Unsere Winterliebe

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 05.10.2006, 20:04

Der Duft des ersten Schnees
liegt in der kalten Luft.
Im Rauch der letzten Zigarette
vor der langen Fahrt
sehe ich Dein Bild.

Wirst Du am Bahnhof stehen?
Verhüllter Hals und brauner Hut,
die Nase rot vom eisigen Wind.
Ein Lächeln spielt um Deinen Mund,
Deine kühlen Wangen
ein Versprechen.

Oder werde ich den Weg zu Dir
alleine gehen? Durch stille,
dunkle Wege in der kleinen Stadt,
die noch nach Kohleöfen riecht wie einst.

Das wäre am schönsten:
Du wartest in der Tür,
während ich Stufe um Stufe
zu Dir hinaufsteige.
Der Lärm der Großstadt
fällt von mir ab wie eine
unbegründete Sorge.

Müde verharre ich auf dem
letzten Treppenabsatz.
Ich weiß, Du stehst vor dem Spiegel,
legst eine lose Strähne hinter Dein Ohr.
Ein Zeichen unserer Winterliebe.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 07.10.2006, 19:22, insgesamt 7-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 05.10.2006, 20:24

Die lose Strähne - eine Chiffe???

Hallo lieber Paul,

sehr gefühlvoll, gut gesetzt, sehr viel Atmosphäre und Zeugnis einer großen Liebe und großen Ver-trauens ("ich weiß, du stehst vor dem Spiegel....)
Der Lärm der Großstadt, der abfällt wie eine "unbegründete Sorge" - ein sehr schönes, ungewöhnliches Bild.
Liest sich flüssig- wobei mir vor allem dieses Pendeln zwischen ungeduldiger Erwartung, die mitschwingt, und Ruhe, Gleichmut gefällt.

Sehr gerne gelesen,

Gruß

scarlett

P.S. In der 4. Strophe noch schnell ein -t bei warest einfügen....

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leonie
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Beitragvon leonie » 05.10.2006, 20:56

Lieber Paul Ost,

das hat viel, viel Schönes, da stimme ich scarlett zu. Aber mit einem aber, was die sprachliche Gestaltung und die innere Logik angeht.

Zur Sprache: Strophe 1: Genitive und Adjektive: wenn der erste Schnee in der Luft liegt, ist sie logischerweise kalt. Du findest bestimmt ein originelleres Adjektiv. Beim „Rauch der letzten Zigarette“: wenn Du das zu einem Satz (es ist ja ein Erzählgedicht) machst, lebt es und man sieht es vor sich.
Strophe 2: meiner Meinung nach könnte das „kühlen“ wegfallen., Du müsstest dann den Zeilenumbruch noch mal überdenken.

Zur inneren Logik:

Strophe 1: spielt vor Abfahrt überhaupt? Nicht im Zug oder so?
Strophe 4 und 5: Sie wartet in der Tür (als er noch relativ weit unten ist) steht aber vor dem Spiegel (als er fast oben ist)? Wie geht das? Wo hängt denn da der Spiegel? Oder ist mir da was entgangen?
Ansonsten finde ich vor allem Strophe 3-5 sehr gelungen, vor allem der Lärm, der abfällt wie eine unbegründete Sorge, die und die Strähne als Zeichen der Winterliebe!

Liebe Grüße
leonie

Trixie

Beitragvon Trixie » 05.10.2006, 21:27

Oh Paul, das ist schöööön. Einfach nur schöööön. Jaaa. Ob du das jetzt selbst erlebt hast oder nicht, ich kann das sehr sehr gut nachvollziehen und es trifft sich mit meinem eigenen Vorstellungen und Erinnerungen. Diese Zugfahrt-Flair ist am Anfang voll für mich getroffen. Das ist wirklich ein traumhaftes Gedicht...Das muss ich mir auf jeden Fall abspeichern. Danke sehr....lieben Gruß, Trixie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.10.2006, 00:47

Liebe Scarlett,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Die lose Strähne ist wohl auch eine Chiffre. Die Geliebte empfindet sich selbst als unvollkommen. Gerade dieses Selbstbild ist aber Teil ihrer Vollkommenheit, wenn man das so sagen darf. Das "t" habe ich eingefügt.

Liebe Leonie,

Den Rauchersatz habe ich verändert. Die gesamte Szene spielt am (Ost-)Bahnhof. Das lyrische Ich sitzt am Ende des Bahnsteigs, raucht eine Zigarette und freut sich auf das, was kommt. Er sitzt noch nicht im Zug und ist auch noch nicht (in Weimar) angekommen.

Der Spiegel ist eine Art Garderobenspiegel. Er hängt im Flur, direkt beim Eingang der Wohnung. Sie muss also nur ein oder zwei Schritte von der Tür wegtun und schon sieht sie sich in ihrer vollen Schönheit. Es ist eine Phantasie des lyrischen Ich. Insofern wollen wir einmal glauben, dass sie in nervöser Erwartung zwischen Tür und Spiegel hin- und herpendelt.

Die kühlen Wangen sind integraler Bestandteil meiner lyrifizierten Erinnerung. Ohne sie geht es nicht.

Und heute abend - deshalb schrieb ich das hier - roch es schon nach Schnee. Es war aber nicht kalt. Ich fragte aber auch noch ein paar Freundinnen, die sahen das ähnlich wie Du. Offensichtlich kennen aber alle den Geruch von Schnee.

Hier in meinem Gedicht ist es wirklich kalt. Nicht bloß kühl.

Liebe Trixie,

es gab diese Abende oft. Ich habe zwei Jahre in Berlin verbracht und bin an vielen Wochenenden nach Weimar gefahren. Vor allem die Winterabende sind für mich extrem wichtige Erinnerungen. Wenn ich erklären sollte, wie sich die Liebe anfühlt, würde ich es so versuchen.

Grüße

Paul

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Beitragvon leonie » 06.10.2006, 17:11

Hi Paul Ost,

so gefällt es mir persönlich besser, nur jetzt ist das „vor“ doppelt. Ich habe überlegt, ob auch ginge „sehe ich dein Bild“.
Mir ist es ein bisschen viel der Kälte, deshalb schlug ich vor, etwas zu streichen (kalte Luft, warme Kleidung, rot vor Kälte, kühle Wangen).
Zu der Logik: Ich glaube, ich hatte damit Mühe, weil ich vermute, wer erwartungsvoll in der Tür steht, dass der eher nach unten schaut als in den Spiegel (uh, welch ein Satz). Aber vielleicht ist das nur mein „Problem“. Vielleicht äußert sich noch jemand dazu.
In jedem Fall finde ich das Gedicht sehr gelungen.

leonie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.10.2006, 17:21

Liebe Leonie,

ich habe Deine Vorschläge umgesetzt. Danke für die Hinweise. Hoffentlich findest Du nicht noch mehr. Wenn ich das hier öfter lesen muss, werde ich ganz krank vor lauter Winterliebessehnsucht.

Das ist wohl auch der Grund, warum es im Gedicht so viele Kälte-Begriffe gibt. Es ist eben eine Winterliebe. Eine ziemlich autistische wohl, die keine anderen Menschen braucht in ihrer Selbstgenügsamkeit. Und daran wird sie zu Grunde gehen...

:sad:

In diesem Sinne

Paul Ost

P.S.: Sie müsste ja nicht vorm Spiegel stehen. Aber erklär ihr das mal! Ich stelle mir das wie eine Übersprungshandlung vor.

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Beitragvon leonie » 06.10.2006, 17:28

Lieber Paul Ost,

wo finde ich sie denn?

Nein, schon gut, ich schweige. Schließlich möchte ich noch mehr Gedichte von Dir lesen.

Erhol Dich gut! Liebe Grüße

leonie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.10.2006, 17:30

Liebe Leonie,

wenn ich das wüsste... Es würde auch nichts ändern...

Grüße

Paul

pandora

Beitragvon pandora » 07.10.2006, 18:58

verehrter herr ost,

ich schleiche nun schon eine weile um ihren text herum, aber ich fürchte, es fällt mir schwer, ihn zu "besprechen".
ich kann die geschilderte stimmung auch in meiner erinnerung so gut nachvollziehen, dass es fast schmerzt. als ich in jena lebte, leistete mein damaliger freund seinen wehrdienst in der rhön ab und kam aller acht wochen ein paar tage zu mir. ich weiß noch genau, wie ich damals an diesen wochenenden zum bahnhof taperte, um ihn abzuholen. ich weiß noch, was ich an diesen abenden vorm wiedersehn tat, ich erinnere mich an gespräche und daran, wie die luft roch. an den bahnhof jena-west.
jeder muss solche erinnerungen besitzen, oder? bei mir waren sie ziemlich verschüttet, glaube ich.
"am schönsten" würde ich klein schreiben.

lg
p.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 07.10.2006, 19:29

Liebe Frau Pandora,

sollte mein Text unter Ihren Augen zu atmen begonnen haben, wäre das eine große Ehre für mich.

Danke für den Hinweis.

Jetzt schreiben Sie wieder von Jena... Es wird Zeit, dass die Tragödie von Miriam und Paul um eine weitere Person bereichert wird.

Grüße

Paul Ost


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