In Paris II

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 12.09.2014, 09:12

Gegen 3 Uhr nachmittags, im Café „Cassette“ in der Rue de Rennes 73 sah ich das prachtvollste Stück Scheiße meines Lebens.
Nach dem Frühstück ging ich zum Jardin de Luxembourg, zu dem Karussell, das Rilke zu seinem berühmten Gedicht inspirierte: es war bedeckt mit einer dicken, gelben Plane, man konnte nur die Füße der Tiere erblicken.
Ich lief bis zu dem Springbrunnen mit den aufbäumenden Pferden, sie werden von Schildkröten mit Wasser bespien.
Auf einer Bank aß ich Reste des Frühstücks: Ei, Croissant, Baby Bell.
Ich sah von weitem, am Port Royal, die Fassade des Hotels BEAUVO R, wo jetzt ein Buchstabe fehlt.
Ich lief den Boulevard Montparnasse hoch. Eine Russin suchte die Nummer 103, wo Simone de Beauvoir 1908 zur Welt gekommen war.
Ich wollte im Café de la Mairie am Sant Sulpice etwas trinken, das Café von Djuna Barnes, aber wie fast immer waren alle Plätze belegt. Man hat das Gefühl, dass die Leute die da sitzen sich nie wieder erheben werden. An einem sonnigen Tag, auf einer Terrasse im Paris mit einer Tasse Kaffee vor sich zu sitzen, das NON PLUS ULTRA des urbanischen Touristenglücks.
Als ich wie ein frustrierter Geier das Café belagerte, erschien eine MANIFESTATION CONTRE LA PRIVATISATION DE LA POSTE, ich zählte 2999 Demonstranten, mit Fahnen, Luftballons, Musik. Sie protestierten gegen die geplante Privatisierung der Post. Ganz am Schluss kam eine große, kompakte Gruppe von Afrikanern. Als ich sie auftauchen sah wusste ich auf einmal, dass Afrika die Wiege der Menschheit und ihre letzte Zuflucht ist.
Jetzt sitze ich wieder im LE ROYAL LUXEMBOURG. Die Blondine neben mir trinkt einen Sauvignon blanc. Nüsse.
Gegen 19 Uhr ging ich zum L´ecritoir essen. Es war voll, ich musste mich auf der linken Seite setzen. Der Kellner fing an mit mir Spanisch zu reden. Ich bestellte Faux grillé mit Pommes und ein Bier. „Pequeña o mediana?“, fragte der Kellner. Das „mediana“ stellte sich als ein halbes Liter heraus. Eine Gruppe von Golden Girls saß an einem benachbarten Tisch.
Der Kellner, schwarz angezogen, entfernte sich für einen Moment um in der Dunkelheit eine Zigarette neben dem Denkmal von Auguste Comte, dem Gründer der Soziologie, zu rauchen.
Im Hotel kam eine Komödie mit Philipp Noiret, die ich neulich in Deutschland gesehen hatte.

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