nur um einen harmlosen, beschaulichen Herbstspaziergang handelt. Du umreißt in dieser Formulierung Anfang und Ende, Abschied und Neuanfang, ohne große Worte, es klingt fast schon wie nebenbei.
Dazwischen liegt das Leben, das sich windet, entlang windet, durch Wäldchen (ich liebe dieses Diminutiv hier!), hochwindet zum Horizont, der geschmückt ist durch Windräder – Luftiges in steter Bewegung auf (einsamer) Höhe. Neues. Neuland wartet. Wird betreten.

Was mir nicht so ganz eingeht ist die Verszeile
„einer der Schritte ohne Umkehr“.

Ich meine, es sind mehrere Schritte ... aber abgesehen davon, empfinde ich diese Zeile als einen (zu) starken Bruch – weil holprig, ich würde hier anders formulieren:

„Schritte ohne Umkehr“

Ferner: kann man „in die Runde“ schauen und dabei die Landschaft meinen? Ich denke, „ich schau in die Runde“ setzt eine Menge x von Menschen voraus.
Ich denke, du meinst hier ein sich „umschauen“.

Und last but not least, die „Vagheit“.
Sicherlich, man kann so etwas schon machen, ich denke aber, der Text hat so eine „Neuschöpfung“ am Schluss nicht nötig, zu sehr widerspricht sie m E dem Inhalt, der ganz ohne dergleichen auskommt. (Und das sehr gut!)

Ein sehr schöner Text Annette, mit dem du dich hier eindrücklich zurückgemeldet hast.

Herzliche Grüße,
scarlett
Zuletzt geändert von scarlett am 25.11.2008, 09:45, insgesamt 1-mal geändert.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 24.11.2008, 21:08

Ein wenig drastisch:

Ich würde die ganze erste Strophe weglassen.
Sie ist nur dazu da, eine Unsicherheit zu überbrücken und sagt nichts besonderes, ja ist mir ein wenig fremd zum nachfolgenden Text, den ich für sehr gelungen halte.

MlG

Moshe

scarlett

Beitragvon scarlett » 24.11.2008, 21:11

Also das sehe ich entschieden anders, lieber moshe ...
Vor allem diese wunderbare Zeile mit dem KIndergarten neben dem Friedhof ... nee, nee ... auf keinen Fall gehört das gestrichen!

scarlett

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 24.11.2008, 21:28

Ein Kindergarten neben einem Friedhof ist kein Neuland.
Und wenn es der Weg aus dem Altland ist, weiß ich nicht was ich damit soll, denn das habe ich doch dauernd um mich.
Was denn so besonders daran ist, daß der Friedhof neben dem Kindergarten ist, bzw. umgekehrt, vermag ich nicht zu verstehen. Das ist doch oft so.

Der eigentliche Text fängt für mich bei der zweiten Strophe an.

Natürlich ist das nur meine Sichtweise.

MlG

Moshe

scarlett

Beitragvon scarlett » 24.11.2008, 21:34

Also bei uns stehen die Kindergärten ja nun nicht gerade in umnittelbarer Nähe der Friedhöfe. Hier nicht und aus Siebenbürgen kenn das auch nicht.
Ich denke nicht, dass das so selbstverständlich ist und dass Annette sich hier was dabei gedacht hat (so wie ich das auch nachvollziehen kann).

Nun ja, wir werden es erfahren - vielleicht.

MlG

scarlett

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 24.11.2008, 21:49

"Mein" Friedhof liegt tatsächlich, na, 50 m vom nächsten Kindergarten entfernt... Immer ein schöner Kontrast, wenn man die Gräber pflegt und dabei von den Kindern beschallt wird :-) Es ist natürlich auf dem Dorf, wie Annette ja korrekt anmerkt - das einzige, was der Herbst dort verteilt, sind allerdings Unmengen von Eicheln ;-) -F.
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 24.11.2008, 23:24

Hallo Annette,

mir gefällt dein Gedicht in der Lesart von Monika sehr gut. Auch ihre Einwände teile ich. Und ja, die erste Strophe halte ich für wichtig. Sie lässt mich als Leser stutzen, nachdenken. Für mich ist es ungewöhnlich, dass ein Friedhof neben einem Kindergarten liegt, das kenne ich nicht. Deshalb denke ich mir, dass du in der Tat dieses startende Leben und das Sterben als Reflektion über das Leben in die Naturbeschreibung einfließen lässt, weil es eben zur Natur dazugehört. Deshalb finde ich das stimmig.
Sehr angetan bin ich von diesen Zeilen:
Die Straße verläuft sich in Wäldchen,
umschlängelt jähe Anhöhen,
und vergisst immer wieder, dass sie zum Horizont will,
wo die Landschaft sich mit Hügelketten schmückt

Saludos
Mucki

jondoy
Beiträge: 1662
Registriert: 28.02.2008

Beitragvon jondoy » 25.11.2008, 02:19

Ich schau in die Runde,
hinter ihren Vorstellungen von `Wintererwartung`
träumen meine Berge von blauer Ferne,
von dem Ende von Verzagtheit und Wagnis.

***

Windräder beten auf den Hügelketten den Wind an,
wie die Moai-Figuren die Sonne auf den Osterinseln.

scarlett

Beitragvon scarlett » 25.11.2008, 09:50

Liebe Annette,

noch eine kleine Nachbemerkung, nachdem ich nochmal über deinen Text geschlafen habe: das, was ich zu den "Schritten" geschrieben habe, erscheint mir heute nicht mehr ganz richtig.
Es ging dir wohl tatsächlich um den "einen Schritt", durch den man Altes/Bekanntes hinter sich lässt. Um die eine Situation. (wobei das im Leben sicherlich öfters geschieht)
Deshalb muss da wohl auch "Schritt" bleiben - aber die Zeile holpert mir dennoch. Vielleicht:

"ein Schritt ohne Umkehr"???

Nun ja, ich bin gespannt, was du dazu schreiben wirst.

Das Gedicht gefällt mir sehr, sehr gut!

Grüße,
scarlett

Benutzeravatar
annette
Beiträge: 465
Registriert: 24.11.2006
Geschlecht:

Beitragvon annette » 25.11.2008, 14:51

Danke für Eure Eindrücke!

Zur Vagheit: Das ist keine Neuschöpfung, scarlett. Das ist das Substantiv zu vage, also ungenau, verschwommen. Und genau das ist gemeint: eine Mischung aus der optischen Verschwommenheit der Ferne und der noch ungenauen, unkonkreten Vorstellung von etwas, das auf einen zukommt.

Zum Friedhof neben dem Kindergarten: Das ist eigentlich fast immer so in sehr kleinen Dörfern. Wenn es nur jeweils einen Friedhof und einen Kindergarten gibt, liegen die meist beide im Kern des Ortes, in direkter Nachbarschaft der Kirche.
Und natürlich wollte ich damit die Verflochtenheit der Lebensalter und die Ganzheit des Lebens ausdrücken - aber ebenso steht das Bild für die Enge dieser winzigen Ortschaften.

einer der Schritte ohne Umkehr: Schön, scarlett, dass Du es auch so verstehen kannst, wie es gemeint war. Du hast recht, die Zeile klingt etwas holprig, zuerst hatte ich "Einer dieser Schritte ohne Umkehr". Das klingt aber sehr abgenutzt - wobei meine Änderung nicht viel geholfen hat. Vielleicht ändere ich Deinem Vorschlag folgend wirklich zu "Ein Schritt ohne Umkehr".

schau in die Runde: Ich möchte noch abwarten, ob das allgemein nur im Zusammenhang mit Personen verstanden wird. Natürlich meine ich "umsehen", aber "in die Runde" drückt für mich eine Vertrautheit aus, die mir wichtig ist. - Denn so neu die Umgebung dem lyrischen Ich ist, so vertraut ist ihm doch der Wechsel der Jahreszeiten, in dem es sich immer wieder zu Hause fühlt.

Zu Deinen Zeilen, Stefan: Sind es Vorschläge für meinen Text, die ich kommentieren sollte (würde ich dann gerne tun) oder ein eigener durch meinen Text inspirierter Text, der für sich steht?

Moshe, Du hast nicht ganz unrecht, dass es sich bei den ersten drei Zeilen um Vorgeplänkel handelt, allerdings um ein Vorgeplänkel, das eine Stimmung ausdrücken soll. Gerade die Personifizierung des Herbstes ist bewusst gewählt und steht im Zusammenhang mit dem Rest.

Schön, mal wieder hier zu sein und mich mit Euren Zeilen auseinandersetzen zu können!
Und, Stefan: Von diesen geographischen und/oder gefühlten sieben Bergen scheint es mehr zu geben *lach*.

Grüße, Annette

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 25.11.2008, 15:32

Hallo Annette,
schau in die Runde: Ich möchte noch abwarten, ob das allgemein nur im Zusammenhang mit Personen verstanden wird.

normalerweise assoziiere ich damit auch sofort Menschen. In deinem Text kommt jedoch direkt danach eine Beschreibung der Felder mit den Krähen. Insofern ist schon klar, dass du die Landschaft meinst. Dennoch gefiele mir besser:

Ich schau mich um,
vor mir liegen Felder ....


Saludos
Mucki

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 25.11.2008, 16:46

Hallo Anette,

(keine Kommentare gelesen)
Ein Weg, eine Landschaft, darin ein mutiges, aber vielleicht auch dadurch alleine gehendes Ich, das Schritte macht, nach vorne, nicht zurück. (Man erfährt nicht, ob es nicht mehr zurück will, oder nicht kann, eine interessante Frage.) Gefällt mir, vor allem der Blick auf die Dörfer, in denen alles eng beieinander liegt, nicht nur räumlich. Und wie sich daraus dieses vage der Ferne, der Träume, das Neuland aufwirft. Das Ich schlängelt sich hinaus. .-)

Ich persönlich könnte mir das auch gut als Kurzprosa vorstellen, da mir die Zeilenumbrüche teils nicht wirklich klanglich oder inhaltlich begründet und teils zu sehr betonend vorkommen.

und Windräder im diesigen Sonnenglast auf der Schwelle zur romantischen Anmutung stehen.

Dieser Satz sticht für mich heraus, weil er eine "negative" oder ein bisschen spöttische Wertung in die eigene Betrachtung der Landschaftsbilder bringt. Auch frage ich mich, ob es nicht "Anmut" heißen müsste? Sonnenglast ist ein Wort, das für mich gestelzt oder gesucht wirkt und sehr konträr zu den umgangssprachlichen Spendierhosen, aber ich vermute, das soll die Schwelle veranschaulichen?
Am Ende schließlich fällt die blaue Ferne für mich etwas ab, und Vagheit und Wagnis kommen mir so im direkten Nebeneinanderstehen ein bisschen zu spielerisch vor. Vielleicht könnte man das blaue ja durch "vage" ersetzen und es bliebe doch inhaltlich der Sinn erhalten?
Was mir noch auffiel, dass die Sätze sich am Anfang vom Aufbau her sehr ähneln, Der Herbst…/ Mein Weg…./ Die Straße…/ was eine gewisse Monotonie erzeugt, war das Absicht?
"Ich schau in die Runde"…das klingt vertraut, verbunden, Menschen sind nicht da, aber (innere und äußere) Landschaft, träumende Berge. Ein Innehalten vor dem Weitergehen, Ausschau halten. Gefällt mir.

Nur zum veranschaulichen und mit noch ein paar kleinen Anmerkungen verstehen ;-)

► Text zeigen


liebe Grüße
smile


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Google [Bot] und 19 Gäste