Consolida

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chamonixius
Beiträge: 52
Registriert: 02.02.2024
Geschlecht:

Beitragvon Chamonixius » 11.12.2025, 13:51

Consolida

Verschwundene Tage
gleichen Freiheiten ohne
Aussicht auf Erfolg
Namen wirken in Form
von Wahrscheinlichkeiten

Bekannte Gesichter
sind mehrfach möglich
manchmal erreiche ich Nachrichten
wo sie am meisten fehlen
das alles ist richtig

Ich beschreibe den Himmel
und nur wenn ich aufblicke
verfehlt er mich
mit Lichtgeschwindigkeit

Verlustlöschungen sind Sonderfälle
nachzeitiger Spaltungen
Zerfall ist ereignisgebunden
es gibt die Auflösung
das alles ist richtig

seefeldmaren
Beiträge: 4
Registriert: 05.12.2025

Beitragvon seefeldmaren » 11.12.2025, 20:29

Ich finde es so gut!!! Montag / Dienstag schreibe ich mehr dazu!

Später mehr!

Maren

Benutzeravatar
birke
Beiträge: 5682
Registriert: 19.05.2012
Geschlecht:

Beitragvon birke » 11.12.2025, 20:46

ich muss dem noch ein wenig auf die spur kommen, auch dem titel, den ich (noch) nicht so recht in verbindung mit dem text zu bringen vermag... aber es hat definitiv etwas, was nachhallt. steckt viel drin.
ganz besonders mag ich die dritte strophe!
lg, birke
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Chamonixius
Beiträge: 52
Registriert: 02.02.2024
Geschlecht:

Beitragvon Chamonixius » 12.12.2025, 08:14

Vielen lieben Dank, Ihr beiden!
Der Titel, Consolida, flog mir ein bisschen von der Seite her zu und er liegt daher wirklich nicht ganz im Hauptstrombett des Gedichts. Es könnte, finde ich, ein etwas ungewöhnlicher Vorname sein, vielleicht auch eine Art Spitzname, wie ihn ein leicht verschrobener Humanist ziemlich alter Schule seiner Liebsten geben könnte.
Im Mittelalter hat man mit Consolida alle möglichen Heilpflanzen bezeichnet, von denen man sich wundheilende Wirkungen versprach. Heute steht der Name für den Rittersporn, eine sehr hübsche Giftpflanze.
LG!
C.

seefeldmaren
Beiträge: 4
Registriert: 05.12.2025

Beitragvon seefeldmaren » 15.12.2025, 11:47

So, jetzt aber, Chamo!

Schon der Einstieg setzt ja eine irritierende Gleichung: verschwundene Tage als Freiheiten ohne Aussicht auf Erfolg. Freiheit erscheint hier nicht als Möglichkeit, sondern als ein Platzhalter, als negative Freiheit, die sich nicht in Handlung(en) übersetzen lässt. Und wenn dann Namen „in Form von Wahrscheinlichkeiten“ wirken, wird Identität sozusagen probabilistisch, also schwankend, nicht mehr sicher greifbar. Das hat für mich durchaus eine existentielle Dimension.

In der zweiten Strophe wird dieses Motiv weitergeführt: „Bekannte Gesichter sind mehrfach möglich“. Das klingt, als würden Erinnerungen in Varianten auftreten, wie Versionen derselben Person. Besonders stark fand ich die Zeilen über die Nachrichten, die dort ankommen, wo sie am meisten fehlen. Das ist ja eine ziemlich bittere Pointe, weil Kommunikation hier als verspätete Zustellung erscheint, am richtigen Ort vielleicht, aber eben in der falschen Zeit. Und dann dieser wiederkehrende Satz „das alles ist richtig“. Ich lese das weniger als Selbstbestätigung, sondern eher als nüchterne Protokollformel, fast wie ein forensisches Abnicken dessen, was man nicht mehr revidieren kann. "Das alles ist richtig, es muss so sein, es ist nicht veränderbar". Hier geht es dem lyrischen Ich anscheinend um Selbsttrost oder eine Form von Selbststimulation wie jemand, der mit seinen Finger auf die Tischfläche hämmert, um sich selbst zu beruhigen. Alles wird gut. etc pp

Die dritte Strophe hat dann ein schönes Paradox: „Ich beschreibe den Himmel“ und erst wenn ich aufblicke, verfehlt er mich mit Lichtgeschwindigkeit. Der Himmel, als Symbol des Immerwährenden, wird zu etwas, das sich entzieht, und zwar nicht langsam, sondern maximal schnell. Dieses „verfehlt“ ist wirklich präzise, weil es nicht um Erreichen oder Treffen geht, sondern um das knappe Vorbeigehen. Wahrnehmung wird so zur Szene des Verlusts.
Zum Schluss kippt das Gedicht noch stärker ins prozedurale Vokabular: Verlustlöschungen, Sonderfälle, nachzeitige Spaltungen, ereignisgebundener Zerfall, Auflösung. Das liest sich fast wie eine administrative oder naturwissenschaftliche Beschreibung von Trauer, und gerade dadurch entsteht eine Kälteästhetik, die ich durchaus konsequent finde. Gleichzeitig könnte man natürlich fragen, ob diese Fachsemantik an einzelnen Stellen nicht ein bisschen zu dominant wird, sodass sie das Emotionale eher überblendet als zuspitzt. Aber vielleicht ist genau das die Intention, also die strikte Entromantisierung. Der Kampf gegen Pathos.

Jetzt ist das Gedicht quasi floral konnotiert. Und genau das schärft die Ambivalenz, weil der Text dann nicht nur von Verlust in abstrakten Kategorien spricht, sondern ihn unauffällig an ein konkretes, lebendiges Bild koppelt. Vor Augen habe ich Arbeiten von G. Richter über das Loslassen, Mondrian über symbolische Auflösung oder weniger abstrakt der Wanderer über dem Nebelmeer.

Vom Sound her, erinnert mich dein marginal an David Krause, ich weiß aber, dass das Werk hier keine bewusste Ähnlichkeit zu Krause herstellen will.

Maren

:guckguck: :musik:

Benutzeravatar
nera
Beiträge: 2220
Registriert: 19.01.2010

Beitragvon nera » 19.12.2025, 01:11

Ich mag den Text sehr
Schon die Überschrift, die natürlich an consolidieren erinnert und an den wilden Ritterspiel und seine metaphorische Bedeutung( Sehnsucht, Treue , aber auch Leichtigkeit)
Ich lese hier von einer Rückschau, dass man sich aus den Augen verloren hat, dass die Erinnerungen vielleicht auch unscharf werden?
Eine Ära ist zu Ende?
Und manchmal erreicht(!) das lyrische ich zumindest eine Nachricht an einen oder verschiedene Empfänger, die zeigen, dass es eine Verbindung gab und gibt, vielleicht in eine Bedürftigkeit hinein?
Aber das Leben hat sich in eine andere Richtung entwickelt, was gut so ist.
Den Himmel kann man noch (be)schreiben, aber er ist nicht mehr greifbar.
Die letzte Strophe spricht für mich davon, dass man „ Federn gelassen hat“ in diesem vorangegangenen Prozess der Trennung von einem und /oder mehreren Menschen, einem Lebensabschnitt .
Das alles wird akzeptiert, es musste alles so sein, auch wenn man vielleicht sehnsuchtsvoll zurück schaut?
Vielleicht liege ich komplett daneben?
Aber das erzählt mir dieser Text und nimmt mich mit in diese Geschichte.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot], Google [Bot] und 7 Gäste