Am Nachmittag

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 29.05.2008, 21:49

Am Nachmittag

Am Nachmittag
öffnete ich ein Auge
kurz bevor die Tante
mit dem Kaffee
ins Zimmer kam.

Über ihr sah ich
deutlich VERDIKT
schweben.

Sie schritt,
ja glitt,
heran auf EPIK,
holte Zucker und Sahne
nach, während ich
die dänische Butter-Keks-Dose
öffnete

und wir sprachen
über und von
einer Frau, die
ÄSTHETIK hieß,
sehr heiß, mit je
einem halben Keks
im Munde zerkauend.

Ich sagte: 'Abgeliebt.'
Sie sagte: 'Weite Auen.'

Und der Kaffee war gut.

So zerkauten wir jeweils
die zweite Kekshälfte
für uns.

Sie stand auf,
wendete sich zum Gehen.

Ich öffnete ein zweites Auge
und sah die Zukunft
von hinten.

...

Am Abend

Am Abend schaute ich
mit beiden Augen
ins entzündete
elektrische Licht.

Das Bild auf dem Vertiko
wider mir und ihrer
Sprache
zeigte die Tante mit dem Onkel
schwarzweiß
in früher Zeit
so festgehalten
im Silberrahmen.

Und ich entnahm noch einen Keks,
bevor ich schrie,
wieder, wieder
unverhallt in mir.

Der Onkel
hing an der Hausecke
über einer alten Badewanne
in die seine entbehrlichen
Flüßigkeiten tropften,
und ich schrie damals, bis heute.

Schrie über dieses, das Seine,
über das Sein
und die Trockenheit,
die, den kargen Plunder,
die Gewänder
dieser Frau.

Mit einer Handtasche
und einer Keksdose
war meine Flucht.
Zuletzt geändert von moshe.c am 03.06.2008, 21:56, insgesamt 4-mal geändert.

aram
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Beitragvon aram » 29.05.2008, 22:32

lieber moshe,

ein text, der mich sofort sehr anspricht.
ich mag die ungekünstelte, schlanke sprache, wie du 'erzählst', wie viel raum das gibt und wie dicht es gleichzeitig ist.

diese passagen begeistern mich richtig:

Über ihr sah ich / deutlich VERDIKT / schweben. // Sie schritt, / ja glitt, / heran auf EPIK, / holte Zucker und Sahne / nach, während ich / die dänische Butter-Keks-Dose / öffnete

und

und wir sprachen / über und von / einer Frau, die / ÄSTHETIK hieß, / sehr heiß, mit jeh / einem halben Keks / im Munde zerkauend. // Ich sagte: 'Abgeliebt.' / Sie sagte: 'Weite Auen.' // Und der Kaffee war gut.

"jeh" mit h ist gewollt, nehme ich an. bei "über und von einer frau" bin ich mir nicht so sicher - sie sprachen über einer frau, oberhalb von ihr?

sehr gern gelesen - ein wahrer, im bekannten staunender, im schmerz vergüglicher, leichter und tragender text.

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leonie
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Beitragvon leonie » 29.05.2008, 23:02

Ha, aram, ich habe Dich bei Deinem zweiten Tippfehler erwischt!

vergüglicher


(Weiter so, das weist ja auch auf eine gewisse "Entwicklung" hin...

Moshe, ich finde den Text witzig, für mich hat er etwas Absurdes, weil er diese merkwürdige Begegnung in eine Alltagssituation mit dänischen Keksen (ich sehe die Dose vor mir) transportiert.

Liebe Grüße

leonie

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 30.05.2008, 18:21

Hallo!

Danke für die WahrNehmung.

(Jeh ohne H ist klar und ansonsten sprachen sie nicht über einer Frau, sondern über eine Frau und von ihr.)

So ganz lustig ist das nicht und auch nicht so leicht.
Das lies sich natürlich in der Tragweite aus dem ersten Teil nicht lesen.
Die Atmosphäre und die Umstände verbergen jedoch erstmal, wie oft in solchen Situationen, Umstände, die man vielleicht ahnen kann, aber nicht weiß.
Deshalb nun die Fortsetzung. (siehe oben.)

MlG

Moshe

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 31.05.2008, 20:39

Lieber moshe,

hier gehts mir wie aram - das finde ich unheimlich leicht geschrieben, obwohl man das Tragische raushört, es ist locker komponiert, man spürt die intuitive aber nicht willkürliche Federführung - wenn dir das so gelingt von Anfang bis Ende ist das die große Stärke deines Schreibens - zumal es sich aus dem Psychologischen heraus schreibt, aber nicht in dessen Grenzen verharrt. Das gefällt mir sehr. Es ist wie ein zwei Stundenfilm - so ergiebig und farbig.

liebe Grüße,
Lisa

PS: Das würde ich gern mal von dir gelesen hören - hier würde ich selbst gern mal wieder Lust haben, wenn ich nicht im Magisterarbeitsstress wäre...
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 31.05.2008, 20:55

Bevor ich etwas weiter schreibe, wünsche ich dir die Freiheit nach der Magisterarbeit von ganzem Herzen.

MlG

Moshe

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 31.05.2008, 20:59

na da wünschen sich ja schon mal zwei dasselbe .-)

dankeschön..

Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 01.06.2008, 18:52

Hallo!

Ich bin froh, daß mein Versuch, mich am Bildhaften zu orientieren, so gut verstanden wird.

Leider ist mit Lesungen von mir derzeit nicht zu rechnen. Zwar schreibe ich keine Magisterarbeit, aber immer mehr pocht es an meine Tür, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

MlG

Moshe

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 03.06.2008, 21:55

Habe im zweiten Text in der ersten Strophe geändert von

'entzündete
das elektrische Licht'

in

'ins entzündete
elektrische Licht'

MlG

Moshe

Orit

Beitragvon Orit » 08.06.2008, 18:26

Lieber Moshe!
Was diese Gedichte ausmacht, ist, Unaussprechliches in Wort und unverwechselbare Athmosphäre zu bringen. Gäbe es nicht solche Frauen, du hättest sie dir für zwei Gedichte nicht ausdenken können!

Es gibt Realitäten, solch eine ist meine Tante, für die es sich nicht lohnt, beide Augen zu öffnen. Ich mache Witze, aber muß doch ehrlich gestehen: Es gibt Realitäten, die sich nur mit einem Auge ertragen lassen. Solch eine ist meine Tante, die sich schon geräuschvoll nähert.
Viele andere Nachmittage gingen diesem schon voraus. Beliebig austauschbar, da alle sehr ähnlich in ihrem Ausdruck sind, wenn die Tante mit dem Kaffee das Zimmer betritt.
So unabänderlich sie selbst erscheint (wobei schon ein Gedanke an sie über den Rand des Erträglichen reicht), ist auch ihr Anspruch: Das Maß aller Dinge, die Instanz für Recht und Moral zu sein. Denn sehr belesen ist sie. Nutzt dazu intensiv die Zeit unter der Trockenhaube wöchentlich beim Friseur und in den Warteräumen der Doktoren. Hält auf Stil und Kultur, was sie dafür hält. Ihre Großzügigkeit reicht für Butterkekse.
Nichts und Niemand hat Bestand vor ihren Augen. Nicht die Lehmann und nicht die Müller. Die wieder mal unter ihrem Skalpell seziert werden. Da die Tante so dick aufträgt, erübrigt sich eine Sahnetorte.
Auch mit bester Absicht erkenne ich kein Gefühl von Wärme und Nähe zu ihren zweibeinigen Artgenossen. Sondern diese bieten ihr ein unendliches Feld, ihre schnell schwellenden Giftdrüsen wieder und wieder zu entleeren.
Das Gute an diesen Kaffeekränzchen ist, daß sie ein Ende haben. Was mir die Kraft gibt, das zweite Auge zu öffnen, um den Blick auf ihr Hinterteil zu heften und begierig den Bewegungen ihrer Hacken zu folgen, wenn sie zur Wohnungstür schreitet.
Aber überlasse ich nicht dieser Sorte von Tanten die Zukunft, wenn ich selbst schlaff und wie erschlagen auf dem Sofa zurückbleibe? Und sich die Augen wieder und wieder entzünden an dieser Realität, die dann am Abend schmerzen nicht nur vom elektrischen Licht (warum ich nicht einen Elektriker bestelle, der die Schalter gegen Dimmer auswechselt, verstehe ich selbst nicht).
Erinnerungen so nostalgisch schön und verlogen, die jeden Abend versuchen, auszubrechen aus dem Silberrahmen. Nach einer Sprache suchen, nach Worten ringen. Im Vakuum meiner Gehirnwindungen tonlos bleiben.
Abend für Abend ist das Zimmer gefüllt mit meinen stummen Schreien. Wenn der Onkel hängt am Leuchter mit dem elektrischen Licht und seine entbehrlichen Flüssigkeiten in die leeren Kaffeetassen tropfen.
Am Nachmittag kommt wieder die Tante mit sauberen Kaffeetassen ins Zimmer. Und bestimmt weiter meine Zukunft, so lange die Vergangenheit im Silberrahmen bleibt. Und sich meine Welt weiter um Handtasche und Keksdose dreht.

:mrgreen: Orit

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.06.2008, 19:42

Liebe Orit,

mit Genuss habe ich deinen Kommentar gelesen! Und du hast mir dadurch einen wunderbaren Zugang zu deinem Gedicht, lieber Moshe, geschenkt.
Alles ist jetzt so echt für mich, das "kleine Drama", das sich hier abspielt und vor meinen Augen einen Film entstehen lässt.
Klasse!
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 08.06.2008, 22:54

Liebe orit,

eben habe ich fasziniert deinen Kommentar gelesen. Wunderbar. Daraus könnte man doch eine schöne Kombination machen. Moshe schreibt ein Gedicht und du ein ausführliches Prosatheaterstück dazu?

Sehr gern gelesen.

Lieben Gruß
ELsa
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