achten

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.06.2007, 08:25

 
 
achten

sie sind geschwungen
in den höhen leuchten kopfgesteuerte glühwürmchen ein verstehen
tiefer gleiten deine hinunter zu meinen
die sich wie gebirgsbäche durch andere ebenen ziehn
verbunden hat eines unsere kreise
(wir achten)

wenn sich deine nächte aufbiegen, erwarten sie dich
ausgetretene steine stufen geländerlos empor
auf den dachboden in den einsamsten winkel
lässt du die venusmonde dir scheinen
sieh nur, wie sie alle dich umschweben, wie feingehauchter staub
bis die behutsamen (sind da auch meine?) sich legen auf deine haut
du streifst ihren kern
in weiße erde
auch wenn du fern bist, grünen sie mir nah

mich stürmen sie landeinwärts und hinaus aufs meer
sie wurzeln in den wolken und verglühen steine im schnee
flattern mich nach nord und weit
vibrieren die luft im unerhörten bereich
und lassen fledermäuse mit den walen singen
sie fliehen und drängen und eilen
bis sie ruhe finden
um eine mitte
als stünde dort ein anderes (eines von deinen?)

(wir achten umeinander)
senden uns schwärmende marienkäfer
und versenken uns in ihre punkte
können sich blicke durch die schwärze finden?
ich wünschte es wäre so
bezeichnete schleier halten wir solange in den wind
und lassen die aufgezwirbelten enden sehnsucht spielen
ich hab dich – ich hab dich nicht
und in der bewegung ahne ich…was das eine ist
 
 

Peter

Beitragvon Peter » 10.06.2007, 18:01

Liebe Smile,

nur vorerst: Müsste es nicht "achtern" heißen?

Sonst verstehe ich von Anfang an etwas falsch. Wenn ich aber richtig verstehe und es "achtern" heißt (zwei Kreise, die sich aneinander schließen) finde ich die Grundidee schon allein sehr schön.

Peter

aram
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Beitragvon aram » 10.06.2007, 18:12

liebe smile,

diesen text finde ich wunderschön.

(meine lieblingszeile, unter vielen anderen tollen: und lassen fledermäuse mit den walen singen)

auch das ende - fast eine schlusspointe in den letzten worten der letzten zeile, und doch zugleich ganz ans gefühl angeschlossen - finde ich besonders gut gelöst.

grüße
aram

lieber peter - die 'zwei kreise' heißen ja 'achten' - 'achtern' ist hinten am schiff.
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Peter

Beitragvon Peter » 10.06.2007, 18:53

Lieber Aram,

das weißt du natürlich. Ich dachte an "achtern", weil es so in meiner Gegend heißt, man sagt: "Dein Hinterrad achtert : eiert" - scheint aber Umgangssprache.

Liebe Smile,

thematisch gesehen, finde ich das Gedicht sehr stark. Es schafft einen Gedanken, dass zwei Menschen (oder Wesen oder Gedanken) sich verbinden können um eine gemeinsame Mitte, die sie unendlich in Bewegung hält. Das eine bezieht aus dem anderen Schwung - deshalb vielleicht gleich zu Anfang: "sie sind geschwungen", weil es das Wichtigste ist. Dann: die farbigen Bilder, der Nachteindruck, das Sternige. Die Acht steht ja für die Unendlichkeit, und das war auch bald mein Eindruck. Obwohl Naturphänomene beschrieben werden, löst sich das ganze ins Astrale. (Es ist irgendwie dieser romantische Zauber, der mich einfängt, also diese romantische Idee des Bezuges der Dinge: sie beziehen sich innerlich, sie beziehen sich äußerlich, und das bis ins Fernste.)

Am Rhythmus bleibe ich aber hie und da hängen. Ich will die Acht auch als Form! Denn es scheint, dass du sie versuchst. (Es ist ein so großer Versuch, dass ich gar nicht weiß, ob er gelungen ist oder nicht.)

Ich muss nochmal lesen!

Liebe Grüße,
Peter

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.06.2007, 20:47

Hallo Aram,
das freut mich wirklich sehr!


Hallo Peter,
zu den "achtern" hatte Aram ja schon geschrieben. Mir war das "achtern" nicht bekannt.
Ich dachte das "achten" als Bewegung, aber auch im herkömmlichen Sinn (aufeinander achten und den anderen achten), vielleicht ist auch nur so ein gemeinsames möglich.
Es ist irgendwie dieser romantische Zauber, der mich einfängt, also diese romantische Idee des Bezuges der Dinge: sie beziehen sich innerlich, sie beziehen sich äußerlich, und das bis ins Fernste.

das ist schön!
Es geht auch um Worte, ihre (Schrift-)bilder und wie unterschiedlich sie den einzelnen bewegen können. Und doch eines da ist, was sie verbinden kann.
Am Rhythmus bleibe ich aber hie und da hängen. Ich will die Acht auch als Form! Denn es scheint, dass du sie versuchst. (Es ist ein so großer Versuch, dass ich gar nicht weiß, ob er gelungen ist oder nicht.)

Ich habe das Gedicht so oft in mir gehört, dass ich nicht weiß, wo du hängst. Wenn du es mir sagst, versuche ich es zu hören.
Die Acht habe ich gedanklich (auch formal?) am Ende geschlossen.
Ich muss nochmal lesen!

Oh, das ist gut!


liebe Grüße euch beiden

smile

Peter

Beitragvon Peter » 12.06.2007, 15:10

Liebe Smile,

ich hatte ein Rhythmusproblem am Ende der zweiten und dritten Strophe, ich fand die Zeilen zu kurz gesetzt, als dass sie den Schwung weitertrügen. Aber eben diese Stellen sind ja besonders; sie nähern sich der Mitte an, um die es geht: es sind Annäherungen, wie ich finde.

Annäherungen der beiden Nächte -. Soweit ich lese, wird in Strophe zwei die eine Nacht beschreiben, die Nacht des lyr. Du, in Strophe drei wird die Nacht oder vielmehr das Verhalten der Nacht des lyr. Ich beschrieben. "Wenn sich deine Nächte aufbiegen", heißt es, und man fühlt bereits, dass dies ein "Gefäß" bedeutet. Das lyr. Du erfährt eine Aufgehobenheit in der Nacht; die Nächte aber des lyr. Ich stürmen hinaus; sie kommen kopfüber daher, voller Schwindel; sie lassen flattern, vibrieren, sie "zacken" (die Fledermäuse), und beinah überrascht stehen sie vor einer Mitte, da ist etwas, das sie doch festhält, es ist der Schnittpunkt zum anderen Kreis.

Es scheint einerseits das Dynamische, das sich anschließt andrerseits an das Statische. Daraus entsteht diese andere Bewegung, des Achtens, eine Bewegung, die zum einen, denke ich, eine befördernde (künstlerische) hervorbringende ist, andrerseits aber, grundsätzlicher, eine ganz natürliche: denn es scheint das Atmen selbst, was hier beschrieben wird, es ist eigentlich "nur" das Atmen.

Oder ist es ein Liebes-Atmen?

Die beiden Positionen in ihren verschiedenen Welten senden sich Botschaften zu. Der eigentliche Ausdruck jeder dieser Botschaften ist schwarz. Es sind Punkte, deren Sätze man erahnen muss. Sie glühen, vor einem Rot (lese ich). Und das eine und das andere sucht in diesen Punkten. Sie suchen aus dem Schwarz (lese ich) die Nächte zu unterschieden, aus den Nächten den anderen, aus dem anderen seine Augen, aus seinen Augen das Ansehen, und aus dem Ansehen (hin zu einer möglichen Gleiche) die Mitte.

Diese Mitte, scheint mir, wäre das eigentliche Sein. Noch, obwohl so intensiv, halten sich beide in einem "Ungefähren" auf. Es gibt verschiedene Kommunikationen, die im Gedicht beschrieben werden - da ist die astrale des lyr. Ich (die Venusmonde) und da ist der Gesang der Fledermäuse mit den Walen in den Nächten des lyr. Du. Beides sind "arrivierte" Gespräche - wenn man so sagen kann - aber es sind nicht Gespräche, denke ich, die den beiden bereits als Gespräch gelten. Denn sie wollen zu diesem anderen Wort hin, und noch weiter: sie wollen in dieses andere Wort hinein - selbst diese zur Wirklichkeit gewordenen Metaphern sind nicht genug; selbst diese Verwirklichung des eigenen Kreises ist nicht genug: Es muss die Mitte sein.

Die Mitte, denke ich, wäre etwas "Äußeres", es wäre die Wirklichkeit, die dann wirkliche Wirklichkeit... frag mich nicht, wie ich darauf komme... Das Gedicht ist sehr verführerisch.

Liebe Grüße,
Peter

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 12.06.2007, 21:27

Hallo Peter,

das ist so erstaunlich schön gelesen und verstanden und beschrieben, dass es mich ein wenig (sehr) sprachlos macht.
Ganz liebe Grüße und danke für deine Gedanken zu meinem Gedicht.
(Jetzt lese ich nochmal.)

smile

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.06.2007, 11:30

achtung voreinander haben - in phantastischen bildern umgesetzt, wie die achtung um uns menschen leuchtet und voll wärme, voll güte die grenzen der machbaren, der verbindenden nähe und auch die notwendige distanz (achtung) aufzeigt - alles ist ständig in bewegung, und die achtung ist förmlich eine ursprache der natur.
wieder sehr schön in worte gefaßt, smile.

gruß
chiquita

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 16.06.2007, 14:51

Hallo nochmal Chiquita,

freut mich, dass dir auch "achten" gefällt, obwohl es sich einer ganz anderen Sprache bedient.

liebe Grüße smile

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.06.2007, 17:57

wie meinst du das mit der anderen sprache - anders als welche sprache von welchem autor und von welchem gedicht?

gruß
chiquita

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 16.06.2007, 20:01

ich bezog mich auf meine Gedichte (Texte) Zwischenraum und Wörter, zu denen du heute ebenfalls kommentiert hast
smile

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.06.2007, 20:17

oh, ich finde langsam schon, daß ich ein "smile-gedicht" von zb. einem "gerda-gedicht" unterscheiden könnte. aber ich denke, ich weiß, was du meinst, wenn ich das für meine eigene schreibe reflektiere.

schönen abend
chiquita

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.06.2007, 15:04

Liebe smile,

auch so ein text, wo ich Kommentiernachholbedarf habe, weil ich allein den Auftakt so gelungen finde!:

achten

sie sind geschwungen
in den höhen leuchten kopfgesteuerte glühwürmchen ein verstehen


Hui!

Und dieser Eindruck bleibt auch bis zum Ende.

Ich gebe zu, ich würde an einigen Stellen schon noch etwas reduzieren und umstellen ~~ vielleicht so (aber nicht genug Zeit mit verbracht):


achten

sie sind geschwungen
in den höhen leuchten kopfgesteuerte glühwürmchen ein verstehen
tiefer gleiten deine hinunter zu meinen
verbunden hat eines unsere kreise
(wir achten)

wenn sich deine nächte aufbiegen, erwarten sie dich
lässt du die venusmonde dir scheinen
sieh nur, wie sie alle dich umschweben, wie feingehauchter staub
bis die behutsamen (sind da auch meine?) sich legen auf deine haut
du streifst ihren kern in weiße erde

sie wurzeln in den wolken und verglühen steine im schnee
stürmen mich landeinwärts und hinaus aufs meer
flattern mich nach nord und weit
vibrieren die luft im unerhörten bereich
und lassen fledermäuse mit den walen singen
sie fliehen und drängen und eilen
bis sie ruhe finden
um eine mitte
als stünde dort ein anderes (eines von deinen?)

(wir achten umeinander)
senden uns schwärmende marienkäfer
und versenken uns in ihre punkte
können sich blicke durch die schwärze finden?
ich wünschte es wäre so
bezeichnete schleier halten wir solange in den wind
und lassen die aufgezwirbelten enden sehnsucht spielen
ich hab dich – ich hab dich nicht
und in der bewegung ahne ich…was das eine ist




aber eigentlich ist das unerheblich. Der Kern ist da und dem Kern glaube ich und folge ich mit Genuss und Wahrheitsgefühl. Der text ist ruhig ohne Lüge und doch erzählt er von zweien! Das gefällt mir!


Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 18.06.2007, 17:19

Hallo Lisa,
Der text ist ruhig ohne Lüge und doch erzählt er von zweien!

Oh, das ist ein schöner Gedanke dazu.
Deine Veränderungen/ Reduzierungen werde ich mal auf mich wirken lassen.
Vielen Dank für das "Hui".
Liebe Grüße smile


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