Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
Beiträge: 3915
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

Bild
Foto A.P. Sandor et moi


Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden


Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden
Zuletzt geändert von Nifl am 04.08.2007, 09:08, insgesamt 1-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

scarlett

Beitragvon scarlett » 22.09.2008, 09:51

---
Zuletzt geändert von scarlett am 06.10.2009, 22:30, insgesamt 1-mal geändert.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 23.09.2008, 23:34

Sie soll schon wieder Dame spielen mit dem alten Herrn, obwohl sie weder will noch kann. Ein »Kann ich nicht« lässt er nicht gelten. »Das lernen Sie schnell, kommen Sie schon, das kann jeder lernen.«
Sie verliert ein ums andere Mal. Einmal lässt er sie gewinnen, dann stellt er die Steine neu auf und verkündet: »So, jetzt spielen wir aber richtig.« Dann gewinnt er wieder. Manchmal macht sie einen Zug, der ihm nicht gefällt. Er nimmt ihren Stein und markiert: »Schauen Sie, das hätten Sie so machen müssen, dann hätte ich nämlich schlagen müssen« – er nimmt einen ihrer Steine weg, wirft ihn neben das Spielfeld – »und dann hätten Sie …« Und er legt zwei seiner eigenen Steine an den Rand. »Das hätten Sie machen müssen.« Die Steine bleiben so stehen, wie er sie gesetzt hat; das Spiel geht so weiter, wie er es für sie gestellt hat. Sie verliert trotzdem.
»Ich kann einfach keinen Stein opfern, um den Gegner herauszufordern«, verteidigt sie sich, » meine Steine sind für mich …« – sie sucht nach dem passenden Vergleich – »wie Schäfchen, ich werde nicht freiwillig eines meiner Schäfchen opfern, lieber verliere ich.«
Für Sekunden, während er murmelnd seine Strategie plant, sieht sie statt ihrer letzten drei weißen Steine winzige Schäfchen, kleine weiße Lämmer, die »mäh« schreien. Vergebens.
Nach der fünften Partie steht er auf, um sich mit seinen Malschülern zu unterhalten. Sie nutzt die Gelegenheit, ihr Strickzeug hervorzuholen, strickt eifrig und schaut dabei in ihr aufgeschlagenes Buch. Schon ist er zurück und baut die Steine neu auf.
»Darf ich die Reihe zu Ende stricken?«, fragt sie.
»Wir können schon anfangen«, erwidert er, »wenn Sie beim Stricken lesen können, dann können Sie auch spielen.«
Und schon verliert sie wieder. Sie findet keine Strategie. Wenn sie sich allzu blöd stellt, wird er sauer werden und sie anschnauzen. Wenn sie versucht, gut zu spielen, muss sie sich einen Schlachtplan überlegen. Während sie überlegt, trommelt er mit den Fingern: »Ja nu.« Zu gut darf sie ohnehin nicht werden, sonst denkt er am Ende noch, es macht ihr Spaß.
»Ihnen fehlt bloß die Routine«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »wenn Sie erst mal Übung haben, dann macht es auch Spaß!«
Das tut es nicht. Aber nicht deshalb, weil sie keine Übung hat. Sondern umgekehrt: Sie hat keine Übung, weil sie überhaupt nicht gerne spielt.
»Sie werden sehen«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »es macht Spaß, gegen einen Meister zu spielen, und ich bilde mir ein, ein Meister zu sein!«
Warum spielt er dann gegen sie?
Wenn er sich über das Spielbrett beugt, alt, krumm und weißhaarig, sieht er aus wie ihr Vater. Ganz klein saß sie ihm gegenüber, baumelte mit den Beinen, die Zöpfe hingen über die aufgestützten Arme. Während ihr Vater einen Stein zog, schob er einen anderen mit dem Ellbogen ein Feld weiter.
»Du mogelst ja!«, rief sie empört.
Ihr Vater schob den Stein wieder zurück und sagt: »Einmal mogeln ist erlaubt!«
Der alte Mann sieht aus wie ihr Vater, kurz bevor er das letzte Mal zur Chemo musste und nicht zurückkam.
Sie zieht einen Stein. Der Alte schnalzt unwillig, murmelt: »Und was soll ich armer Mann jetzt machen?« und schiebt einen Stein vor, den sie schlagen muss, worauf er im nächsten Zug bis als Spielfeldende hüpft und eine Dame gewonnen hat.
Warum kümmert er sich nicht endlich um seine Schüler? Helmut hat sein Bild total blöd aufgeteilt, das sieht sogar ein Laie wie sie. Die Hausfront ist viel zu groß, das Fenster seitlich angeschnitten, der Busch unter dem Fenster kann sich nicht entscheiden, ob er in der Sonne oder im Schatten wächst, das Regenrohr ist platt wie ein Brett. Warum geht er nicht dorthin und kümmert sich, statt sie mit Damespielen zu plagen?
Er stellt die Steine neu auf und ruft:
»He, Helmut! Streich das Rohr grün!«
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 24.09.2008, 00:43

Stimmungsbarometer

Wenn sie mit ihrem Vater Schach spielte, war die Welt in Ordnung. Es herrschte Frieden, weil beide schwiegen. Ein angenehmes Schweigen. Ruhe im Haus. Mutters Augen strahlten, die Schwestern freuten sich.
Dann kam der Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal besiegte. Das Schachspiel verstaubte und der Frieden bekam nie wieder eine Chance.

Max

Beitragvon Max » 26.09.2008, 19:27

Wenn der Junge beim Schach verlor, spürte die Schmach bis ins Herz und hasste sich für seine Dummheit. Wutentbrannt rannte er ums Haus, setzte sich, noch immer den Tränen nahe, wieder ans Brett, baute auf und begann die nächste Partie. Sein Vater spottete und spielte weiter. Einmal war seine Tante zu Besuch. "Wer ist das?" fragte sie. "Wann immer er beim Schach verliert, läuft er schreiend ums Haus. 'Ich will sterben', denkt er. 'Ich will am liebsten sterben.'?" Ertappt senkte der Junge den Blick. "Das ist Dein Vater", sagte die Tante, "als er so alt war wie Du jetzt."

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 27.09.2008, 00:37

Erkenntnis

Sie schließt die Tür des Tages. Tausend Dinge erledigt. Sie könnte guten Gewissens schlafen gehen. Doch es gelingt ihr nicht. Etwas Wichtiges hat sie heute nicht getan. Grübelnd wälzt sie sich hin und her. Was hat sie vergessen. Warum empfindet sie keine Zufriedenheit. Es lässt ihr keine Ruhe. Aufrecht sitzt sie im Bett, rauft sich die Haare vor Wut, bis sie weiß, was es ist.
Sie hat heute nicht ein einziges Mal gelacht und bricht in Tränen aus.
.
.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 30.09.2008, 00:21

Ich habe einen Ohrring verloren. Es war kein kostbarer Ohrring, nur ein Bergkristall in einer Silberfassung. Ein ungewöhnliches Stück allerdings. Das Teil, das auf dem Ohrläppchen sitzt, war wie eine silberne Rosenblüte geformt. Die Bergkristallkugel, zu Facetten geschliffen, hing darunter in einem Netz aus feinen Silberdrähten. Ich habe die Ohrringe gern getragen. Und sie stammten aus meinem liebsten Schmuckgeschäft, dem in Tossa, an der katalanischen Küste; einem Geschäft, das ich sechs Jahre lang jeden Sommer besuchte. Inzwischen ist das Schuckgeschäft weg und hat einer Burgertheke Platz gemacht.
Einer der Ohrringe fehlt.
Verloren habe ich ihn auf einem Schäferfest. Sonntag vor zwei Wochen war ich dort, und fast drei Stunden habe ich mich aufgehalten. Das Fest fand in der Reithalle statt und auf dem Gelände rundherum, im Grünen. Als ich ankam, war herrliches Wetter. Die Wiesen rund um die Reithalle waren in kleine Koppeln aufgeteilt. Überall blökten Schafe. Ich habe die dicken großen Heidschnucken bewundert, die man bei uns kaum zu sehen bekommt, mit silbergrauen Rücken, grob wie Teppichwolle, und herrlich starken gewundenen Hörnern. Daneben die Rhönschafe, die hier jeder kennt, zottig und gelb vor Wollfett, mit schwarzem Kopf. Und die kleinen lockigen Skuddenschafe, dunkelbraun und karamellbraun und honigfarben. Und die sanften Scottish Blackface mit den dunklen Gesichtern und dem flaumweichen Fell, die aussehen wie Wollknäuel auf Beinen. Man möchte hineinfassen und kraulen, aber das lassen sie nicht zu. Die meisten Schafe mögen nicht angefasst werden. Wenn man sich allzu aufdringlich nähert, wenden sie sich alle miteinander um und wechseln die Ecke. Sie bewegen sich so kunstvoll synchron wie ein Vogelschwarm oder eine Gruppe Delfine. Auch das ist ein schöner Anblick.
Dann ging ich in die Reithalle, wo ein Stand aufgebaut war, an dem Kinder probieren können, wie man Wolle zu dicken Stoffen filzt. Und dort war ein Spinnrad aufgestellt, an dem niemand saß. Die Inhaberin des Filzstandes hatte eigentlich ein wenig spinnen wollen, kam aber nicht dazu; zu dicht war das Gedränge an dem Stand. Mit kurzem Winken lud sie mich ein, mich ans Spinnrad zu setzen. Ich rückte mir einen Stuhl hinter das kleine Ziegenrad und spann eine ganze Spule voll mit dunkelgrauem, weichem Wollgarn, während Dutzende von Leuten vorbeiliefen, spöttische oder auch anerkennende Bemerkungen machten, kluge oder dämliche Fragen stelltem. Als die Spule voll war, musste ich aufhören - die Spule war viel zu klein.
Dann ging ich noch einmal hinaus hinter die Reithalle, wo die Hütevorführungen stattfanden. Hier war ein Parcours aufgebaut, der wohl eigentlich dazu gedacht war, die Springpferde zu trainieren. Heute durften die herumliegenden Baumstämme und Latten die Schikanen für Hütehunde dienen. Leider war die Hütevorführung schon vorbei; ich war zu spät dran, hatte zu lang gesponnen. Ein paar Schafe standen noch in der Umzäunung. Auch hier wieder die kleinen, lockigen Skuddenschafe. Die Hunde saßen habacht dabei - Hunde mit menschlichen Gesichtern, mit schwarzen Knickohren, einer weißen Maske im Gesicht, aufmerksam und arbeitsfreudig. Ein dampfender Spätsommerregen ging nieder, als ich in den Parcours trat; es regnete warme Spülwasserblasen. Ich habe mich nur noch ein wenig umgesehen und mich dann zum Auto getrollt, um nach Hause zu fahren. Im Gepäckraum einen Plastiksack voll Romanov-Wolle - eben jene, die ich an dem Filzstand gesponnen hatte - und einen Beutel braunes Bergschaf.
Erst spätabends, als ich meine Ohrringe ablegen wollte, merkte ich, dass einer fehlte.
Eine Woche später, wieder am Sonntag, bin ich wieder auf dem Gelände, um ihn zu suchen.
Alles weg, die Schafe, die Koppeln. Ein paar Strohhalme liegen noch umher. Von dem Filzstand in der Reithalle keine Spur mehr; nur noch die übliche Sandaufschüttung, von Hufspuren zerfurcht. Hinter der Reithalle der Parcours wie vordem. Baumstämme, Zaunlatten. Im nahen Wald schreien die Elstern. Ich suche pflichtschuldig den Rasen ab, ohne Hoffnung, meinen Ohrring wiederzufinden.
Hier war - ungefähr - der Hütezaun, hier saß der arbeitsfreudige Hund. Das Rolltor zur Reithalle ist zu; eine Dame in Reitstiefeln versichert mir, der Sandboden sei inzwischen abgezogen und gewässert worden, aber sie werde wegen meines Ohrrings herumfragen. Hier war der Eingang, daneben ein Wurststand, der ist natürlich jetzt auch weg. Hier war das Podest, wo der Schafscherer sich betätigte - es liegen noch Wollflusen herum. Hier die Eindrücke der mobilen Zaunpfähle und dazwischen Strohbüschel, wo sich die schwarzköpfigen Rhönschafe, die grauen Heidschnucken, die sanften Scottish Blackface, die kleinen lockigen Skudden gedrängt haben. Ich schreite alle Wege ab und suche nach meinem Ohrring. Ich finde ihn nicht. Es tut mir nicht leid.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 03.10.2008, 17:21

Wahre Augenblicke sind stille Reichtümer, wenn auch arm gesät.
So wahrhaftig sind ihre Gründe, dass sie Bäume beben lassen.

Max

Beitragvon Max » 04.10.2008, 23:09

Hamstergeschichten I - Charly

Weil nicht ich die Aufgabe der Zähmung übernommen hatte, war Charly ein zahmer Hamster. Er konnte zwei Kunststücke und hörte gelegentlich sogar auf seinen Namen. Wenn ich morgens "Charly, Frühstück!" rief, kam er an sein Käfiggitter und erwartete ein Joghurtdrop (nur war mir nie klar, ob er denn nun glaubte "Charly" oder "Frühstück" zu heißen). Wir beide bildeten eine WG und ergänzten uns: Er schlief, während ich arbeitete (und umgekehrt), er fraß, was ich nicht verdauen konnte, beispielsweise Stadtpläne - mit Vorlieb die Innenstadt, vielleicht, weil man sie auch anderweitig am besten verwenden konnte, vielleicht auch wegen der hohen Dichte an Schnellrestaurants dort.
Wir verreisten auch gemeinsam - jedenfalls das eine Mal, als Tinas Elten verreist waren, Tina sturmfrei hatte und mich bat, bei ihr zu wohnen. Charly war auch willkommen, doch schärfte mir Tina ein, ihn nicht laufen zu lassen - auf keinen Fall. Das Tier tat mir leid und an dem Abend, an dem Tina zum Volleyballtraining fuhr, überprüfte ich die Wohnküche im Haus, verstopfte jede Ritze und ließ Charly frei. Leider vergaß ich in der Aufregung auch die Küchentür zu schließen und natürlich hatte Charly nichts Dringlicheres zu tun als die Küche zu verlassen. Bevor ich es verhindern konnte, war er mit ins Wohnzimmer von Tinas Eltern gerannt (hatte dabei posierlich mit seinem pummeligen Hinterteil gewackelt) und hinter der fünf Meter breiten und zweieinhalb Meter hohen Schrankwand verschwunden.
Ich hockte mich vor das Möbelungetüm und begann mit verlockender Stimme "Charly" zu säuseln. Doch der Hamster ließ sich nicht blicken. "Charly", rief ich immer wieder, "Charly!". Aber vermutlich hatte er sich überlegt, doch lieber auf "Frühstück" zu hören, jedenfalls blieb er verschwunden. Dafür war von hinter der Schrankwand ein verdächtiges Scharren und Schaben zu hören, das darauf schließen ließ, dass Charly inzwischen vom Eichenfurnier kostete (und es ihm nicht schlecht zu munden schien). Ich brachte ein Stück Gurke und hielt es so nah ich konnte an die Öffnung, hinter der mein Wohnungsgenosse vreschwunden war. Aber der war ganz betört vom Duft frisch geknabberten Holzes und ließ sich nicht erweichen. Auch Joghurtdrops halfen nicht weiter, ich brachte sogar Schokolade. Nichts. Meine Rufe wurden zarter "Chaaaarly, kleiner Charly", lauter, ich brüllte:"Du verdammter Misthamster, komm endlich vor!" Wieder nichts.
Als Tina schließlich nach Hause kam, fand sie mich heißer vor dem Wohnzimmerschrank knieend. Mein Kopf dröhnte. Wer es nicht probiert hat, glaubt nicht, wie dumm man werden kann, wenn man zwei Stunden lang nichts anderes sagt als "Charly, Charly, komm doch!"
Tina ahnte sofort, was geschehen war. Ihre Vorwürfe waren berechtigt. Noch während wir uns stritten, kam Charly vor, mit unschuldigem Blick - er wusste, dass in den nächsten 30 Jahren niemand die Schrankwand abrücken würde, um zu sehen, was er zerstört hatte. Ich stürzte mich auf ihn und steckte ihn in seinen Käfig. Auch er trug Schuld und sollt meine Verachtung spüren. Charly war fortan im Hause von Tinas Eltern nicht mehr gern gesehen. Ich erst ein Jahr später.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 09.10.2008, 00:39

Lord Nelson

Ich hatte fünf Hamster. Der erste war ein riesiger Goldhamster, so groß wie eine vollgefressene Ratte. Er hatte so etwas Würdevolles an sich, vor allem, wenn er sich aufrichtete. Ich nannte ihn Lord Nelson. Er rüttelte so lange an der Käfigtür, bis ich ihn frei herumlaufen ließ. Katze Mira leckte sich das Mäulchen.
Der zweite Hamster war ziemlich winzig. Ich nannte ihn Lord Nelson, der Zweite, in der Hoffnung, dass er so groß werden würde wie sein Vorgänger. Er blieb aber winzig, so winzig, dass er eines Tages durch die Gitterstäbe abhaute und nie wieder gesehen wurde.
Der dritte Hamster sah eigentlich aus wie ein zu klein geratenes Meerschweinchen. Ich nannte ihn Lord Nelson, der Dritte. Er war recht eigenwillig, was da Futter betraf, mochte keine Mohrrüben, keine Äpfel. Eines Tages, als er in der Küche herumlief, fraß er aus dem Katzennapf. Darmverschluss.
Der vierte Hamster war ein Albino. Ich nannte ihn Lord Nelson, der Vierte. Seine roten Augen sahen in der Nacht richtig gruselig aus. Er konnte sich so platt wie ein Pfannkuchen hinlegen und kam unter jeder Tür, jeden Schlitz durch. Die letzte Tür führte ihn ins Badezimmer, das gerade aufgrund eines Wasserrohrbruchs unter Wasser stand.
Der fünfte Hamster sollte ein Goldhamster sein, erwies sich aber als Zwerghamster. Ich nannte ihn Lord Nelson, der Fünfte. Er war von sehr lebendiger Natur und blitzschnell. Er konnte ziemlich hoch springen. Tagsüber unternahm er Wanderungen durch alle Zimmer. Einmal sprang er vom Käfigdach auf meinen Schreibtisch und von dort auf den Fenstersims, mitten ins dichte Efeu, das alle Wände unseres Haus umrankte und verschwand.
Danach kaufte ich mir einen Wellensittich. Am ersten Tag seiner Ankunft, fauchte ihn Katze Mira derart heftig an, dass er einen Herzinfarkt erlitt und nie einen Namen von mir erhielt.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5728
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 09.10.2008, 01:05

Jede Woche sehe ich mir im Fernsehen den Maler an. Er hat eine halbe Stunde Sendezeit und malt in dieser Zeit ein komplettes Bild. Zu Beginn der Sendung präsentiert er seine Palette mit den dick aufgespachtelten Farbvorräten. Die vorgrundierte Leinwand. Er erklärt alles ganz genau, aber da er Englisch spricht und obendrein sehr gedämpft, verstehe ich nicht viel.
Allerdings geht es von Mal zu Mal besser.
Er sieht aus wie 45, schlank, mit borstigem Haar. Auf der Handfläche hat er zwei winzige graue Eichhörnchen. Er zeigt sie zu Beginn der Sendung, versenkt sie in der Brusttasche seines Hemds und nimmt die Palette zur Hand, erklärt die Farben und die Leinwand. Die Brusttasche beult sich aus. Er bürstet Himmel und Wasser auf die Leinwand und fragt zwischendurch in Richtung der Tasche: "You're allright, little guys?" Innerhalb einer halben Stunde entsteht ein Berggipfel mit Gletscher, ein bewaldetes Seeufer, ein Riesenbaum links, ein kleinerer Baum daneben. "This big tree needs a friend. You're allright, little guys?" Im Rekordtempo ist der See eine durchsichtige Spiegelung, im Vordergrund ein Hohlweg, Gebüsch, auf die Zweigspitzen getupfte Glanzlichter, "that easy. You decide. That easy." Man könnte vieles bemängeln an den Bildern; sie zeigen alle irgendwie das gleiche, "when God made Alaska, he had a good day. You're allright, little guys?" Er spricht beinahe im Flüsterton. Ich muss immer wieder daran denken, dass er längst nicht mehr lebt, seine Sendereihe kaum überlebt hat. In seinem gemurmelten Tonfall, den ruckzuck entstehenden Traumlandschaften, Polarlicht, spiegelndem Eis, dem geflüsterten "God bless you" am Ende versuche ich eine Ahnung zu finden. Aber mein Blick bleibt immer wieder hängen an den beiden Eichhörnchen, die die Hemdtasche ausbeulen.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 16.10.2008, 00:16

Die Fliege

Zwei DVDs habe ich mir von ihm angeschaut, meinem Lehrer für Acrylmalerei. Wie er mit der Farbe spielt. Er tanzt mit ihr und sie mit ihm. Ihm zuzuschauen, ist besser als jeder Kinofilm, ist lebendige Kunst. Und da ist diese Fliege. Im Abspann jeder DVD kommt das Schönste: die Pannen. So lustig, so menschlich. Seit Drehbeginn versuchen zehn Mann eine Fliege zu fangen, doch sie ist schneller, entwischt ihnen. Bei der zweiten Sendung fertigt er ein Stillleben an. Eine Flasche Rotwein, Camenbert und Weintrauben. Mitten in der Arbeit kommt sie angesaust und setzt sich mitten auf die Leinwand. Die Kamera zeichnet weiter auf. Er lacht und sagt: Und jetzt verewige ich unsere Studiofliege, auch wenn es dann kein Stillleben mehr ist. Tatsächlich zeichnet er mit drei Strichen die Fliege über die noch feuchten Weintrauben. Im Abspann lachen alle am Set.
Am nächsten Tag stehe ich vor der Staffelei, lege gerade Karminrot auf, als sich die Fliege auf meine Leinwand setzt.
In seiner nächsten Sendung wird keine Studiofliege mehr herumschwirren.
Und nur ich weiß, warum.

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 21.10.2008, 21:57

als


als ginge man in ein geschäft 'guten tag, ich hätte bitte gerne dieses ufer dort' und bekäme es und triebe unter der sonne ins sterben wie ein verwässerndes boot

als läge man in einem koffer in einer kutsche, für tage, für wochen
wäre schon skelett, wüsste dies bloß nicht
und nur deshalb hielten die knochen beieinander

als ginge man wild auf und ab und spräche zu sich 'ich erkrankte. an einem donnerstag also erkrankte ich' und ließe sich erschöpft in einen sessel fallen

als hörte man immer wieder dieselbe passage eines stückes, um das hier zu schreiben

bis einem kein verwaister vergleich mehr einfällt, der das leere berührt

was nicht ist, kann ja noch werden. solange es nicht ist
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Peter

Beitragvon Peter » 25.10.2008, 03:06

Die Leere als dein Übergang, wo sich am Hang die Stille zeigt.
Was ist es? Das Licht eine Nacht, die Nacht ein Licht?
Wir fuhren immer daran vorüber.
Schienen, unendliche Gebilde aus Schienen.
Dir war kein Schritt erlaubt;
und warst daher umso glücklicher,
als er einmal doch geschah.
Wind, Zuhause, der freie Blick, das weit
reichende Rund der Felder; am Horizont das Ungeschriebene.
Da warst du einmal aufgewacht, und da,
war nicht zuvor die Leere?
(Die Leere... beispiellos.
Sinkender Handel innerer Konjunktur
zu den Null-Toren, Null-Pforten des Null-
Regenbogens deines
jenseitigen Wissens.)
Es gab dich auch dahinter.
Es gab dich dahinter darüber.
War nicht dies immer dein Geheimnis,
das nur die Leere wusste?

Was brauchst du Worte dafür?

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9470
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 25.10.2008, 20:00

und dann geschah es


sie sah sich um, sah nichts. er behielt seine worte für sich
hatte vergessen, wozu. abgehoben, sterngesichtig. menschenlos
war seine leere. das geheimnis...verstehen. was ist noch
wenn wir schweigen. wer ist hinter den worten mit uns
zuhaus

sie sagte "wir" und weil es gerade nacht war, liefen sie durch die straßen, laternen zählen
und lachten miteinander. er war wohl größer als sie, schaute nie herab

eines sommermorgens hagelte es worte, er berührte sie. so leicht fiel ihm das
auf der zunge: schnee. er landete, also war da ein grund. punkte verschmolzen zu flächen
und dann geschah es, dass er schneeflocken sprach

sie schaute auf. sah seine welt...erfüllt. von staunen
ein bogen gespannt. aus der weißen wüste ragten auf: freistehende türen
efeu rankte sich
empor

sie hatte davon erzählt
Zuletzt geändert von Ylvi am 26.10.2008, 08:32, insgesamt 1-mal geändert.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 9 Gäste