Die Lebensbücher : Die Zeit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Peter

Beitragvon Peter » 25.03.2007, 18:26

Die Lebensbücher : Die Zeit
(ein Diagramm)





Im Schlaf blätt’re ich in lebensgroßen Büchern.

Wie ein Kind vertiefe ich mich in die wesentliche Zeichnung.

Allerorten sind alle Dinge bei allen Orten und Dingen zuhaus.

Die Berge gehören den Mitten an, die Mitten den Sternen.

Kommt ein Regen, ist er ein Gast. Er spricht mit den Seen.

Geht jemand auf fernen Wegen, geht er nicht fort.

Auch dort ist Zeichnung und Zeile.

Im Schlaf blätt’re ich in lebensgroßen Büchern.

Wache ich auf, schlagen sie sich zu.

Sie ohrfeigen mich.



*



Ströme, Kleinigkeiten, Einzelheiten,

aus Verlust und Wahn in das Muster getrieben.

Rhythmen, Leeren, reizende Blumen; Ränke,

Rosen – alles beschreibt einen Fall.


Die Zeit – ein Strich, an dem sich die Pore

aufreibt.



*



.Wir gingen im Garten, es war uns nicht schwer

.Es waren kleine Welten : essbare Früchte da

.Bist du der, der schläft im Teich?

.Ich schlief auf der Wolke, sieh!

.Und gestern schlief ich im Gezweig

.Wie tanzen heut wieder die Lichte


.Einsichten

Wie kläglich dagegen

jede Erinnerung.

Jede.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.03.2007, 16:51

Lieber Peter,

das, ist wieder so ein Text, der so schwer für mich in Worte zu fassen ist/anzudeuten ist und zugleich mir so voller bekannter Dinge, dass es mich doch anzieht, es zu versuchen...um die Nähe auszudrücken, die nämlich sehr wohl da ist...

als erstes fiel mir nach den ersten beiden Lesedurchgängen der spannende Untertitel auf...ein Diagramm...ein Diagramm ist ja immer eine bildliche Darstellung...der Text also ist ein Bild ...von Bildern, die sich nicht (mehr) fassen lassen...

das ist sachlich falsch, ich muss dennoch bei deiner Gestaltung in diesem Zussamenhang von "Die Lebensbücher" und "Die Zeit" an Koordinatengrößen denken..als enthielten sie so gesetzt die Spannung für den Zwischenraum, in dem wir uns befinden und befinden können...

Lass mich einzeln aufschnappen...

mir gefällt zu allererst das "lebensgroß", denn wenn wir so in den Träumen/im Schlaf über etwas von uns selbst gebeugt sind, dann erscheint es immer lebensgroß...oder andersherum, nur weil es lebensgroß erscheint, können wir es erahnen...

dann im zweiten Fall einzelne Fälle...Seiten...der fall natürlich auch ein Sturz (in Muster?), die vielen Verweise der Zeilen untereinander, die Bezüge, die Doppeldeutigkeit ohne zwiespältig zu würden und doch "Kampf" zuzugeben (so meine ich ;-))...

Beim Teich muss ich natürlich an arams "mild denken"...

Das Lichte verstehe ich noch nicht...auch das Kursive daran nicht...bezieht es sich auf Einsichten?

Ein ganz starker Vers natürlich auch, als du von der Pore erzählst, die sich an der zeit/einem Strich aufreibt....ich bin jetzt bei dem Bild angekommen...

und wunderbar eigen die Zusammenstellung "Ströme, Kleinigkeiten, Einzelheiten...

Ich weiß nicht, es gibt nicht viele Autoren, deren Texte im Grunde (bitte das im Grunde beachten) immer sehr gleich sind und doch auch zugleich immer reizvoll...da fällt mir nur einer ein...und du.

Du erzählst nicht nur von Erinnerung, sondern auch über dieses eben wieder über das Leben...den Raum, der zur Verfügung steht.

...Das sind nur Andeutungen...anders geht es bei mir nicht,
Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.03.2007, 17:56

Lieber Peter,

ich lese das mit der Brille einer, die manchmal gerne aus der Zeit herausfallen möchte:

Zwei Achsen.

Die eine: In der Zeit, dem zugeschlagenen Buch. Dazu gehört die Erinnerung, der Versuch der Analyse. Aber nichts fügt sich, schon gar nicht ineinander, im Gegenteil, es fällt und driftet auseinander. Das, woran sich die Pore aufreibt, das Lineare. Abgeschlossen durch einen Punkt.

Die andere: Im Schlaf: Das offene Buch. Am Anfang der Punkt. Alles ist möglich, offen. Eintauchen, darinnen Sein, Zusammenhang, Kontakt. Keine Analyse, eher so etwas wie Intuition.

Ich habe das wieder sehr gern gelesen.

Liebe Grüße

leonie

carl
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Beitragvon carl » 28.03.2007, 07:41

Hallo Peter,

meine Vorrednerinnen haben ja schon vieles gesagt, dem ich mich anschließen will.
Mich wundert die Rubrik "experimentelle" Lyrik?
Ich finde Dein Gedicht ganz "normale" gute Lyrik ;-)
.Das einzig Ungewöhnliche ist für mich den Satz mit einem Punkt zu beginnen
Darüber meditiere ich noch...

Die 1. Strophe gefällt mir am besten, sie ist ein Gedicht für sich, das ohne die folgenden auskommen kann. Die überrationale Einheit allen Seins, die Geschwisterlichkeit aller Wesen (denn "Dinge" gibt es nicht) fließt da für mich in Motiven des Traums, des Märchens und des kindlichen Bewusstseins zusammen.

Die 2. Strophe empfinde ich wie Leonie als (einen von Dir beabsichtigten) Kontrast.
Allerdings gehören "Ströme" und "Rhythmen" für mich nicht in den Kontext der Vereinzelung und Linearität. Ein Strom ist lebendig, hat Quelle und Ziel, Schnellen und Mäander. Die technischen Entfremdungen wie "Verkehsstrom" oder "elektr. Strom" können das nicht brechen. Und "Rhythmus" gehört zu einem zirkulären Zeitverständnis. Es gibt ein (heimliches) Zentrum (http://homepage.univie.ac.at/peter.wien ... deca01.htm)
Letztlich besteht das Muster aus Kleinigkeiten, Verlust und Wahn, das macht es ja so sinnleer.
Bei Dir hat das Muster aber noch einen eigene, geheimen Bestand und Wert.
Vielleicht ist das Deine Absicht...
Als Beispiel, nur um zu verdeutlichen, was ich meine:
"Kanäle, Kleinigkeiten, Einzelheiten,
Verlust und Wahn zu einem Muster getrieben."

Zur 3. Strophe später mehr.

LG,C

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.03.2007, 10:52

Liebe leonie,
das hast du schön gesagt....danke! (entschuldigung, das musste gerade ...)

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Beitragvon leonie » 28.03.2007, 11:01

Liebe Lisa,

bin auch gerade hier. Danke :icon_redface: .

Ich finde so oft, dass meine Worte nicht reichen. Umso mehr freue ich mich, wenn jemand sie offensichtlich versteht oder etwas damit anfangen kann....(Und das ist kein "fishing", ehrlich nicht, manchmal könnte ich die Krise kriegen deswegen...)

Liebe Grüße

leonie

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annette
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Beitragvon annette » 28.03.2007, 12:22

Lieber Peter,

die erste Strophe glaube ich zu verstehen. (Und ich finde sie sehr schön!)
Die Welt, wie ich sie im Schlaf sehe, ist die Welt, die ich sehe, wenn ich nicht versuche, sie zu erklären, zu ordnen. Wenn ich nur sehe und erlebe, und dabei die vielen Zusammenhänge wahrnehme, die entstehen, weil alles zueinander findet. Zuerst dachte ich an Träume, aber ich denke, der Traum wäre nur der bildlich-konkrete Ausdruck für dieses Erleben von Welt.

Bei Strophe 2 frage ich mich, welches Muster gemeint ist und ob es etwas mit dem zu tun hat, das auch in der ersten Strophe hinter der Welt liegt und alles zusammenhält. Aber den Gedanken verwerfe ich, denn Muster klingt zu „gemacht“, zu schematisch für die Ordnung, die ich in der ersten Strophe spüre. Außerdem verstünde ich dann nicht die negative Konnotation „aus Verlust und Wahn [...] getrieben“.

Dann also eher der Prozess, langsam in ein Muster zu fallen, einem Muster zu verfallen. Die Pore, das Punktuelle, Lebendige, wird durch die lineare Zeit aufgerieben.

Die dritte Strophe möchte ich gerne der Zeit enthoben lesen, aber es gibt doch das „schlief“ und es gibt sogar das „gestern schlief“, was es mir schwer macht. Doch nicht allzu schwer, denn alle Vergangenheit in dieser Strophe ist Schlaf – die Gegenwart hingegen Tanz. So möchte ich es verstehen. (Wobei mir Lichte auch unklar bleibt.)

Übrigens muss ich wieder einmal an Rilkes Elegien denken („und den ersten gemeinsamen Gang, ein Mal durch den Garten:“ ,2. Duineser Elegie: nicht nur wegen des Gartens, auch wegen des ein Mal.)

Der Text gefällt mir sehr, ist aber noch längst nicht fertig mit mir *grins*.
Lieber Gruß, annette

Peter

Beitragvon Peter » 28.03.2007, 18:11

Liebe Lisa, liebe Leonie, lieber Carl, liebe Annette,

vielleicht zuerst: das Experiment des Gedichtes sehe ich darin, ein Diagramm (in meiner Vorstellung ein Liniendiagramm) als Grundlage zu nehmen für ein Gedicht. Zwei Koordinatengrößen treten auf (wie du sagst, Lisa), zwei Achsen (wie du sagst, Leonie): Die Lebensbücher und die Zeit. Die Zeit, als im Fall, stellt die senkrechte Achse dar, die Lebensbücher, als die die Dinge verortenden, die waagrechte Achse. Aus beiden entsteht ein Zwischenraum, aus Extremen (oder Fernen) eine Gegenwart, auf diese nimmt die dritte Strophe Bezug, ohne sie aber ganz umfassen zu können. Ich finde, dass die dritte Strophe nur eine Andeutung oder die eine Ansicht einer dieser aus der Konfrontation der verschiedenen Größen entstehenden Daseinsformen gibt.

Die ursächliche, von uns in der Gegenwart wahrgenommene Daseinsform ist der Punkt. Er ist das "Erlebnis", das uns allein mögliche in den Zwischenzeiten der Zwischenzeit. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir vor einem Punkt war; wir wissen nicht, was die höchste Zuspitzung unsrer Wahrnehmung ist, erahnen aber, dass es diese Zuspitzung gibt. Dort, so nimmt das Gedicht an, existiert ein großer Bruch; von dorther kommt das Gedicht, und versucht noch einmal, seine Herkunft zu erkennen. Der Bruch hat sich ihm als "Strom" geäußert, als eine Zersplitterung der Dinge, oder des Wesens, aus dessen Fall (des Wesens) aber, absurderweise, aus der werdenden Abwesenheit (dem Verlust) eine Anwesenheit entstand (das Muster).

In dieses setzt das (Da-)Sein seine Punkte (und doch nicht in dieses selbst, sondern in den Zwischenraum), die Punkte sind von Punkten...

So meine eigene Interpretation - die ich aber gar nicht hätte erwähnen müssen, da ihr ja, merkwürdigerweise so leicht, das alles selbst erkannt habt.

(Heute erlaube ich mir mal, dich einmal zu loben, liebe Leonie, nur einmal. Also: Ich lobe dich für deinen Kommentar. So. Und jetzt entschuldige ich mich dafür. Entschuldigung.)

Aber vielleicht doch noch ein Wort zu den Punkten: In der dritten Strophe sind sie teils an die Satzanfänge gesetzt. Das Beschreibende dahinter versucht oder will noch einmal das aufgreifen, von dem es glaubt, dass es einmal dem Dasein näher war. Es ist der berühmte Garten... der Garten in einer besonderen Leichte. Daseinsbestimmende Faktoren wie zum Beispiel die Schwere, oder wie der Unterschied der Elemente, sind dort aufgehoben. Also, die Luft widerspricht nicht dem Wasser (deshalb kann jener im Teich schlafen), oder die Höhe widerspricht nicht dem Boden/dem Grund, deshalb kann das Ich in der Wolke schlafen. Dieses andere Eigene versucht das Gedicht zu bebildern, sieht sich aber scheitern - an einer zweifachen/dreifachen Reduzierung. Die erste ist die, dass jenes Unnennbare zur Einsicht wird, die zweite, dass die Einsicht zur Erinnerung wird, und die letztlich dritte ist, dass selbst diese Reduzierte noch weiter reduziert zum Punkt/ zu Punkten gerät. (Im Unnennbaren herrschten die Lichte, im Dasein die Punkte...)

Ich hoffe, es ist alles verständlich, was ich hier schreibe. Für mich ist das Gedicht im ganzen seines Gedankens auch noch nicht da. (Aber kann es denn da sein?)

Euch allen liebe Grüße und vielen Dank für's Lesen,
Peter

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Beitragvon leonie » 28.03.2007, 19:35

Lieber Peter,

ich hebe das Verbot mir sofortiger Wirkung auf...War eine dumme Idee von mir, also, ich habe mich nämlich gefreut über das, was Du schreibst (auch wenn ich es natürlich nicht gerne zugebe...). Da stammelt man so vor sich hin und dann sowas...

Errötende Grüße

leonie :smile:


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