Weltende

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Louisa

Beitragvon Louisa » 27.10.2008, 17:57

Wir haben uns gestern in einem Berliner Literatursalon über verschiedene Weltendegedichte ausgetauscht, deshalb dieser Versuch von mir eine zeitgemäße Apokalypse herzustellen ;-)

Neue Version:


Weil wir sitzen inmitten von Schaufensterpuppen
umwunden von Sprenggürteln und Lichterketten
und weil wir Super-XXL-Big-Macs bunkern,
kann man sich ablenken von der Frage
nach dem Ich, das eine Antwort auf mich...

Russische Frauen auf Parkplätzen mit
bedrohlich breiten Schenkeln
hängen das Geld zum Trocknen auf -
und das Ich, das eine Frage auf die Antwort ist...

Weil die goldene Chinakatze aus einem Totenschädel winkt
und die Puppen sich in die Luft sprengen,
trocknet unser Spiegelbild innen an der Scheibe fest
und das Exploxionslicht durchschimmert die Brust.

Wir haben von der Welt noch nicht einmal
das neuste Update ganz gewusst, aber
so kann man sich ablenken von der Frage…





Alte Version:


Weil wir sitzen inmitten von Schaufensterpuppen
umwunden von Sprenggürteln und Lichterketten
und weil wir Super-XXL-Big-Macs bunkern,
kann man sich ablenken von der Frage
nach dem Ich, das eine Antwort auf mich
und das Ich, das eine Frage auf die Antwort ist.

Weil die Kindertränen nicht zerrinnen
werden wir den Altersanfang nirgends finden,
russische Frauen auf Parkplätzen mit
bedrohlich breiten Schenkeln
hängen das Geld zum Trocknen auf

und können uns ablenken von der Frage
nach dem Ich, das auf diesem Jahrmarkt
seine Zeit in der Lostrommel sucht, das eine
Antwort auf mich und eine Frage auf die Antwort ist.

Weil die goldene Chinakatze aus einem Totenschädel winkt
und die Puppen sich in die Luft sprengen,
trocknet unser Spiegelbild innen an der Scheibe fest
und das Exploxionslicht durchschimmert die Brust.
Wir haben von der Welt noch nicht einmal
das neuste Update ganz gewusst, aber
so kann man sich ablenken von der Frage…







Änderungen:

1. Zeile 2 vorher: mit Sprenggürteln und Lichterketten umgebunden

2. Zweite Strophe vorher:

Weil die Kindertränen nicht zerrinnen
werden wir den Altersanfang nirgends finden,
nur Russinnen mit bedrohlich breiten Schenkeln
auf Parkplätzen hängen das Geld zum Trocknen auf

3. In der letzten Strophe wurde aus der "Scheibe" die "Innenscheibe"

4. "umwunden VON" und nicht "MIT"
Zuletzt geändert von Louisa am 25.11.2008, 15:30, insgesamt 7-mal geändert.

ecb

Beitragvon ecb » 27.10.2008, 19:03

liebe louisa,
ein bißchen psychedelisch kommt mir diese apokalypse vor ...

"mit Sprenggürteln und Lichterketten umgebunden" geht nicht, glaube ich, da müßte man wohl "mit umgebundenen ..." sagen, oder?

bleibt für mich nur die bange frage, ob es sich um eine apokalypse überhaupt handelt, denn von der ichlosigkeit oder der zweifelhaftigkeit des ichs geht ja eigentlich die welt nicht unter ...

interessant allerdings der sprachliche fluß und die leitmotivische form des textes, mit der scheinbaren wiederholung als mittel, was durchaus funktioniert.

lg eva

Louisa

Beitragvon Louisa » 27.10.2008, 22:48

Danke.

Schau mal wie ich es verändert habe. Du hast Recht. Ich möchte möglichst klangschön formulieren, dass die Puppen so "geschmückt" sind.

Das ist nicht psychodelisch, das ist u.A. die Dekoration in einer Berliner Bar.

Meines Erachtens geht es auch nicht um die Identitätskrise hier und wenn es denn um den Verlust des Ichs ginge, ja gerade dann ginge doch wirklich die Welt unter, denn ein Ich braucht ja eine Welt, auf die es sich beziehen kann und umgekehrt. Wenn es kein Ich gäbe, dann auch keine Welt.

Guten Abend.
l

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.10.2008, 19:05

Liebe Louisa,

was ich an diesem Gedicht besonders mag, ist, dass die Apokalypse ist und nicht, dass sie befürchtet wird, also erst sein wird - wenn man die Modernität eines Apokalypsegedichtes an irgendetwas messen möchte, dann find ich daran. Und am Humor, an der Ironie, dem Abstand, der aber auch nicht so groß sein sollte, dass das lyr. Ich unbeteiligt wirkt (dafür ist die Zeile mit dem Explosionslicht in der Scheibe wichtig) - auch das finde ich hier gelungen. Auch gefallen wir die vielen kräftigen Bilder und die Arbeit mit dem Rhythmus, ich finde das sehr fein!

Kleine Details

- Jahr-markt schriebe ich Jahrmarkt

- mich stört die Dopplung/der Bogenschlag der Puppen, mir scheint, du hast das entweder nicht bemerkt oder die Wiederaufnahme ist nicht gelungen, da man erst zwischen den Puppen sitzt (Menschen als Puppen), am Ende aber sind es Schaufensterpuppen (jedenfalls wirkt es so, als stünde das lyr. Ich da dann VOR einem fenster und säße nicht drinnen?), ich würde das Bild einheitlicher gestalten ..- oder ich versteh es falsch.

- umwunden benutzt man vielleicht eher mit "von" (? = Gefühl, duden liegt gerade zu weit weg :pfeifen: ) (danke für dieses Wortgeschenk, das ist wieder eins von den Worten, wo ich nur seinen Un-Zwilling von aktiv kannte: unumwunden, dass man das auch direkt benutzen kann, da wär ich so nie drauf gekommen, schön! Passt auch zu deiner Sprache.

- eine Rhythmusstelle find ich komisch, nämlich:

Weil die Kindertränen nicht zerrinnen
werden wir den Altersanfang nirgends finden,
nur Russinnen mit bedrohlich breiten Schenkeln
auf Parkplätzen hängen das Geld zum Trocknen auf
und können uns ablenken von der Frage
nach dem Ich, das auf diesem Jahr-Markt

klar, die fette Zeile soll irgendwie doppelt fungieren (für die Zeilen davor und danach), aber ich stocke da doch etwas.


Liebe Strahlegrüße .-)
Lisa

PS: Diese Katzen kenne ich! Soll der Totenkopf das Spiegelbild sein oder war das nur eine tatsächliche Dekoration?
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.10.2008, 19:58

Huhu Lisa!

Vielen Dank für die Pannenhilfe!

Schau mal, wie und was ich nach deinen vorschlägen verändert habe... ist es so feiner?

- Ja, die Katze im Totenkopf gehört zu dieser Deko... Da können wir mal hingehen. Rosenthaler Platz :smile: ...

Guten Abend,
l

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.10.2008, 20:00

PS: Ich wollte auf die JAHRE in Jahrmarkt anspielen...nicht gut?

Und: Ja, am Ende sollen "wir" immer noch neben denselben Puppen sitzen... deshalb jetzt die Innenscheibe.

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Beitragvon Lisa » 02.11.2008, 15:23

Liebe Louisa,

zur Schenkel-Strophe .-) : Ich finde den Umbruch nun etwas komisch, dass da "Schenkeln auf Parkplätzen" abgetrennt ist, hat etwas Skurriles?

Scheibe: Gibt es denn eine Innenscheibe? Du meinst eher die Innenseite der Scheibe? vielleicht "innen an der Scheibe fest"?

Jahrmarkt: Hm, ich finde die Anspielung etwas zu explizit und den formalen Aufwand für diese Anspielung auch etwas zu hoch - danach kommt ja auch gleich der Hinweis auf die Zeit (Zeit in Lostrommel) und der Jahrmarkt ist ja durchaus als Lebensanalogie etabliert..ich würd ihn wohl eher streichen.

Im Duden ist umwunden (hatte doch noch nachgeguckt) nicht zu finden - aber das macht ja nichts, man kann das durchaus, auch wenn es das Wort so nicht geben sollte, als Sprachspiel lesen.

Liebe Grüße,
Lisa
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Louisa

Beitragvon Louisa » 02.11.2008, 18:39

Danke!

Schau mal jetzt ( :smile: ) die russischen Enjambementfrauen, den Jahrmarkt und die "innen an der Scheibe" an...

Ich denke so ist es fein, oui?

Man kann das auch alles als Sprachspiel lesen :pfeifen:

l

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Beitragvon Lisa » 02.11.2008, 18:53

Oui, so finde ich es fein!
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Louisa

Beitragvon Louisa » 02.11.2008, 19:46

:nicken: :hut0047: :essen0001: :spin2:


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