Konzept

eldora

Beitragvon eldora » 29.11.2006, 10:32

Konzept

Als ich damals so stand, saß oder einfach wahr war, eine Ansammlung molekularer Massen in der Zwischenwelt, im Niemandsland, und die Schöpfung um mich, da hatte ich geliebäugelt mit dem Dasein in einem wie auch immer gearteten Körper, wobei ich nicht weiß, ob das alles so ganz mit rechten Dingen zuging. Ich hätte auch ein Tier werden können, ein Insekt oder eine Spinne - vielleicht aus der Unterordnung Mesothelae?

Ich sah kreative Geister, Seelen wie ich waren sie, versteckt in Körpern, mit Verstand, den sie gebrauchten zum Schreinern, Malen, Bildhauern, Häuserbauen; ich konnte Gärtner beobachten und... ich wollte dabei sein.
Mein Blick war auf die Welt und die Menschen fixiert und gefühlt, ohne zu richten, habe ich kurzum: ein Sehnen nach dieser Form gespürt.
Welchen Verlauf alles nahm, wer mich zu zeugen und zu gebären auserwählt wurde, wie ich körperlich und geistig heranwuchs, das alles ist nebensächlich. Mein Dasein in einer hochzivilisierten Welt – nein, Gesellschaft, hat sich als eine Vielzahl von Maschen und Mustern ergeben.

Ich stricke leidenschaftlich gern, und das seit mehr als zehn Jahren. Von Schlauch- über Netz- und Gitter- bis hin zum Kreuzpatent, Perl-, Reiskorn, Ziegelmuster: die Stricknadeln klappern unentwegt und immerzu. Okay, dann, wenn ich nicht arbeiten muss. Wenn niemand hinsieht, surfe ich auf der Arbeit im Internet nach neuen Strickmoden. Feierabends habe ich schon eine Fülle von Gedanken und Vorstellungen, wie mein nächstes Strickmuster aussieht, wie es mir gefällt, wie es wirkt. Auf dem Weg heim komme ich nicht an Wollgeschäften vorbei – ich muss hinein und schauen, meist kaufe ich ein bis zwei Pfund Wolle, Baum-, Schafs- oder Mohair-, manches Mal auch Mischwolle, um Abwechslung in meiner Wollschublade zu wissen. Die Farben sind mir dabei allerdings egal. Sie waren schon immer Nebensache.

Stricknadeln verschiedener Stärke führe ich generell in meiner Handtasche mit mir. Oft kommt es vor, dass ich nicht warten kann, bis ich zu Hause bin, sondern einfach losstricken muss – irgendwo, auch mal in einer Kneipe am Fenster. Mehrere Dutzend Schals warten noch auf zu wärmende Hälse. Wenn ich aus einem Wollrest ein gutes Stück gestrickt habe und die mitgeführte Wolle verbraucht ist, ribble ich alles wieder auf, wickle sie liebevoll zu einem neuen, kugelrunden Knäuel und beginne von vorn. Das übt. Und ich liebe kugelrunde Knäuel. Oft gehe ich erst nach Mitternacht heim, von wo auch immer. Meine Familie schläft dann schon. Das ist besser so, denn ich mag nicht abgelenkt werden von meiner Handarbeit, und ich hasse Rechtfertigungen. Erich und Sebastian, mein Mann und mein Sohn, waren noch nie wirklich begeistert von meiner Leidenschaft. Sebastian hätte gern, dass ich mal wieder sein Lieblingsgericht koche: Rouladen in Pilzsauce mit Salzkartoffeln und Rotkohl. Erich hätte wohl vor allem gern mal wieder Sex. Aber ich bin für mich da, für mich allein auf der Welt, war es von Anfang an. Ich lege keinen Wert mehr auf Menschen um mich, außer – sie würden ebenfalls stricken.

Schließlich hätte es ja durchaus mal passieren können, dass ich eines Tages etwas fertigstelle. Mein größter Wunsch wäre gewesen, einmal einen richtigen Pullover für Erich hergestellt zu haben, den er auch anzieht, auf den er stolz ist – naja, auf den zuallererst natürlich ich stolz hätte sein können, da will ich ehrlich sein. Ja. Einen schicken, außergewöhnlichen Pullover mit V-Ausschnitt und Zopfmuster, an den Schultern beginnend und die Ärmel entlang, abschließend mit breiten zweirechts-zweilinks-Manschetten zum Umschlagen. Darunter hätte er eines seiner guten Boss-Hemden tragen können. Jeder hätte diesen Pullover gesehen, den von mir gestrickten Pullover. Aber das alles ist Wollfaser von gestern. Heute Nacht ist es passiert, einfach passiert: Ich habe mich verheddert.

Ein Knoten in der Wolle hat mir alles zunichte gemacht. Ich bin wehrlos gegen diesen Knoten. Und was das für einer ist! Kein einfacher, nein, sicher 250 Gramm wiederaufgerollter Wolle hat sich streckenweise dermaßen ineinander verschlungen, dass es mir unmöglich ist, diesen Teil einfach hinauszuschneiden und wegzuwerfen, als Reihenbeginn 2 Fäden zu lassen, die ich unbemerkt beim Zusammenfügen der Vor- und Rückseite hätte vernähen können. Es ist zuviel Material, die Manschetten würden dabei draufgehen.

Ich habe mir aus Verzweiflung ein paar doppelte Wodka bestellt, und das ist gut so – die Bedienung schien verständig, sie hatte vielleicht eine Ahnung von meinem Zustand. Es ist halb vier Uhr morgens, Feierabend, der Wirt hat mich gebeten zu gehen. Und ich tappe im Dunkeln. Ich werde nicht mehr heim gehen, nicht zu meiner Familie. Die verhedderte Wolle ruht in meiner Handtasche. Ach nein, sie ruht nicht, genausowenig wie ich. Sie brennt, sie lacht mich aus, verhöhnt mich, sie zeigt mir einen Vogel, sie beschämt mich.
Alles ist vertan, vorbei.
Ich habe versagt, und die Wolle, das Stricken, meine Passion, meine Berufung, ist mir zum Verhängnis geworden. Das nennt man also 'Tücke des Objekts', klingt noch mein letztes Fünkchen Kraft in mir nach. Um zu erlischen. Ich will zurück, nur zurück. Keinen Körper mehr haben, kein Gesicht, keine Gestalt. Ich suche meine Stricknadeln, in der Dunkelheit wühle ich, die Handtasche offen auf nassem Asphalt und ich vor ihr knieend, durch alle bekannten Utensilien, bis ich sie habe. Endlich. Sie sind mein Schicksal, diese Nadeln, Sie werden es bleiben. Ich sehe sie ein letztes Mal an, denke an die Möglichkeiten, die ich vertan habe. Ich berühre erst probeweise sacht mit der Spitze mein wundes Manipura-Chakra. Sie werden mich erlösen, meine Nadeln. Auf sie ist Verlass. Sie waren schon immer meine Waffen gegen das, was Dasein heißt.

Peter

Beitragvon Peter » 29.11.2006, 12:16

Hallo eldora,

von der Anlage her finde ich diesen Text großartig - phantastisch, ironisch, verzweifelt. Er ist phantastisch zu Beginn: Wir sehen das lyrische Ich als eine Ansammlung von Molekülen, welche Form sein will, und er ist ironisch gleich darauf, in jenem ganz wunderbaren Bruch: "Mein Dasein..., nein, Gesellschaft (!), hat sich als eine Vielzahl von Maschen und Mustern ergeben. /Bruch:/ Ich stricke leidenschaftlich gern..."

So etwas zu lesen, nimmt mir fast den Atem, weil plötzlich ein vorheriger Aufbau zur Metapher umgerissen wird, eine Ebene, und mich schwindelt noch, aufersteht in neuem Bild. - In den Begriffen, die ich vom Schreiben habe, halte ich dies für eine große Kunst.

Und er ist verzweifelt, der Text, das muss glaube ich nicht näher erläutert werden: Denn die Hoffnung war ja groß, zu Beginn, es lockte das Versprechen der Form, aber was heißt diese dann im Dasein: letztlich doch nur der Knoten. (So verstehe ich es jedenfalls.)

Auch gelungen finde ich, dass man trotz des Immer-weiter-Strickens im Text nicht ankommt dahin, zu denken, dass gestrickt wird - sondern man sucht - Das Auge bleibt immer offen - man sucht nach der Bedeutung. Man befindet sich, zweifelsohne, in der Metapher - Und es gelingt dir, diese zu erhalten: Man spürt, während des Lesens, wenn man so sagen kann: den Atem der Metapher, und daher wirkt an keiner Stelle das Stricken banal.

Nur (aber vielleicht Geschmacksache), meinem Lesen nach könntest du -die Maschen der Bedeutung- doch etwas enger führen. Der Pullover, der hier gestrickt wird (sinnbildlich), ist mir an manchen Stellen, für mich, noch zu luftig; die Wärme, oder Dichte des Ganzen, verliert sich ein wenig.

Deshalb finde ich den Text von der Anlage her gelungen, hier und da könnte man (müsste man vielleicht) den Text noch überarbeiten. Mein Blick stolpert manchmal, aber ist wohl im Stricken nicht so geübt wie deiner.

Liebe Grüße,
Peter

eldora

Beitragvon eldora » 30.11.2006, 12:56

Hallo :-)
Freut mich,Peter, DANKESCHÖN! Ich hab keine Ahnung bisher, wie ich die Maschen enger ziehen soll, aber... ich hab ja Zeit ;-)
Alles Andere hast Du sehr gut gesehen, und ich bin froh drüber. Eigentlich geht's mir um Aufgaben allgemein, um Leidenschaften, Besessenheiten, Erfolge, die sich 'Lebensziele' nennen, und ob das alles sinnvoll ist, dieses Streben und sich Identifizieren nach/mit irgendwas. Und was bleibt, was an sich im Leben bleibt. Klar habe ich auch Ansichten 'verbraten', die mir so einfielen, z.B. buddhistische Weisheit von wegen Reinkarnation/Kreislauf - aber da alles hast Du ja sicher entdeckt. Du bist ein aufmerksamer Leser, ich habe Glück gehabt mit 'Dir' :-)).
Danke!
LG
eldora


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