Lorenz

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Thea

Beitragvon Thea » 09.02.2008, 11:42

Lorenz.


Lorenz heiße ich, sagt Lorenz und atmet Rauch in die Luft, der hängen bleibt. Möchtest du auch eine, fragt er und grinst so lange, dass ich seine Zähne zähle. Siebzehn sind es.
Lieber nicht, sag ich.
Da ist doch kaum was drin und sonst ist auch nichts dran an so was, sagt Lorenz.
Ich muss jetzt gehen, sag ich.
Wohin musst du denn gehen, fragt Lorenz.
Bis morgen, sag ich.

Morgen ist immer noch heute. Ich hatte Kleingeld in meiner Manteltasche gefunden, fünfzig Cent. Ich hab einen Kaffee gekauft. Dass ich im Gedächtnis bleibe, hatte ich mir gesagt, und bin dorthin, wo er mich sehen kann. Ich bin an den Brunnen. Lorenz hat leise vor sich hin gestunken.
Hast aber lange gebraucht, den Kaffee zu holen, sagt Lorenz, geht nicht ohne. Er nimmt den Becher mit einer, hält die andere in den Dampf. Außer uns kenn ich hier keinen, sagt Lorenz. Ich auch nicht.
Ich bin erst seit kurzem hier, sagt er.
Ich irgendwie auch, aber das hört Lorenz nicht.

Auf dem Knie hat alles Platz, was er hat. Wenn er zusammenpackt, sind die Finger seine Taschen. Was er nicht verlieren möchte, ruht zusammengekratzt unter den Nägeln. Bis auf den Spiegel. Lorenz hat einen Spiegel, den packt er nicht ein. Der bleibt auf dem Knie und schaut Lorenz an.

Lorenz, sag mal, was machst du so?
Ich bin Schauspieler, sagt er und grinst. Siebzehn sind es.
Und, was spielst du so?
Straßenkind, warte, das ist leicht, ich zeigs dir. Lorenz zieht einen Schuh aus, legt ihn vor sich auf die Pflastersteine und lehnt sich an den Brunnen. Siehst du, sagt Lorenz, ganz leicht.

Ich war mal in Italien, sagt Lorenz. Da hab ich nur Sonntags gearbeitet, nach der Kirche. Die restliche Woche hatte ich frei, da wollten die Leute keine Straßenkinder sehen. Unter der Woche war ich Opernsänger. Ich kann nämlich italienische Opern singen.
Du sprichst also italienisch, sag ich.
Nein, nein, sagt Lorenz, ich kann italienische Opern.
Ich höre gern italienische Opern, sag ich.
Ich sing dann für dich, sagt Lorenz. Ich brauch nur was zum warm werden. Dazu tanzen kann ich auch, siehst du?

Es schmeckt bitter und macht warm. Lorenz und ich teilen. Er schummelt, er saugt so fest, dass ich es ihm nicht abnehmen kann und er länger was davon hat. Er behauptet das selbe über mich und grinst. Der Brunnen fließt auch nachts, im Kreis rennen wir, weil wir teilen wollen; er hinter mir her, ich hinter ihm her. Wir wetten, wer zuerst hinfällt. Lorenz gewinnt.

Bist du hingefallen, fragt er.
Es tut kaum weh, sag ich, Blut schmeckt mir.
Lorenz grinst, fünfzehn sind es.
Bist du hingefallen, frag ich.
Es tut kaum weh, sagt er, Blut schmeckt mir.
Ich grinse.

Die Pflastersteine ziehen am Rücken. Mit beiden Händen muss ich mich von ihnen hoch drücken. Meine Manteltasche würde mir gerne fünfzig Cent geben. In zwei Stunden werden die Omis mit ihren Wägelchen vorbeizittern. Die entschuldigen leichter und haben vielleicht was. Lorenz zählt die kaputten Räder am Wägelchen, die sich um ihre eigene Achse drehen, von den funktionierenden mitgezogen. an jedem Pflasterstein stoßen die an. Ich frage keine mit kaputten Rädern, sagt Lorenz, es gibt genug Omis, deren Wägelchen vier funktionierende Räder haben. Mit kaputten fragen, das tu ich nicht.
Was tust du denn?
Ich bin Schauspieler, sagt er.
Lorenz, sag mal, wie lange willst du Schauspieler sein?
So lange ich will, sagt er.
Und wann kriegst du eine andere Rolle?
Wenn keine Straßenkinder mehr gefragt sind, ist doch klar. Lorenz grinst. Fünfzehn sind es.
Lorenz, es sind doch keine mehr gefragt.
Doch, doch, du hast mich doch grad gefragt.
Er fragt keine Omis mit kaputten Rädern und keine Omi fragt ihn. Ihm bleiben die Stunden. Die Stunden faltet er wie Geldscheine und steckt sie ein.

Das Geld ist zwischen die Pflastersteine gerollt. Er kniet. Ich kriegs da nicht raus, sagt Lorenz, die Finger sind zu dick. Meine Manteltasche schweigt. Einen Knopf hat sie verloren. Den letzten.

Lorenz hat keinen Platz mehr unter den Nägeln, sie wachsen zu langsam.
Pack doch in den Mantel, was du nicht verlieren willst, sag ich.
Das geht nicht, sagt Lorenz, der ist unterm Hintern, sonst ziehen die Pflastersteine an mir. Lorenz legt seine Sachen aufs Knie. Er muss Platz machen für den Schmerz. Unter den Nägeln schiebt er ihn, von dort blickt er schwarz nach oben. Damit Lorenz nicht dorthin sieht, schaut er in den Spiegel. Es ist wie rückwärts in ein Gemälde spazieren.

Wenn es dunkel wird, presst er die Lippen zusammen, sie verschwinden im Bart. Seine Haare lässt er die Augen verdecken, seine Nacht sieht er schattiger. Wenn es hell wird, legt Lorenz den Kopf in den Nacken, die Strähnen gleiten an den Schläfen entlang. Lorenz wartet, dass die Fensterläden aufgestoßen werden. Mit dem rechten Arm macht sie das, jeden Morgen. Sie beugt sich aus dem Fenster und klappt die Läden zur Seite, mit dem rechten Arm. An dem trägt sie was, das Strahlen einfängt und herunterwirft, zum Brunnen hin. Dann lacht sie, weil Lorenz einen Spiegel hat, der zurückblinzelt. Dann grinst Lorenz.
Am Abend höre ich Lorenz an Morgen denken.

Sie hat einen hübschen Arm, sagt Lorenz. Ich verstehe und der Himmel ist Eischnee. Bis zu den Pflastersteinen flockt es. Lorenz steht auf Zehenspitzen, hält den Mund auf und die Augen zu.

Lorenz bastelt Papierflieger. Wenn du die Flügel doppelt knickst, sagt er, dann fliegt der auch gegen den Wind bis zu nem Fensterladen, dort bleibt er mit der Spitze hängen.
Es gibt diesen Film, sag ich, da haben zwei Männer nachts den Mond gesprengt. Mit einem Papierflieger, weil der mit der Spitze dagegen ist.
Den Film kenn ich, sagt Lorenz, ganz leicht kann das passieren. Lass das besser mit dem doppelten Knicken. Wer weiß, was passiert, sagt er.

Lorenz, wasch dich, sag ich. Auf den Brunnen kann man leicht hochklettern, die Arme über die Brüstung und Atmen nicht vergessen.
Ich helfe ihm rüber, er hilft mir auch.
Nach Münzen tauchen, das ist eine gute Idee, ich stecke sie in meine Manteltasche. Das Wasser leckt am Bart, zieht mit eisiger Zunge an den Härchen, die sich von der Haut lösen. Er schlägt mit flachen Händen ins Wasser, dass es in meine Augen spritzt. Zur Strafe will ich seinen Kopf untertauchen, Lorenz entwischt.
Es klingt so dumpf, dass es die Sterne verrückt. Lorenz ist mit einem Brunnentier zusammengestoßen. Ins Wasser ist er gefallen, wie in ein Daunenbett. Mich hat vor Schreck die Kälte umarmt.
Warm werden, das ist eine gute Idee, sagt er, den Kopf aus dem Wasser gehoben, an Sandstein gelehnt, seine Stirnfalten ein Delta. Ist noch was da, was trockenes aber, fragt Lorenz.
Nur feucht und geruchlos, sag ich, genau wie wir.

Über die Stadt ist eine graue Kapuze gezogen. Der Atem hängt lange in der Luft. Am Morgen beugt sie sich nicht aus dem Fenster. Mit dem rechten Arm zieht sie den Vorhang vor. Lorenz neigt sein Kinn, dass ihm die Lider wie einer Puppe zufallen.

Ich brauche einen Kaffee, sagt Lorenz, geht nicht ohne. Der Bart ist lang genug die Lippen zu verdecken, wenn er grinst. Lang genug, die Zähne zu verdecken. Ist lang genug, dass ich nicht wissen könnte, ob er grinst oder die Lippen zusammen presst, wenn ich es nicht wüsste.
Wer zuerst ruft, hat gewonnen, sagt Lorenz, wer zuletzt ruft, der holt Kaffee. Lorenz gewinnt.

Die roten Finger passen nicht zwischen die Pflastersteine, dort sind die Münzen aus dem Brunnen hingerollt, gestern Nacht, wie Sterntaler, als ich den Mantel trocknen wollte.

Ich bin noch immer nass. Das Wasser ist durch die Poren unter die Haut gesickert. Dort wohnt jetzt ein zweiter Brunnen und leckt an den Knochen. Lorenz hält das Ohr den Pflastersteinen entgegen, als würde er sie flüstern hören. Ich höre es auch. Es sind Tropfen im Ohr, die fließen nicht hinaus, sondern drehen ihre Kreise zu einem dumpfen Ton.
Ich wusste nicht, sagt er, mein Ohr ist so groß, da kann man sich verlieren.

Die Haut verliere ich auf der Straße, sie blättert ab, wenn ich über sie streiche, ich sag ihm nichts davon. Er wundert sich über die Farbe des Schnees.

Lorenz Härchen sind taubes Schilf, das wächst auf seinen Wangen, die hängen wie Staubfänger von den Knochen herunter. Juckt bestimmt. Mich juckt es. Es juckt so, dass ich Platz unter meinen Nägeln schaffe, nehme den Schmerz dorthin, von dort blickt er mich schwarz an.

Heute ist das Wasser gefroren. Es hat kaum weh getan. Von innen hat es sich an meine Haut gesaugt. Ich warte darauf, dass sie zerspringt, wie Glas. Mein Spiegel hat schon einen Sprung.




[align=right]veränderungen: einige wiederholungen von
"lorenz grinst, siebzehn sind es" sind draußen
ansonsten sind die änderungen entsprechend sams kommentar
(danke dafür, sam)[/align]
Zuletzt geändert von Thea am 11.03.2008, 18:07, insgesamt 6-mal geändert.

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Beitragvon Elsa » 09.02.2008, 12:52

Liebe Thea,

Ich erinnere mich bei deinem Text gern an "Les amants du Pont Neuf", obwohl das schon anders war, aber von derselben Dichte.

Wirklich schön, ich bin ganz versunken in der Geschichte. Herzblutend ohne irgendeinen Kitsch. Zart, so zart.
Gute Idee, dass er alles, was er hat, unter die Nägel packt.


Einzig zuviel finde ich die zuvielen Wiederholungen der Zahnzählerei. Ich würd es etwas reduzieren.
Du hast ab und zu am Satzbeginn keinen Großbuchstaben.
Kaffee fehlt ein "e" im 6. Absatz von unten.

Lieben Gruß
ELsa
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Nicole

Beitragvon Nicole » 09.02.2008, 13:14

Hi Thea,

ich glaube, bei der Zähne Zählerei hast Du dich einmal vertan. Erst hat Lorenz 17, dann verliert er zwei, hat also 15. Die erwähnst Du dann, glaube ich, noch mindestens einmal. Danach sind es aber plötzlich wieder 17.
Oder ist das Absicht?!?

Gruß, Nicole

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.02.2008, 11:10

Hallo Thea,

das hat mich gleich an "Regentage" erinnert. Wieder diese Mischung aus Sätzen, Gedanken, Szenen, die mich in ihrer Bildhaftigkeit begeistern und auch wieder dieses verwirrende, dass ich nicht recht weiß, was mir die Geschichte eigentlich erzählt. Es ist eine befremdliche Welt, die faszinierend anzuschauen ist, aber mir scheint der emotionale Schlüssel zum Verständnis zu fehlen. Seltsamerweise stört mich das hier nicht.

Das habe ich sehr gern gelesen.

liebe Grüße smile

Thea

Beitragvon Thea » 14.02.2008, 18:59

Hallo!!

Liebe Elsa, schön, dass es dir gefällt, ich hoffe die dichte erstickt den leser nicht, sondern bettet ihn. danke dir für die hinweise, ich werds versuchen zu reduzieren und den rest änder ich natürlisch.

Liebe Nicole, nein ^^ das war keine absicht, ist mir peinlich, ich hab jedes wort zehnmal umgedreht und die zahlen dabei vergessen...

Liebe smile, mich interessiert dieser "emotionale Schlüssel"; meinst du die schlüssigkeit des charakters oder meinst du ganz einfach das gesamtverständnis oder meinst du den bezug des lesers zum text, dh vllt die zu fremde welt? ich rätsle ein wenig, und es interessiert mich wirklich... denn die figur des lorenz hat eine andere wahrnehmung, als die in regentagen, ihre wirklichkeit ist doppelt und ein wenig verschoben, aber die figur glaubt an diese wahrnehmung.
ich freu mich, dass dir die melodie gefällt, wirklich! ;)

grüßle, Thea

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Beitragvon Ylvi » 15.02.2008, 11:11

Hallo Thea,

also ich denke es ist dein Mut besondere, andere, verwirrende Menschen zu zeigen, die mir fremd sind, in ihrem Denken, ihrem Sein, ihrer Geschichte, mit denen ich mich nicht identifizieren kann und es dir aber gelingt mich durch dein Erzählen, deine Sprache an diese andere Welt heranzuführen, den Blick zu weiten. Ich glaube es ist hier gar nicht so wichtig, dass ich "verstehe" sondern, dass ich überhaupt sehe und zuhöre und das gelingt dir sehr fein. (Beantwortet das deine Frage?)

liebe Grüße smile
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Thea

Beitragvon Thea » 15.02.2008, 13:55

hi smile!

ja ich finde auch, dass das gefüh, welches ein text vermittelt wichtig ist und dass die sätze diesen emotionen dienen und sie zum klingen bringen. deswegen war ich mir nicht sicher ob die bilder und die atmosphäre im text funktioniert, weil du ja grade einen "emotionalen schlüssel" vermisst. das verstehen von verwirrendem sehe ich also auch als zweitrangig und bin nun beruhigt, danke dir für deine worte ;)

greez

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 16.02.2008, 14:43

Hallo Thea,

nein, nein, dem Text fehlt nichts! Vielleicht habe ich da ungenau formuliert. Ich denke Texte sind eher die Türen, der Leser muss den Schlüssel selbst mitbringen, um hineingehen zu können.

liebe Grüße smile
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Klara
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Beitragvon Klara » 16.02.2008, 15:29

Hallo Thea,

das finde ich berührend, manchmal etwas anstrengend zu lesen, dann wieder Diamanten der behutsamen, poetischen Formulierung, feucht glitzernd, ohne aufdringlich zu sein. Ich mag jetzt aber gar nicht ins Détail gehen.

[dasselbe zusammen? Lorenz' Härchen?]

Smile, du hast da einen hübschen Satz gefunden:
Ich denke Texte sind eher die Türen, der Leser muss den Schlüssel selbst mitbringen, um hineingehen zu können.

Es müsste nur "hindurchgehen" heißen, meinst du nicht? Dann ist er wunderschön. Oder wären Texte die Schlösser, und der Leser müsste den Schlüssel selbst hineinstecken, um hineinzugelangen? Das wäre auch hübsch doppeldeutig Schloss-Schloss. Immernoch bliebe eine Unschärfe wegen des Hineingehens... weil das Wohin nicht geklärt wird... Hm. Trotzdem .-)

Klara

aram
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Beitragvon aram » 16.02.2008, 16:21

hallo thea,

also mir gehts so [toller kommentaranfang, ironie aus], dass ich erst gar nichts dazu schreiben konnte, als ich den text gelesen habe vor paar tagen - weil da, scheinbar unabhängig davon, was erzählt wird, auf eine art erzählt wird, die etwas anspricht, auslöst, das ich nicht so recht benennen kann - sowas wie eine art von heim kommen oder die welt umfassen, etwas das traurigkeit einschließt, aber auch zulassen, ausatmen, ansehen; bejahen und fragen, spielen und sein-lassen.

jedenfalls ist es was seltenes (bei lyrik gings mir vor vielen jahren - nicht so, aber ähnlich im berührt-werden - bei der lektüre in ilse aichingers gedichtband 'verschenkter rat' ~ dort ist es aber zugleich direkter auf die worte und ihre zwischenrtäume beziehbar für mich - oder nicht, weiß nicht)

kann nur sagen dass mich diese art zu erzählen sehr anspricht, dass es an der sichtweise des erzählers liegt, der eigenen art von zuwendung und raum geben+nehmen, die darin zum ausdruck kommt.

sich dingen, menschen zuwenden und sie zugleich dort lassen, wo sie sind, trotzdem spiegel sein und in den spiegel blicken, ohne 'bedeutungsaufladung', ein raum, in dem sich freiheit / unabhängigkeit und intimität gegenseitig bedingen.

etwas derartiges kommt für mich durch den text und die konstellation icherzähler - lorenz zum ausdruck, und es scheint, als machte es kaum unterschied, wenn das erzähl-ich z.b. ein blatt beschriebe -
diese welt geht über die 'bezugsart' auf, nicht das beschriebene. ich schätze diese welt sehr.

Thea

Beitragvon Thea » 18.02.2008, 19:14

hallo ihr lieben!

ja, da klara recht, wenn das wohin nach der tür nicht geklärt ist, wirds problematisch. man könnte die idee den inhalt als tür sehen und die umsetzung und die form als den dreidimensionalen raum, der dem text tiefe verleiht und dem leser erlaubt, in den worten spazieren zu gehen. find ich schön, diesen gedanken der innenarchitektur eines textes.
gut, das dazu.

ich bin ein wenig erleichtert, dass die art gefällt. aram, du schreibst, dass es die welt zu umfassen scheint- mir fällt dazu spontan eine prise buddhismus ein: wenn du die hand fest schließt, wirst du nichts halten, wenn du die hand öffnest berührt dich die ganze welt. vielleicht ist es auch ein wenig mit texten so.

gefreut hat mich diese sequenz. das ist die grundidee von lorenz:
spiegel sein und in den spiegel blicken


grüße

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2008, 13:45

Hallo Thea,

für mich bist du, was Prosa angeht, mit Abstand das größte Talent hier im Salon. Auch dieser Text bestätigt diesen Eindruck. Völlig unverkrampft und mit sicherem, kurzen Pinselstrich zeichnest du Charaktere und Bilder, die haften bleiben, weil sie umgehend lebendig werden. Vielleicht intuitiv oder als Ergebnis harter Arbeit findest du richtigen Worte, die richtige Melodie, die soviel bildhaftes in sich trägt, und ohne all die hilflos wirkenden Beschreibungskrücken auskommt, die weniger talentierte Erzähler immer wieder zu Hilfe nehmen. Deswegen kannst du dir erlauben, bis nahezu an die Schmerzgrenze zu reduzieren, ohne dass dein Text etwas einbüst.

Aber gerade weil du so gut bist, weil du etwas hast, was vielen Prosaschreibern fehlt, ist es ärgerlich, wenn man in einem zugeben auch so sehr guten Text, soviel Nachlässigkeiten und Schludrigkeiten findet, wie in diesem.
Sicher, würde ich die Textstellen anführen, die mich begeistern, wären es noch immer mindest doppelt so viele, als das, was ich bemängele.

Trotzdem (oder gerade deswegen) beschränke ich mich diesmal auf Mäkeln:

Hast aber lange gebraucht, den Kaffee zu holen, sagt Lorenz, geht nicht ohne. Er nimmt den Becher mit einer, hält die andere in den Dampf.

Hier fehlt die Hand.

Es schmeckt bitter und macht warm. Lorenz und ich teilen. Er schummelt, er saugt so fest, dass ich es ihm nicht abnehmen kann und er länger was davon hat. Er behauptet das selbe über mich und grinst.

Hier erschließt sich nicht, an was sie saugen. Weder der Kaffee vorher, noch das Blut nachher scheinen zu passen. Da aber der Text in dieser Hinsicht ansonst konkret wird, fehlt hier etwas. (oder ich habe etwas übersehen)

Bist du hingefallen, fragt er.
Es tut kaum weh, sag ich, Blut schmeckt mir.
Lorenz grinst, fünfzehn sind es.
Bist du hingefallen, frag ich.
Es tut kaum weh, sagt er, Blut schmeckt mir.
Ich grinse. Mir auch.

Das letzte "Mir auch" ist redundant und zerstört die Wiederholungsmelodie dieses Absatzes. Dadurch wirkt er ungelenk. Der Leser denkt automatisch: Das hat sie ja schon gesagt.

Lorenz hat keinen Platz mehr unter den Nägeln, sie wachsen zu langsam.
Pack doch in den Mantel, was du nicht verlieren willst, sag ich.
Das geht nicht, sagt Lorenz, der ist unterm Hintern, sonst ziehen die Pflastersteine an mir. Lorenz legt seine Sachen aufs Knie. Er muss Platz machen für den Schmerz. Unter den Nägeln schiebt er ihn, von dort blickt er schwarz nach oben. Damit Lorenz nicht dorthin sieht, schaut Lorenz in den Spiegel. Es ist wie rückwärts in ein Gemälde spazieren.

Die vielen Lorenz-Wiederholungen geben dem Text einen ganz eigene Melodie. Es ist natürlich ein Gratwanderung, die du, mit Ausnahme dieses Absatzes, sehr gut bewältigst. Das letzte Lorenz ist eindeutig eins zuviel.

Wenn es dunkel wird, presst er die Lippen zusammen, dass sie im Bart verschwinden. Seine Haare lässt er die Augen verdecken, dass er die Nacht schattiger sieht. Wenn es hell wird, legt Lorenz den Kopf in den Nacken, dass die Strähnen an die Schläfen gleiten. Lorenz wartet, dass die Fensterläden aufgestoßen werden.

Mit Abstand die schlimmste Stelle im Text.

Über die Stadt ist eine graue Kapuze gezogen. Der Atem hängt lange in der Luft. Am Morgen beugt sie sich nicht aus dem Fenster. Mit dem rechten Arm zieht sie den Vorhang vor. Am Morgen neigt Lorenz sein Kinn, dass ihm die Lider wie einer Puppe zufallen.

Der Text arbeitet ja bewusst mit Wiederholungen, die sich auch dem Leser erschließen. Z.B., dass die Erzählerin immer nur den rechten Arm benutzt, als wäre der linke gelähmt.
Andere Wiederholungen, wie dieses "Am Morgen" scheinen aber einfach das Ergebnis mangelhafter Textarbeit zu sein.

Wie gesagt, dass sind Kleinigkeiten, angesichts deiner beeindruckenden Erzählfähigkeit. Aber dafür um so ärgerlicher. Sollten die von mir angeführten Stellen alle genau so gewollt und bewusst gewählt sein, nehme ich das mit der Schludrigkeit natürlich wieder zurück und sage, dass du für meinen Geschmack dann das ein oder andere Mal zusehr über die Strenge geschlagen hast.

Trotz allem, bin ich sehr beeindruckt und angetan von deinem Text.

Liebe Grüße

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.02.2008, 14:56

Hallo Sam,

für mich bist du, was Prosa angeht, mit Abstand das größte Talent hier im Salon. Auch dieser Text bestätigt diesen Eindruck. Völlig unverkrampft und mit sicherem, kurzen Pinselstrich zeichnest du Charaktere und Bilder, die haften bleiben, weil sie umgehend lebendig werden. Vielleicht intuitiv oder als Ergebnis harter Arbeit findest du richtigen Worte, die richtige Melodie, die soviel bildhaftes in sich trägt, und ohne all die hilflos wirkenden Beschreibungskrücken auskommst, die weniger talentierte Erzähler immer wieder zu Hilfe nehmen.

Hast du eigentlich den Eindruck, dass positive Resonanz von einem Autor nur dann geschätzt oder wahrgenommen wird, wenn sie vergleichend stattfindet und im gleichen Atemzug alle Anderen herabgesetzt werden?

smile
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Sam

Beitragvon Sam » 19.02.2008, 15:28

Ach smile, warum wundert es mich nicht, so einen Kommentar zu lesen? Welches Problem habt ihr denn verdammt nochmal mit Vergleichen? Ich rede von mir und meinem Eindruck. Und der ist genau so, wie ich geschrieben habe. Wie das die Autorin sieht, ist ihre Sache, das kann ich nicht beeinflussen - wobei Thea einige der wenigen in diesem Forum ist, der ich zutraue auf Dauer wirklich gute Texte zu schreiben, die auch über den Dunstkreis von Internetforen, lokalen Lesegruppen und Eigenverlagsveröffentlichungen wahrgenommen werden. Die meisten hier, und da schließe ich mich selber mit ein, werden das nicht schaffen. Das ist Fakt.
Und wenn es einer Herabsetzung anderer Salonautoren gleichkommt zu sagen, dass ich die Texte jemandes bestimmten für die besten, oder besser halte als andere, ja dann setze ich die anderen halt herab. Damit werden sie entweder leben müssen, oder sie ignorieren meine unmaßgeblichen Äußerungen einfach. Im allerbesten Fall aber schauen sie sich ihre eigenen Texte mal etwas genauer an, um zu sehen, wo denn vielleicht ein Unterschied besteht. Womöglich lauert ja da noch die ein oder andere hilfreiche Selbsterkenntnis, die eigenen Texte betreffend.

Ein alle auf das gleiche Niveau herunter- oder heraufbürstendes Kuschelkommentierverhalten kannst du von mir jedenfalls nicht erwarten.

Liebe Grüße

Sam


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