Der Schicksalsfluss

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SanchoPanza

Beitragvon SanchoPanza » 04.08.2014, 08:39

Kalt! Es war sehr kühl in dieser Nacht. Sie zog die schmutzige Decke enger um ihre Schultern. Das dünne Sommerkleid wärmte sie nicht. Der Fluss lag still vor ihr. Wenn die Wolken den Halbmond freigaben und sein Licht das Wasser traf, dann sah der Fluss aus wie ein in Silber gegossenes Band. Wie eingeflochtene Perlen im Indio-Schmuck ragten die Sandbänke aus dem silbernen Wasser heraus. Es war sicher einfach von einer der kleinen Inseln zur anderen zu waten. Im Sommer war nie viel Wasser im Fluss. Die Farmer auf beiden Seiten zweigten das lebenswichtige Nass ab um ihre Felder zu bewässern. Der Fluss führte Niedrigwasser.

Dora kannte den Fluss als Rio Bravo. Rio Bravo del Norte. Der wilde Fluss des Nordens. Sie wusste, dass die Menschen auf der anderen Seite ihn als Rio Grande bezeichneten. Sie waren der Meinung der Fluss gehöre ihnen. Jeder der auch nur am anderen Ufer weilte war verdächtig. Es gab sogar schon Übergriffe vom Norden weil die Border Guards glaubten eine Gruppe wolle den Fluss überqueren. Sie beschossen sie und warfen Rauchpatronen, die in die Augen bissen. Dabei hatten die Frauen nur die Wäsche gewaschen.

Warum hatten die auf der anderen Seite solche Angst vor ihnen? Die Border Guards mit ihren Jeeps, den Hubschraubern, den Ferngläsern, mit denen man auch im Dunkeln sehen kann und den Bluthunden.

Dieses Mal würde sie es auf die andere Seite schaffen. Sie würde irgendwo bei einer gütigen Familie den Haushalt führen, oder auf einer Farm hart arbeiten. Und vielleicht, vielleicht würde sie einen lieben Mann finden und vom Wetback zum Staatsbürger werden. Wetbacks, so nannten sie die Border Guards abfällig weil beim Überqueren des Rio Bravo ihr Rücken nass wurde.

Ihr Bruder war drei Jahre älter als sie. Als er achtzehn war überquerte er den Rio Bravo das erste Mal. Nach dem dritten Versuch hörten sie nichts mehr von ihm. Vielleicht hatte er es geschafft. Aber warum schickte er dann kein Geld nach Hause? Warum meldete er sich nicht? Sie glaubten nicht mehr daran, jemals etwas von ihm zu hören. Aber auch das war ein Grund, warum sie hinüber wollte. Sie wollte ihren Bruder suchen. Aber in Juarez sagten die Leute, „der Fluss frisst Menschen“.

Die Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick auf den Fluss frei. Es war ihr, als habe sie auf der anderen Seite eine Bewegung gesehen. Hörte sie da das tiefe Brummen eines schweren Wagens? Sie spähte angestrengt auf die andere Seite. Dort fuhr ein Auto am Ufer des Flusses. Mitten im Gelände. Sie sah die schwach flimmernde Tarnbeleuchtung. Langsam bewegte sich der Jeep flussaufwärts. Sie folgte der Fahrtrichtung mit den Blicken. Dann sah sie die Gruppe. Es waren vielleicht zwei Dutzend Menschen. Fünf oder sechs waren schon bis zur Mitte des Flusses vorgedrungen. Die Border Guards waren nicht mehr weit entfernt.

Das war ihre Chance. Ihr Adrenalin Spiegel stieg. Plötzlich fror sie nicht mehr. Sie war hellwach. So musste es gehen. Sie streifte die Decke ab und packte ihr Bündel fester. Vorsichtig rückte sie vor bis zum Ufer des Flusses. Ihre jungen Augen fokussierten den Blick auf die andere Seite. Das Ufer des Flusses bildete eine kleine Bucht. Sie musste vor der Gegenströmung und den Verwirbelungen auf der Hut sein. Sie zitterte vor Aufregung. Sie nahm den brackigen Geruch des seichten Wassers wahr.

Weiter oben am Fluss begann die Jagd. Sie hörte Lautsprecher quäken. Kommandos auf Englisch und Spanisch wurden gerufen. Schreie hallten durch die Nacht. Jetzt schob sich eine große Wolke vor den Mond. Sie bekreuzigte sich und rannte los.

Das Wasser des Flusses ging ihr sehr schnell bis zur Hüfte. Sie watete mit aller Kraft und stemmte sich gegen die Strömung. Der weite Rock des Kleides schwamm an der Oberfläche. Ihre Mutter sagte, dass Hosen nichts für Mädchen seien. Wie viel praktischer wären sie doch. Sie verdrängte die unnützen Gedanken und überquerte die erste Sandbank. Nun war sie in der Mitte des Flusses. Das Wasser reichte bis über den Bauch. Sie hörte einen Knall und schaute zu der Gruppe von Flüchtlingen. Mitten über dem Fluss bildete sich ein weißer Feuerball, der an einem Fallschirm herabschwebte. Es wurde taghell. Reflexartig tauchte sie unter und hielt die Luft an.
Die Strömung des Flusses erfasste nun ihren ganzen Körper. Strampelnd stemmte sie sich gegen den Strom. Mit hektischen Bewegungen der Hände versuchte sie in aufrechter Position zu bleiben. Über ihr sah sie den Wasserspiegel und den weißen Widerschein der Leuchtkugel der langsam, viel zu langsam, verblasste. Sie hatte keine Luft mehr in den Lungen und kämpfte gegen den Reflex einzuatmen. Erst als der helle Schein verschwunden war, tauchte sie auf. Schwer atmend erreichte sie die nächste Sandbank. Das andere Ufer war noch zehn Meter entfernt. Jetzt! Sie war an Land. Sie rannte auf den Abbruch zu und kletterte hinauf. An der Kante spähte sie vorsichtig in die karge Landschaft. Alles schien ruhig. Sie sprang auf und rannte, die Büsche und Sträucher als Deckung nutzend, in Richtung einer Scheune.

Dora hörte den Hufschlag des Pferdes ohne den Reiter zu sehen. Sie duckte sich in ein dichtes dorniges Gebüsch. Ihr Herz hämmerte so laut, dass es jeder hören musste. Ungewollt begann sie zu beten.
„Bitte, lieber Gott, wenn sie mich schon erwischen sollen, dann lass es einen Border Guard sein, der mich einfach nur zurückschickt. Lass nicht zu, dass sie mir wieder das antun wie in New Mexico. Lieber sterbe ich“.

Sie kroch tiefer in das Unterholz und zog einzelne Äste über sich.

Der Hufschlag kam näher und verstummte direkt vor dem Busch. Ihre Hochstimmung schwang um in tiefe Enttäuschung. Die Border Guards hatten sie erwischt.

Der Beamte hielt sein Pferd direkt vor dem Busch an.

„Raus da“, brüllte er auf Spanisch.

Sie gab auf. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern trat sie vor den Busch. Ihr langes blauschwarzes Haar hing nass um ihren Kopf und die Schultern. Das Kleid klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Sie trug außer einem Slip nichts unter dem Kleid. Alles, was man nicht unbedingt brauchte, konnte man sich nicht leisten. Sie spürte die Blicke des Mannes und verschränkte die Arme vor der Brust. Schwer atmend wuchtete der Border Guard seinen massigen Körper vom Pferd. Wortlos nahm er ihre Hände und zog sie nach unten. Handschellen klickten. Er band ein fingerdickes Seil um die Handschellen und saß auf. Langsam ging das Pferd los. Sie hatte keine Wahl und rannte hinter dem Reiter her.

Sie glaubte den Mann zu kennen. Sie hatte ihn schon in seiner beeindruckenden Uniform gesehen. Er war einer von den Gringos die in ihre Heimatstadt Ciudad Juarez kamen um sich mit den Frauen zu amüsieren, die mehr Wert auf den Yankee-Dollar legten als auf ihren Ruf.

Als sie die Scheune erreichten, band der Mann das Pferd an und zog sie zum Tor.
„Rein da“, befahl er barsch. Er schob sie zum Eingang einer leeren Pferdebox.

„Bitte, Señor“, bettelte sie, „bitte lassen sie mich gehen. Ich wollte doch nur ein paar Dollar verdienen, um für meine Familie Essen zu kaufen. Ich werde nie wieder über den Fluss gehen“.

Jedes Mal wenn sie erwischt wurde, nahm sie sich das vor. Und immer versuchte sie es erneut. Die Kiefer des Mannes mahlten auf dem Kautabak. Er spie braune Brühe auf den Boden.

Aufdringlich stieg ihr der Tabakatem in die Nase. Der Mann leckte sich über die Lippen und umfasste mit seiner rechten Hand ihre Brust. Sie begann zu schreien. Laut, panisch. Sie dachte an New Mexico. Der Schlag der linken Hand traf sie hart im Gesicht. Ihre Lippe platzte auf. Sie taumelte mit dem Rücken gegen die Trennwand der Pferdebox. Der Mann setzte nach und riss ihre Arme nach oben. Er hängte die Handschellen in einen großen Nagel am Balken der Pferdebox ein. Sie musste auf den Zehenspitzen stehen. Dann riss er mit beiden Händen das Oberteil des Kleides auseinander. Mit einem Bein drängte er ihre Beine auseinander und zog mit einem Ruck den Slip nach unten.

Sie kämpfte gegen den Würgereiz. Auch jetzt noch nach fast einem Jahr. Nicht noch einmal. Lieber würde sie sterben. In letzter Verzweiflung hängte sie ihren leichten Körper in die Handschellen. Ihre Handgelenke verbogen sich und schmerzten. Aber dadurch befreite sie ihre Beine vom Gewicht. Sie rammte das rechte Bein hart in den Schritt des Mannes. Dieser schrie wütend auf und beugte den Oberkörper nach vorne. Mit beiden Beinen traf das Mädchen den Mann am Oberkörper und mitten im Gesicht. Der Mann taumelte brüllend wie ein Bulle rückwärts. Sie wusste, er würde sie töten und begann zu beten.

An der Trennwand der anderen Seite hing eine Sense mit der scharfen Seite nach oben. Normalerweise lag sie eng an der Wand an und bedeutete keine Gefahr. Allerdings hatte jemand einen Sattel daneben gehängt und dieser hatte die Sense mit der Spitze nach vorne gelenkt.

Das Mädchen sah, wie der Mann rückwärts gegen die Spitze der Sense taumelte. Mit vor Schmerzen geweiteten Augen stöhnte der Mann auf. Ein letzter Atemzug, und der Mann hing still an der Sense.

Das Mädchen schrie hysterisch und weinte und betete zur gleichen Zeit. Sie bemerkte nicht, wie ein weiteres Pferd vor der Scheune festgemacht wurde. Sie bemerkte nicht, wie sich das Scheunentor öffnete, und sie sah nicht die Silhouette eines weiteren Beamten gegen das Mondlicht.

Sie spürte einen weiteren Schlag in das Gesicht. Aber seltsamerweise holte sie dieser Schlag aus ihrer Hysterie. Auch die neu hinzugekommene Person trug die Uniform der Border Guards, aber es war eine Frau. Die Frau sah zu dem Kollegen. Die Sense hatte seine linke Brusthälfte eine Handbreit bis zum Herzen durchschnitten. Sie blickte zu dem Mädchen. Gefesselt, auf den Zehenspitzen stehend, mit baren Brüsten und blutendem Gesicht. Ihr zerrissener Slip um die Fußknöchel.

Sie schloss die Handschellen auf und sagte mit eindringlicher Stimme:

"Lauf um Dein Leben, Mädchen. Und wenn Du weißt, was gut für Dich ist, dann kommst Du nie wieder.“

Sie schob sie am Arm nach draußen und in Richtung des Flusses.

Zögernd setzte sich Dora in Trab. Gedanken an ihre beiden kleinen Schwestern und ihre Mutter rasten durch ihren Kopf. Sie wusste was passieren würde. Die Frau würde sie erschießen. Einfach so von hinten. Auf der Flucht!

Zumindest hatte das Schwein sie nicht geschändet. Stolz warf sie den Kopf in den Nacken und ging gemessenen Schrittes in Richtung des Flusses. Ihre Nackenhaare stellten sich auf als die die Detonation des Schusses erwartete. So endete es also. Sie würde nicht älter als siebzehn Jahre werden.

Es dauerte lange Minuten bis sie den Abbruch erreichte, und nichts war geschehen. Als sie zurückblickte sah sie die beiden Pferde vor der Scheune aber kein Zeichen von der Frau. Die Tränen strömten über ihr Gesicht als sie in den wilden Fluss eintauchte. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal froh sein würde ihr eigenes Ufer zu erreichen. Sie war zuhause.
Nie wieder würde sie den Fluss überqueren. Sie dachte an ihre Mutter und ihre Schwestern. Nie mehr hier so nah bei El Paso. Vielleicht weiter unten. Vielleicht. In einer anderen Nacht an einer anderen Stelle zu einer anderen Zeit.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 04.08.2014, 09:23

Ausgezeichnete Erzählung!

SanchoPanza

Beitragvon SanchoPanza » 04.08.2014, 09:32

Danke Carlos,
das macht Mut.
Gruss
Kurt


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